Das wohl wichtigste Ergebnis der UN-Klimakonferenz in Sharm el-Sheik ist dies: Die COP27 hat das Bewusstsein dafür gestärkt, dass Entwicklungsregionen wie in Afrika Lösungsansätze für den Klimawandel brauchen. Nachdem 20 Jahre lang darüber diskutiert wurde, dass man etwas gegen den Klimawandel unternehmen müsse, und diese Diskussionen schließlich im Pariser Abkommen gipfelten, spielt bei den UN-Klimakonferenzen das Thema Umweltgerechtigkeit inzwischen eine genauso zentrale Rolle wie wissenschaftliche Analysen.
Ein Ergebnis von Sharm el-Sheik, für das es viel Lob gab und das nicht zuletzt den Kampagnen für Gerechtigkeit zu verdanken ist, sind die neuen „Finanzierungsregelungen zur Bewältigung von Verlusten und Schäden“, die allerdings keinen Vereinbarungscharakter haben. Doch damit der Fonds auch wirklich für „Schäden und Verluste“ in Ländern des globalen Südens aufkommt und nicht nur „Bla, Bla, Bla“ bleibt, muss die Gerechtigkeitsfrage weiter im Mittelpunkt stehen. Um hier zu Fortschritten zu kommen, braucht es jedoch Antworten auf die Frage: Gerechtigkeit durch wen und für wen?
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass der weltweite Erfolg bei der Eindämmung des Klimawandels von Entscheidungen von afrikanischen Politikerinnen und Politikern abhängen könnte. Doch die schwierigen Entscheidungen, vor denen sie jetzt stehen, hätten sich vermeiden lassen, wenn die Politiker in den Industrieländern die nötige Zivilcourage aufgebracht und ihre Zusagen zur Klimafinanzierung gegenüber Afrika eingehalten hätten. Heute ist der am schnellsten wachsende Kontinent der Welt auch der ärmste. Wenn der Regen ausbleibt und die Inflation Lebensmittelhilfen verzögert oder sogar verhindert, droht Hunderten von Millionen Menschen der Hungertod.
In Afrika werden mehr Menschen an klimabedingten Katastrophen sterben als in jedem anderen Erdteil.
In Afrika werden mehr Menschen an klimabedingten Katastrophen sterben als in jedem anderen Erdteil. Das wussten diejenigen, die für den Klimawandel verantwortlich sind, schon lange, bevor in Afrika die vorausgesagten Folgen Realität wurden. Und in den Jahrzehnten der industriellen Revolution, in denen die Industrieländer durch den Ausstoß von klimaschädlichem CO2 immensen Reichtum erwirtschafteten, emittierte Afrika laut COP27-Präsident Sameh Shoukry noch nicht einmal vier Prozent und damit weit weniger als zum Beispiel die USA mit 30,7 Prozent.
Für die politischen Entscheidungsträger und die Menschen in den 54 Ländern des Kontinents sind die Auswirkungen des Klimawandels bittere gesellschaftliche Realität. Wenn es um die Frage geht, wie Menschenleben am besten geschützt, Klimavereinbarungen wie das Pariser Abkommen umgesetzt und die souveränen Rechte auf Entwicklung ausgeübt werden können, müssen sie sich mit Entscheidungen auseinandersetzen, die oft unliebsame Folgen haben, auch wenn die Lösungen eigentlich auf der Hand liegen. Die Staaten Afrikas könnten ihre Entwicklung genauso unnachhaltig gestalten wie die Industrieländer: Sie könnten Kohle, Öl und Gas aus der Erde holen, verkaufen und verbrauchen und die Einnahmen in ihre Entwicklung investieren.
Alternativ könnten sie sich weiterhin an die Regeln der Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen UNFCCC halten und darauf warten, dass die Industriestaaten so fair sind, ihnen genug Geld zu geben, damit sie sich auf den Klimawandel einstellen und den Übergang von fossilen Brennstoffen zu erneuerbaren Energien bewerkstelligen können. Die dritte Möglichkeit: Sie könnten aufhören, sich über Entwicklungsherausforderungen und Umweltschutz Gedanken zu machen.
Letzteres würde unweigerlich dazu führen, dass belebte und bevölkerte Regionen sich in Kadaver- und Leichenfelder verwandeln. Die zweite Option würde diesen Prozess vermutlich nur schmerzhaft hinauszögern. Wenn die afrikanischen Länder hingegen von ihrem souveränen Recht auf Entwicklung Gebrauch machen, gefährdet das alle Fortschritte, die bisher bei der Reduzierung der globalen Emissionen erzielt wurden. Andererseits würden die Regierungen damit zu Geld kommen und könnten dafür sorgen, dass nicht Millionen von Menschen etwa durch Dürrekatastrophen verhungern. Im Übrigen ist den afrikanischen Staaten klar, dass sie selbst dann nicht vor den Auswirkungen des Klimawandels wie Hitzewellen und dem Anstieg des Meeresspiegels geschützt sind, wenn sie ihre Emissionen reduzieren.
Die UN-Erklärung über das Recht auf Entwicklung gewährt jedem Menschen ein unveräußerliches Menschenrecht, „an einer wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Entwicklung teilzuhaben und daraus Nutzen zu ziehen“.
Diejenigen Europäer, die von Afrika verlangen, dass es auf die Erschließung seiner riesigen natürlichen Kohlenwasserstoffressourcen verzichtet, könnten die wissenschaftliche und sozioökonomische Geschichte des Klimawandels beiseitelassen und stattdessen über die Erklärung der Vereinten Nationen über das Recht auf Entwicklung nachdenken. Sie gewährt jedem Menschen von Berlin bis Bamako ein „unveräußerliches Menschenrecht“, „an einer wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Entwicklung teilzuhaben und daraus Nutzen zu ziehen“.
Auf nationaler Ebene beinhaltet das Menschenrecht auf Entwicklung neben der Chancengleichheit beim Zugang zu Nahrung und anderen Grundressourcen auch das „Recht auf Selbstbestimmung“. Zudem haben laut der UN-Erklärung die Völker das „Recht auf uneingeschränkte Souveränität über alle ihre natürlichen Reichtümer und Ressourcen“, das sich auf die Menschenrechtsnormen stützt. Auf internationaler Ebene beinhaltet es die Verpflichtung zur geopolitischen Kooperation „auf der Grundlage der souveränen Gleichheit, der Interdependenz, der gemeinsamen Interessen und der Zusammenarbeit“. Außerdem hält es die Staaten dazu an, „Entwicklungshindernisse“ zu beseitigen. Insofern, als die Staaten zum Schutz der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte verpflichtet sind, hat die somalische Regierung, indem sie den Hunger nicht verhindern konnte, das „Recht auf Nahrung“ des zehnjährigen Jungen Salat, der an Hunger starb, nicht verwirklicht.
Die Afrikanische Charta der Menschenrechte und der Rechte der Völker geht beim Recht auf Souveränität noch einen Schritt weiter. Sie gewährt den afrikanischen Ländern „das unanfechtbare und unveräußerliche Recht auf Selbstbestimmung“. Dazu gehört, dass sie „ihre wirtschaftliche und soziale Entwicklung gemäß ihren frei getroffenen politischen Entscheidungen verwirklichen“ können.
So sieht in groben Zügen der Schauplatz für den sprichwörtlichen Kampf zwischen David und Goliath aus, der vor der ernüchternden Kulisse der existenziellen Bedrohung durch den Klimawandel ausgetragen wird. Auf der einen Seite steht das Europäische Parlament, das mit abstoßender Heuchelei und Ironie „seine tiefe Besorgnis über die Menschenrechtsverletzungen in Uganda und Tansania zum Ausdruck“ bringt und von „schwerwiegenden nachteiligen Folgen für die Bevölkerung in den Ölförder- und Pipelinegebieten“ der Ostafrika-Rohöl-Pipeline spricht, die zwischen diesen beiden Ländern gebaut wird.
Auf der anderen Seite stehen kleine „Davids“ auf dem ganzen Kontinent und machen weiterhin genau das, was die Afrikanische Union in ihrer Erklärung zum „Gemeinsamen Standpunkt“ vor der COP27 in Aussicht gestellt hat: „Afrika wird seine zahlreichen Energieressourcen – sowohl die erneuerbaren als auch die nicht erneuerbaren – zur Deckung des Energiebedarfs nutzen.“ Weitaus weniger (gedankliche) Energie braucht man für die Beantwortung der Frage, was für einen Menschen „nachteiliger“ sein könnte als ein langsamer Hungertod.
Angola kennt die Antwort und baut deshalb eine Erdgasanlage mit einer Kapazität von bis zu „400 Millionen Kubikmetern pro Tag“. Ebenfalls seit Februar werden in Angolas nördlicher Provinz Cabinda sechs Öl- und Gasförderplattformen gebaut. Mosambik verfügt Berichten zufolge über „100 Billionen Kubikmeter Gasreserven – die größten unerschlossenen Kohlereserven der Welt und die größte Wasserkraftanlage im südlichen Afrika“.
Afrikas Potenzial ist beachtlich.
Der Energiemix, der Mosambik vorschwebt, steht beispielhaft für den Scheideweg, an dem Afrika sich mit seinem Reichtum an natürlichen Energieressourcen befindet. Vor dem Hintergrund, dass die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung und auch der Klimaschutz immer mehr zur dringenden Notwendigkeit werden, muss ein Weg gefunden werden – und zwar schnell. Präsident Filipe Nyusi bezeichnet „die erste Lieferung von Flüssiggas aus der LNG-Anlage Coral Sul“ (FLNG) für den „internationalen Markt“ als eine der „besten Lösungen für die von uns geplante Entwicklung Mosambiks“. Berichten zufolge geht die Lieferung nach Europa.
Gasreserven gibt es in mehreren Ländern Afrikas südlich der Sahara. Bis 2025 sollen hier 70 Erdgasprojekte in Betrieb gehen – von Algerien bis Südafrika, von Äthiopien bis zum Senegal. Nigerias Gaslieferungen nach Europa und auch die jüngsten Lieferungen aus Mosambik beweisen, dass die 359 Billionen Kubikmeter an „entdeckten Erdgasvorkommen“ allein in Subsahara-Afrika eine praktikable, wenn auch nicht wünschenswerte Option sind, um „ein erhebliches Hindernis für die wirtschaftliche und menschliche Entwicklung“ zu beseitigen – und zwar durch die Lieferung von 160 Gigawatt Strom und somit durch die Verdoppelung „der gesamten vorhandenen Stromerzeugungskapazität in Subsahara-Afrika“.
Eine Möglichkeit, in Afrika einen kohlenwasserstofffreien Entwicklungspfad zu verwirklichen, könnte die „gemeinsame Afrika-EU-Strategie“ sein.
Wenn Politikerinnen und Politiker in Europa und den USA die Erschließung dieses Potenzials weiterhin verurteilen, würden sie damit das immer mehr ausgeweitete Menschenrechtsnarrativ überstrapazieren. Sie müssten zu ehrlicheren und von jeder Heuchelei freien Strategien greifen. Es gäbe sicherlich genug lokale Menschenrechtsgruppen, die davon profitieren würden, wenn sie in ihrem Kampf gegen die Erschließung von Kohlenwasserstoffvorkommen Unterstützung aus dem Ausland bekommen, aber auch diese Strategie läuft sich bereits tot.
Eine Möglichkeit, in Afrika einen kohlenwasserstofffreien Entwicklungspfad zu verwirklichen, könnte die „gemeinsame Afrika-EU-Strategie“ sein, zu der die EU in ihrer Kritik an der Ostafrika-Erdölpipeline ein Lippenbekenntnis ablegt. Afrikas Potenzial ist beachtlich: Mit den umfangreichen erneuerbaren Ressourcen an Sonnenenergie und einem Windenergiepotenzial von 180 000 Terawattstunden pro Jahr könnten „27 Länder den gesamten Strombedarf des Kontinents alleine decken“.
Frans Timmermans, der Vizepräsident der Europäischen Kommission, sagt vollkommen zu Recht: „Die große Chance für Afrika liegt in der Nutzung seines riesigen Potenzials an Sonnen- und Windenergie.“ Ebenso richtig liegt er, wenn er feststellt: „Eine der Perfidien dieser vom Menschen verursachten Krise besteht darin, dass diejenigen, die sie nicht verursacht haben, am meisten unter den Folgen dieser Klimakrise leiden. Dafür ist Afrika ein Paradebeispiel.“
Damit die von ihm angesprochenen Ungerechtigkeiten beseitigt werden können, wäre es allerdings genauso richtig, wenn Frans Timmermans bei der Bekämpfung des Klimawandels politisch eine globale Führungsrolle übernehmen und mit einer fairen, gerechten und angemessenen Klimafinanzierung die Länder des globalen Südens in die Lage versetzen würde, das Potenzial Afrikas zu verwirklichen, sich vor den Folgen des Klimawandels zu schützen und den Übergang ihrer Volkswirtschaften zu den erneuerbaren Energien zu schaffen.
Im April 2022 gab US-Präsident Joe Biden 30 Millionen Barrel Öl frei, damit die US-Bevölkerung ihren Verbrauch von „durchschnittlich19,89 Millionen Barrel Erdöl pro Tag“ aufrechterhalten kann. Die afrikanischen Länder haben in der Vergangenheit weit weniger verbraucht und leiten inzwischen Entwicklungsschritte ein, um das Leben ihrer Bevölkerung vor klimawandelbedingten Katastrophen zu schützen. Auch wenn einige jetzt so tun, als ob sie die Geschichte des Klimawandels verdrängen, könnte man sich mit einem Rest von Anstand darauf einigen, dass die Industrieländer angesichts der mutwilligen Vernichtung von Leben, die der Klimawandel auf dem gesamten Kontinent anrichtet, nicht die moralische Autorität besitzen, Afrika seinen Entwicklungspfad vorzuschreiben.
Aus dem Englischen von Christine Hardung