Das Interview führte Claudia Detsch.
Bundeskanzler Olaf Scholz hat eine Zeitenwende ausgerufen. Gilt sie auch für die Energie- und Industriepolitik oder beschränkt sie sich auf sicherheits- und verteidigungspolitische Fragen?
Sie gilt ganz klar auch für die Energie- und Industriepolitik. Wir sehen angesichts dieses Krieges, welche Bedeutung Energiepolitik wirklich hat. Entsprechend müssen wir umsteuern. Ein Beispiel: Wir haben über Jahrzehnte eine Rechtskultur geschaffen, in der das individuelle Interesse die Interessen der Allgemeinheit etwa beim Ausbau der Erneuerbaren Energien massiv blockieren konnte. Wir müssen das Allgemeinwohl wieder in den Mittelpunkt stellen, gerade in der Energiepolitik.
Die osteuropäischen Nachbarn haben Berlin davor gewarnt, sich von russischen Energieimporten und insbesondere russischem Gas abhängig zu machen. Hat die deutsche Politik zu gutgläubig auf den Ansatz „Wandel durch Handel“ gesetzt?
Natürlich haben wir aus heutiger Sicht beim Gas zu einseitig auf Russland gesetzt. Allerdings muss man sich auch die Folgen für Klima und Umwelt anschauen: Die Klimabilanz von per Schiff transportiertem amerikanischem Fracking-Gas ist nicht gerade vorteilhaft. Es gab also starke Argumente für eine Zusammenarbeit mit Russland, zumal zum Beispiel die Niederländer – und ähnlich die Norweger – entschieden haben, die Gasförderung aufgrund der Erdbebengefahr massiv zu drosseln.
Die Regierung hat noch zu Beginn des Jahres Gas als kostengünstige und daher zentrale Brückentechnologie beim Übergang in eine klimaneutrale Wirtschaft bewertet. Muss Berlin nun komplett neu denken oder ist es möglich, einfach den Lieferanten auszutauschen?
In jeder Krise liegt eine Chance. Wir können jetzt beim Ausbau der Erneuerbaren Energien viel schneller vorankommen als in den letzten Jahren. Dank der Ampelkoalition aus Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen können wir einige Blockaden lösen, die mit den Konservativen nicht zu lösen waren. Ich hoffe, dass die Europäische Union und alle Mitgliedstaaten bei diesem Kraftakt mitmachen, damit künftig die Erneuerbaren die Quelle schlechthin sind und die Zukunft nicht länger in fossiler Energie oder in Atomenergie gesehen wird.
Gleichzeitig hat das Europäische Parlament letzte Woche der Aufnahme von Gas und Atomkraft in die EU-Taxonomie für nachhaltige, grüne Investitionen zugestimmt. Riskiert das nicht, von den notwendigen Investitionen in erneuerbare Energien abzulenken?
Ich hätte mir gewünscht, die Entscheidung des Europäischen Parlaments wäre anders ausgefallen. Aber wenn wir die Risiken sehen, die nach wir vor mit Investitionen in den Neubau von Atomkraftwerken verbunden sind, dann habe ich die Hoffnung, dass verantwortungsbewusste Investoren den Erneuerbaren den Vorrang geben werden. Bei den Gaskraftwerken ist aufgrund der internationalen Beschlüsse zum Klimaschutz klar, dass ihre Laufzeit endlich ist. Alle wissen, nur die Erneuerbaren sind wirklich nachhaltig. Ihnen gehört deshalb die Zukunft.
Baut Deutschland nicht derzeit zur Lösung der Energiekrise neue Infrastruktur auf, die uns für die nächsten Jahrzehnte an die fossilen Energien fesselt, etwa beim Flüssiggas?
Unser fossiles Zeitalter soll spätestens 2045 enden. Das ist relativ nah. Wenn man um Versorgungssicherheit ringt, ist es aber auch noch eine lange Zeit. Die Brücke ins Zeitalter der Erneuerbaren darf nicht endlos sein, aber sie wird gebraucht. Es geht darum, eine Logistik und eine Infrastruktur aufzubauen, die wir im Wasserstoffzeitalter weiter nutzen können.
Wie bewerten Sie vor diesem Hintergrund die jüngsten Beschlüsse und Vorschläge aus Brüssel, etwa beim RePowerEU-Programm, dem Vorschlag der EU-Kommission, um die Abhängigkeit von russischen fossilen Brennstoffen möglichst schnell zu beenden?
Das geht in die richtige Richtung. Aber wir müssen noch viel mehr tun. Wir müssen Investitionsmöglichkeiten verbessern und wir müssen uns bei beihilfe- und genehmigungsrechtlichen Fragen bewegen, etwa im Zusammenspiel zwischen Naturschutz und Energieerzeugung. Wir brauchen einen energiepolitischen Masterplan in Europa.
In der aktuellen Versorgungs- und Preiskrise rückt auch die Atomenergie wieder verstärkt in den Fokus, wie der Beschluss zur EU-Taxonomie auch nahelegt. Gilt das auch für Berlin?
Wir müssen innerhalb der Europäischen Union die Atomkraft problematisieren. Das ist keine nachhaltige Energie. Mit dem Einsatz der Atomkraft sind immense Probleme verbunden, angefangen bei den Uran-Lieferungen, die auch aus Russland kommen. Es ist eine gefährliche Technologie, das sehen wir derzeit wieder angesichts der Kämpfe rund um Atommeiler. Die Frage der Endlagerung ist ungelöst. 30 000 Generationen nach uns werden mit Atommüll belastet. Frankreich musste zuletzt aus den unterschiedlichsten Gründen eine Vielzahl seiner Atomkraftwerke abschalten und war auf Importe, zum Beispiel aus Deutschland, angewiesen. Bei realen Bauvorhaben sehen wir einen wahnsinnigen Subventionsbedarf. Wir sehen den Zeitverzug. Man muss sich innerhalb der Europäischen Union ehrlich machen und sagen: Wir können nur ein gemeinsames Ziel haben, und das ist der maximale Ausbau der Erneuerbaren.
In Deutschland laufen noch drei AKWs, die Ende des Jahres abgeschaltet werden. Warum werden nicht wenigstens die Laufzeiten dieser drei AKWs verlängert angesichts der Energiekrise?
Es gibt eine klare Vereinbarung im Koalitionsvertrag, auch wenn mancher Liberale nun eine Laufzeitverlängerung fordert. Die Sicherheitsanforderungen sind sehr hoch und Sicherheit muss immer gewährleistet sein. So wäre zuerst zu prüfen, ob für den Weiterbetrieb nach 2022 aufwändige Nachrüstungen notwendig sind. Aktuell sind die Kraftwerke für den Betrieb bis Ende 2022 ausgelegt – nicht darüber hinaus. Hinzu kommt, dass die Anlagen über keine frischen Brennelemente mehr verfügen. Die kauft man nicht von der Stange, sondern sie müssen extra hergestellt und dann auch noch atomrechtlich freigegeben werden. Für den nächsten Winter dürfte es also kaum helfen. Wir brauchen zudem Alternativen im Wärmebereich und einen Ersatz für Gas. Es geht weniger um Strom. Diese drei AKWs sind also mit Sicherheit keine Lösung.
Den Deutschen wird häufig vorgeworfen, zu ideologisch auf die Atomfrage zu blicken. Wie steht es beispielsweise um die neue Generation und insbesondere kleine modulare Reaktoren, SMR genannt?
Die sind noch gar nicht marktreif. Die ganze Debatte erinnert mich an die Kernfusion, die wird uns auch seit den 70er Jahren als unmittelbar bevorstehende Lösung verkauft. Es gibt keine Alternative zum massiven Ausbau der Erneuerbaren.
Deutschland hatte bereits im April angekündigt, bis zum Jahresende auf russisches Öl verzichten zu können und entsprechend die Forderung nach einem hundertprozentigen Ölembargo der EU unterstützt. Auf Druck Ungarns fällt dieses nun allerdings sehr halbherzig aus, über Pipelines transportiertes Öl ist ausgenommen. Erreicht man so überhaupt noch das Ziel, die russische Wirtschaft empfindlich zu treffen?
Auf jeden Fall. Es handelt sich um die größten Sanktionspakete, die je beschlossen wurden. Das ist ein absolut wichtiges Signal gegenüber Russland. Aber wir wissen natürlich, dass Russland um alternative Abnehmer bemüht ist. Insofern sind diese Sanktionen nur ein Mosaikstein, Russlands Angriffskrieg etwas entgegenzusetzen.
Gerade zu Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine stand Berlin stark unter Druck. Es gab intensive Rufe nach einem sehr raschen Gasboykott, verbunden mit der Argumentation, damit könne der Krieg beendet werden, da Moskau wichtige Gelder entzogen würden. Berlin hat dem nicht nachgegeben und vor den gravierenden Folgen eines Importstopps gewarnt. Welche sind das konkret?
In diesen Diskussionen lechzen alle nach einfachen Lösungen zur Beendigung dieses Konflikts. Aber so einfach sind die Dinge nicht. Das gilt für die Frage, welche Waffen durch die NATO oder Länder der Europäischen Union geliefert werden, das gilt auch für die Frage eines Embargos. Wir müssen immer sehen, dass viele Staaten der UN-Resolution gegen Russland nicht zugestimmt haben. Alle diese Länder sind mögliche Abnehmer russischen Öls und Gases. Es funktioniert entsprechend nicht so, dass wir einen Hebel umlegen und dann ist der Krieg vorbei.
Die Bundesrepublik Deutschland ist zudem das einzige hochindustrialisierte Land, das gesetzlich beschlossen hat, gleichzeitig aus Kohle und Atom auszusteigen. Deswegen haben wir eine andere Energieinfrastruktur als andere Staaten. Wenn das Gas bei uns von heute auf morgen gekappt würde, gäbe es Schäden in weiten Teilen der Wirtschaft und bei Verbraucherinnen und Verbrauchern. Letztlich hat der Bundeskanzler auf die Verfassung geschworen, dass er Schaden von der Bevölkerung abwendet. Mit einem Gasembargo muss man daher vorsichtig umgehen.
Wann können wir realistischerweise dem russischen Gas den Hahn abdrehen in Deutschland?
Das kommt darauf an, welche alternativen Verträge abgeschlossen werden können. Wir verhandeln mit Katar, mit Kanada, aber auch mit Norwegen. Wir haben neue LNG-Terminals in der Planung, die in rasant kurzer Zeit gebaut werden. Wir haben ein Gesetzgebungs-, Planungs- und Genehmigungsverfahren aufgesetzt, das es so noch nie gegeben hat. Der Bau dieser Terminals könnte durchaus im Jahr 2023 abgeschlossen werden. Deutschland hat in der Vergangenheit zu einseitig auf russisches Gas gesetzt. Insofern sind diese Infrastrukturen sinnvoll, um flexibler sein zu können. Aber natürlich müssen wir auch den Ausbau der Erneuerbaren deutlich beschleunigen. Sie sind langfristig die beste Alternative zu Putins Gas.
Wir müssten enorm Tempo machen bei der Energiewende, massiv investieren. Das wird kurz- bis mittelfristig die Preise für Energie und Wärme noch steigern. Schon jetzt ächzen die Bürgerinnen und Bürger und auch die Unternehmen unter den historisch hohen Energiepreisen. Wie lässt sich gerade aus einer sozialdemokratischen Perspektive dieser Zielkonflikt austarieren und eine Lösung finden?
Die Preissprünge offenbaren teils ein deutlich spekulatives Verhalten. Ich wünsche mir deutlichere Signale der Europäischen Kommission, dass man dieser Preistreiberei etwas entgegensetzt und auch die Frage der Gewinnbesteuerung angeht. Es geht aber auch darum, gemeinsam auf dem globalen Markt zu agieren und durch eine europäische Marktmacht dieser Spekulation etwas entgegenzusetzen.
Zudem sollten wir bei der Frage der Kosten ehrlich sein. Wir erleben den Klimawandel bereits. Wenn wir nicht gegensteuern, werden seine volkswirtschaftlichen Folgelasten weitaus höher sein. Insofern ist jede Investition in eine gute Erneuerbaren-Infrastruktur eine Investition in die Zukunft. Energiepolitik ist für die Sozialdemokratie Daseinsvorsorge. Der Staat hat hier steuernd einzugreifen und massiv zu investieren. Das lässt sich auf die Europäische Union übertragen. Es gilt auch für eine Wasserstoff-Infrastruktur, die wir europäisch denken müssen. Das wird mit Milliardensummen verbunden sein. Aber das sind Investitionen in die Zukunft.
Bei der nächsten UN-Klimakonferenz COP 27 im November wird es insbesondere um Finanzierungsfragen gehen. Deutschland und Europa werden in den kommenden Jahren enorme Summen in den Ausbau ihrer Verteidigungsfähigkeiten aufwenden. Sie müssen die Bürgerinnen und Bürger sowie die Wirtschaft unterstützen. Sie brauchen sehr viel Geld für den Umbau der Energiesysteme. Werden am Ende die nötigen Gelder fehlen, um den globalen Süden wie zugesagt bei der Klimaanpassung massiv zu unterstützen?
Genau das darf nicht passieren. Deswegen setzt Deutschland in seiner G7-Präsidentschaft so sehr darauf, Achsen zu schmieden. Wir werden Sicherheit und Frieden auf diesem Planeten nur erreichen, wenn wir die Nachhaltigkeitsziele umsetzen. Das geht nur global. Sicher brauchen wir viel Geld für Investitionen und für die Anpassung an den Klimawandel. Das Kapital ist aber vorhanden, es muss notfalls eben ausreichend besteuert werden. Und wir müssen völlig fehlgeleitete Strukturen aufbrechen, so bei der Spekulation mit Nahrungsmitteln. So etwas lässt sich nicht nationalstaatlich klären.