Die westliche Unterstützung der Ukraine, den Krieg zu gewinnen, geht Hand in Hand mit der Hilfe zum Wiederaufbau. Die ersten Schritte sind bereits im Gange, wie die jüngste Ukraine Wiederaufbaukonferenz in Berlin gezeigt hat. Für europäische Politiker ist der Wiederaufbau wichtig, nicht nur um die Resistenz der Wirtschaft und Gesellschaft während des Krieges zu sichern. Er wird mit Blick auf die langfristige Entwicklung der Ukraine und den EU-Beitrittsprozess geplant und wird daher als eine Investition in die Stabilität und Sicherheit Europas betrachtet.
Das Ausmaß der Kriegszerstörung und des Finanzbedarfs ist enorm und nimmt zu, je länger der Krieg dauert. Die Schätzungen der Weltbank belaufen sich auf etwa 500 Milliarden US-Dollar – das entspricht dem Bruttoinlandsprodukt Österreichs und ist mehr als das Dreifache der ukrainischen Wirtschaftsleistung vor dem Krieg. Nicht nur Städte und Infrastruktur wurden beschädigt, auch die Risiken für Unternehmen und Investoren sind sehr hoch. Dies stellt den ukrainischen Staat und seine internationalen Verbündeten vor eine große finanzielle Herausforderung.
Die ukrainische Kriegswirtschaft ist extrem abhängig von externer Unterstützung. Ein Großteil der derzeitigen und künftigen finanziellen Zusagen kommt nicht in Form von Zuschüssen, sondern Krediten. Diese müssen zurückgezahlt werden und tragen zu einer steigenden Staatsverschuldung bei. Bereits heute schuldet der ukrainische Staat 70 Prozent seiner Schulden ausländischen Gläubigern. Im August läuft ein zweijähriger Zinszahlungsstopp aus. Die westlichen Gläubigerstaaten, darunter Deutschland und die USA, haben einer Verlängerung des Schuldenmoratoriums bis 2027 zugestimmt. Dagegen drängen private Gläubiger (darunter der weltgrößte Vermögensverwalter BlackRock), die rund ein Fünftel der ukrainischen Schulden halten, zur Wiederaufnahme der Zinstilgung.
Die Ukraine kann versuchen, die Schulden umzustrukturieren oder den Zahlungsstopp zu verlängern. Ansonsten droht die Staatspleite. Geberinstitutionen wie der IWF haben bereits erkannt, dass eine untragbare Verschuldung und die resultierende Austeritätspolitik die Gefahr bergen, Menschen zu schaden und Wirtschaftswachstum zu ersticken. Ein Schuldenerlass muss daher schon zu Beginn des Wiederaufbaus ernsthaft in Erwägung gezogen werden. Ein möglichst großer Teil der künftigen Finanzhilfe sollte in Form von Zuschüssen geleistet werden.
Der Wiederaufbau der Ukraine muss sich auf die Menschen und die entscheidenden Bereiche einer stabilen, widerstandsfähigen Gesellschaft konzentrieren – Bildung, Kinderbetreuung, soziale Sicherheit und Gesundheitsversorgung. Außerdem sind Kinderbetreuung und Bildung wichtig für die Eingliederung von Frauen in den Arbeitsmarkt, die bisher unbezahlte Betreuungsarbeit leisten und nicht auf dem Arbeitsmarkt verfügbar sind. Investitionen in den sozialen Wohnungsbau werden angesichts des Ausmaßes der Zerstörung von Wohnhäusern durch russische Bombenangriffe unverzichtbar sein. Insgesamt sind staatliche Ausgaben im sozialen Bereich eine lohnenswerte Investition mit einem Multiplikatoreffekt, der die Binnennachfrage ankurbelt und zu einer stabilen, widerstandsfähigen Gesellschaft beiträgt, die den Kern eines erfolgreichen Wiederaufbaus bildet.
Ausländische Geber und Investoren sollen bei der Mittelvergabe lokale Unternehmen bevorzugen.
Die Menschen werden bei den Wiederaufbaubemühungen eine entscheidende Rolle spielen. Mehr als sechs Millionen Bürgerinnen und Bürger haben die Ukraine verlassen, was zu einem Rückgang der Erwerbsbevölkerung um zwölf Prozent geführt hat. Für diejenigen, die eine Rückkehr in Betracht ziehen, wird nur ein sozial stabiles Land attraktiv sein. Es werden zwar Garantien für Unternehmen, die in der Ukraine investieren, diskutiert, jedoch gibt es keine solche Diskussion über Garantien für Rückkehrer. Angesichts einer schrumpfenden Bevölkerung braucht die Ukraine dringend sowohl Soldaten als auch Arbeitskräfte. Hunderttausende von Menschen, meist Männer, dienen in der Armee und stehen dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung, die meisten Unternehmen leiden deshalb unter Personalmangel. Gleichzeitig ist etwa die Hälfte der Erwerbsbevölkerung nicht erwerbstätig. Viele Männer nehmen keinen Job an, aus Angst, eingezogen zu werden.
Der Wiederaufbau sollte mit Blick auf eine moderne, grüne Transformation geplant werden, um die ukrainische Wirtschaft nachhaltig zu machen und die Anpassung an den Green Deal der EU zu erleichtern. Wichtig sind Investitionen in saubere Energien sowie Dezentralisierung der Energieerzeugung (größere Anzahl kleinerer Kraftwerke), damit sie weniger anfällig für russische Bombenangriffe werden. Ausländische Geber und Investoren könnten ukrainischen Unternehmen helfen, indem sie modernste emissionsfreie Technologien mitbringen.
Im Zuge des Krieges haben die ukrainischen Unternehmen in den meisten Sektoren Marktanteile an Konkurrenten aus der EU verloren. Diese Entwicklung ist nicht überraschend für eine Marktwirtschaft unter Kriegsbedingungen. Um den Wiederaufbau sozial gerecht zu gestalten, müssen die ukrainischen Unternehmen jedoch bevorzugt werden. Daher sollte die Wiederbelebung der ukrainischen Industrie Staatsaufgabe Nummer eins werden, dem Motto folgend „build back better made in Ukraine“. Wenn der Staat den einheimischen Unternehmen regelmäßig Aufträge erteilt (sowohl im Verteidigungs- als auch im zivilen Sektor) und sie mit Subventionsprogrammen unterstützt, kurbelt er das Binnenwachstum an, schafft Arbeitsplätze und hilft dem Privatsektor, die Kriegsschocks zu bewältigen.
Ausländische Geber und Investoren sollen bei der Mittelvergabe lokale Unternehmen bevorzugen und sie zu Hauptauftragnehmern machen. Es sollten so viele Waren wie möglich von ukrainischen Herstellern bezogen werden. Ausländische Unternehmen müssen angeregt werden, die Lokalisierung voranzutreiben und Joint Ventures mit ukrainischen Unternehmen zu gründen. Möglichst viele Mittel sollten an kleine und mittelständische Unternehmen fließen. Ukrainische Firmen verfügen über Produktionskapazitäten (Zement und Stahl) in Sektoren, die am dringendsten wiederaufgebaut werden sollen, zum Beispiel Wohnungsbau und Infrastruktur.
Ukrainische Unternehmen sind auch in der Verteidigungs-, Lebensmittel-, Bekleidungs- und Medizinbranche wettbewerbsfähig. Lokale Auftragsvergabe und Lokalisierung werden die Binnennachfrage anregen, Arbeitsplätze schaffen und einige Rückkehrer anziehen. Dies wird zu einem nachhaltigeren Wachstum führen, da das Geld in der Ukraine verbleibt und nicht über ausländische Auftragnehmer das Land wieder verlässt, die mitunter mit ausländischen Arbeitskräften und importierten Baumaterialien arbeiten.
Der Aufbau von Kapazitäten in den lokalen Verwaltungen kann die Eigenverantwortung vor Ort fördern.
Es gibt Befürchtungen, dass, wenn die Ukraine ihre Industrie wiederaufbaut, sie zu einem Konkurrenten für die EU wird. Das mag kurzfristig der Fall sein, ist aber langfristig vom Vorteil. Der Marshallplan nach dem Zweiten Weltkrieg ermöglichte den Aufstieg der europäischen Industrie, die zu einem Konkurrenten der amerikanischen Industrie wurde. Langfristig jedoch profitierten die USA von einem wirtschaftlich starken Europa, so wie die EU von einer starken ukrainischen Wirtschaft profitieren wird. Im Großen und Ganzen muss die ukrainische Regierung ein Gleichgewicht zwischen Protektionismus und Öffnung hin zu einem liberalisierten EU-Markt finden. Die EU sollte wiederum einen Weg finden, um die Verlierer zu entschädigen (die Proteste der polnischen und französischen Bauern lassen zukünftige Verteilungskonflikten erahnen).
Der Wiederaufbau erfordert eine strategische Planung sowie Koordinierung der Geber. Eine eigens dafür eingerichtete nationale Entwicklungsagentur könnte den Wiederaufbau mit dem EU-Beitritt in Einklang bringen und sicherstellen, dass die Mittel tatsächlich die Menschen erreichen. Wenn viel Geld ins Land fließt, wird die Fähigkeit des Staates, die Mittel zu absorbieren, gefordert. Ein Teil der ausländischen Hilfe für die Ukraine sollte sich daher auf Kapazitätsentwicklung der Mitarbeiter konzentrieren, damit die Entwicklungsagentur in der Lage ist, große Geldbeträge zu absorbieren, bei Bedarf ausländisches Kapital und Know-how anzuziehen und schließlich Großprojekte zu planen, durchzuführen und zu überwachen.
Um die Koordinierung zu erleichtern, sollten die Geber erwägen, mehr Hilfe über multilaterale Kanäle (EU oder Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung) statt über bilaterale Kanäle zu leisten. Eine Vielzahl bilateraler Projekte mit ihren jeweiligen Anforderungen könnten die ausführenden Behörden vor Ort überfordern, sodass sie im schlimmsten Fall davor zurückschrecken, das Geld überhaupt abzurufen. Die Zeit ihrer Mitarbeiter sollte in erster Linie für die Projektplanung und -durchführung genutzt werden und nicht für die Verwaltung der Hilfsgelder.
Der Aufbau von Kapazitäten in den lokalen Verwaltungen kann die Eigenverantwortung vor Ort fördern und die Umsetzung erleichtern. Da staatliche Großaufträge sehr korruptionsanfällig sind (dies betrifft sowohl ukrainische als auch ausländische Unternehmen), wird die Korruptionsbekämpfung weiterhin zentral sein. Die Regierung Selenskyj hat sie zu Recht priorisiert und sollte von den internationalen Partnern unterstützt werden.