Die Belastungen für die europäischen Bürgerinnen und Bürger haben durch die Preisanstiege in der letzten Zeit deutlich zugenommen. Zwar brachten die staatlichen Markteingriffe durch eine Direktunterstützung der Haushalte eine kurze Atempause. Und auch der milde Frühherbst spielte mit Blick auf die Heizkosten eine positive Rolle. Allerdings nahm die prekäre Situation vieler Bürger in zahlreichen europäischen Staaten dennoch zu. Denn die Inflation stieg im Euroraum innerhalb eines Jahres von 3,6 auf fast elf Prozent. Verbraucherinnen und Verbraucher spüren die Auswirkungen deutlich – vor allem bei den Nahrungsmitteln. Diese sind zwischen September 2021 und September 2022 um 18,7 Prozent teurer geworden, manche sogar um bis zu 49 Prozent.

Als Ursache für die Preissteigerungen werden unter anderem die höheren Energiekosten für Dünge- und Futtermittel in Folge des Ukrainekrieges identifiziert. Gewerkschaften hegen jedoch den Verdacht, dass viele Preissteigerungen zwar mit dem Anstieg der Energiekosten begründet werden, diese aber teilweise nur als Vorwand dienen, um noch höhere Profite zu erzielen.

So stiegen beispielsweise die Getreide- und Milchpreise bereits vor dem Krieg stark an, in einer Zeit also, in der sich die Strompreise noch auf Normalniveau bewegten. Grund dafür war die hohe Preisnotierung an den Rohstoffbörsen. Das spiegelt sich im Fall der spezialisierten Getreidebauern mit einem bis zu 40 Prozent gestiegenem Einkommen im Jahr 2021 im Vergleich zum Vorjahr wider. Insgesamt stiegen die landwirtschaftlichen Einkommen um durchschnittlich 15 Prozent, da die Agrarpreise bereits im zweiten Halbjahr 2021 kräftig anzogen.

Um das zu erklären, bedarf es eines Blickes auf die Rohstoffbörsen. Dort wird über einen standardisierten Prozess der Preis von Rohstoffen verhandelt. In sogenannten Terminkontrakten (Futures-Contracts) werden Rohstoffe, bevor sie zur Verfügung stehen, zum Beispiel vor der Ernte, zu einem bestimmten Preis gekauft. Die dahinterstehende Theorie: Der Agrarproduzent kann mit einem fixen Einkommen anlässlich der in der Zukunft liegenden Ernte rechnen, der Käufer erhält dafür eine Lieferzusage zu einem fixen Preis, womit er seine Versorgung mit dem Rohstoff absichert.

Die globalen Getreidemärkte sind noch stärker konzentriert als die Energiemärkte.

Diese Art des Geschäfts wurde informell bereits in der Antike praktiziert. Die erste Warenterminbörse wurde 1848 in Chicago gegründet. Der Handel von Rohstoffen erfolgt über standardisierte Kontrakte, wobei die Börse eine zusätzlich absichernde Rolle einnimmt, indem sie für die Erfüllung des Kontraktes bürgt. Bis zu Beginn der Siebzigerjahre bestand über die Terminkontrakte eine direkte Beziehung zwischen Rohstoffproduzenten (Bauern) und Rohstoffhändlern. Mit der damals beginnenden Deregulierung der Rohstoffbörsen, die in den Nullerjahren ausgeweitet wurde, fand eine Finanzialisierung des Handels mit Rohstoffen statt.

Finanzmarktakteure beteiligen sich mittlerweile in großem Format als Zwischenhändler an den Rohstoffbörsen. Sie erwerben dabei einen Terminkontrakt, der sie dazu berechtigt, Rohstoffe zu einem bestimmten Preis geliefert zu bekommen. Anschließend warten sie auf einen Zeitpunkt, an dem der vereinbarte Preis des Terminkontraktes deutlich niedriger ist als auf dem Spotmarkt, wo kurzfristig festgelegte Preise gelten. Je größer die Preismarge ist, desto begehrenswerter ist der Terminkontrakt für andere Spekulanten, denn dieser kann zu hohen Preisen verkauft werden. Rohstoffe werden auf diese Weise viele Male gehandelt, bevor sie zum Verarbeiter gelangen.

Der ursprüngliche Sinn von Rohstoffbörsen, nämlich die Gewährleistung von Preis- und Liefersicherheit für Bauern sowie Verarbeiter von Rohstoffen, wird mittlerweile von anderen Interessen überlagert: Rohstoffbörsen werden von Akteuren gesteuert, die über starke Preisfluktuation Gewinne generieren. Ihre Entscheidungen sind deshalb nicht von realwirtschaftlichen, sondern von finanzwirtschaftlichen Erwägungen abhängig. Das bedeutet, dass Fundamentaldaten zu Angebot und Nachfrage nicht ausschlaggebend sind, weil die Finanzakteure nicht in den direkten Handel des Rohstoffs involviert sind. Durch ihren eingeschränkten Zugang zu Marktinformationen über die Realwirtschaft entsteht ein Informationsmangel, der durch das sogenannte ,,Herdenverhalten“ ausgeglichen wird. Finanzmarktakteure orientieren sich an anderen Marktteilnehmern. Dadurch werden Trends, die durch realwirtschaftliche Ursachen auftreten, über Spekulation verstärkt, wie es die exponentielle Inflation aufgrund des Ukrainekrieges unter Beweis stellt.

Aus der Unsicherheit der Finanzakteure und den realwirtschaftlichen Angebotsschocks schlagen die dominierenden Rohstoffhändler im Agrarbereich, die sogenannte ABCD-Gruppe (ADM, Bunge, Cargill and Louis Dreyfus), die 70 bis 90 Prozent des globalen Getreidehandels abdecken, ihren Profit. So konnte ADM seinen Gewinn im Vergleich zum Vorjahr um über 20 Prozent, Cargill seinen um knapp 30 Prozent steigern. Und sie konnten entlang der gesamten Lebensmittellieferketten expandieren. „Die globalen Getreidemärkte sind noch stärker konzentriert als die Energiemärkte und noch weniger transparent, so dass die Gefahr der Profitmacherei groß ist“, so ein Mitglied des International Panel of Experts on Sustainable Food Systems.

Eine ähnliche Marktmacht besitzen die Anbieter von Saatgut und Dünger. So stiegen die Preise für Dünger seit 2020 um 300 Prozent, also bereits deutlich vor dem Ukrainekrieg. Der Preisanstieg verlief parallel zur Monopolisierung der Düngeranbieter und des Saatgutmarktes. Innerhalb der letzten zehn Jahre hat sich dieser Markt stark verengt: Die „Big Six“ der Saatgutproduktion wurden – unter anderem zuletzt durch die Fusion von Bayer und Monsanto (2018) – auf die „Big Four“ reduziert: Bayer-Monsanto, DowDuPont/Corteva, ChemChina-Syngenta und BASF. DowDuPont/Corteva konnte sein Wachstum um acht Prozent und seine Gewinne um 27 Prozent steigern – trotz höherer Energiepreise.

Überlegungen zur stärkeren Regulierung von Rohstoffbörsen werden wieder lauter.

Aber auch große Nahrungsmittelverarbeiter spielen eine zentrale Rolle im System, wobei besonders Nestlé, Unilever und CocaCola eine starke Position haben. Nestlé verzeichnete 2022 in den neun Monaten bis Ende September 2022 ein Wachstum von 8,5 Prozent. Dies gelang durch die Kunst des richtigen „Pricing“ – die für den Unternehmenserfolg optimale Preissetzung. Angesichts rapide steigender Transport- und Rohstoffkosten versteht man darunter das Geschick, die Preise deutlich zu erhöhen, ohne die Kundinnen und Kunden zur günstigeren Konkurrenz zu treiben. Mit bekannten Marken von Nespresso über San Pellegrino bis Kitkat gelang es dem Konzern, trotz Preiserhöhungen von durchschnittlich 6,5 Prozent den Umsatz gegenüber dem Vorjahr zu steigern und damit entsprechend Gewinn zu generieren.

Es spricht somit vieles dafür, dass starke Marken wie Nestlé aufgrund ihrer Marktposition die Preise erhöhen können, ohne dass das Unternehmen Kunden verliert. Auch Unilever verzeichnete eine Gewinnsteigerung von 17 Prozent im zweiten Quartal 2022 im Vergleich zum Vorjahr – trotz der steigenden Energiepreise. „Zahlreiche Konzerne versuchen, auf der aktuellen Inflationswelle mitzureiten“, stellt ein Edeka-Chef fest. Er beobachte „immer häufiger unfaire Industriepraktiken“.

Die aufgezeigte Konzentration im Agrar- und Lebensmittelsektor zeigt, dass die Unternehmen ihre Oligopol- bzw. Monopolstellung nutzen, um aus der daraus resultierenden Abhängigkeit Profit zu schlagen. Es wird Aufgabe der Wettbewerbsbehörden sein, angeblich aus den Energiepreisen induzierte Preissteigerungen in anderen Märkten genau unter die Lupe zu nehmen. Die österreichische Wettbewerbsbehörde (BWB) hat dies bereits bezüglich des Kraftstoffmarktes getan und plant weitere Branchenuntersuchungen. Damit diese Untersuchungen nicht folgenlos im Raum stehen bleiben, hat die Arbeiterkammer Wien einen Antrag auf Einleitung eines Preisprüfungsverfahrens gestellt. Aber auch im Lebensmittelbereich bleibt die BWB nicht untätig: Sie plant auch hier eine Branchenuntersuchung. Auch der deutsche Wirtschaftsminister schlägt vor, dass in Zukunft Sektoruntersuchungen, die Wettbewerbsdefizite feststellen, mit Konsequenzen in Form von Auflagen und Markteingriffen verknüpft werden.

Dass hohe Marktkonzentration nicht im Sinne der Beschäftigten und Verbraucherinnen ist, hat die EU-Kommission schon 2019 erkannt. Allerdings sind die Pläne zu einem Markteingriff bis hin zur Zerschlagung marktmächtiger Unternehmen, das sogenannte „Neue Zusatzinstrument zur besseren Durchsetzung des Wettbewerbs“ (Competition Tool) wieder in der Schublade verschwunden. Der deutsche Wirtschaftsminister hat mit seinem Reformvorschlag für das deutsche Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen die Idee der Zerschlagung von oligopolistischen Marktstrukturen wieder in die Diskussion gebracht. Aber auch Überlegungen zur stärkeren Regulierung von Rohstoffbörsen werden wieder lauter. Ein erster wichtiger Schritt ist jedenfalls getan: Mit der EU-Dringlichkeitsverordnung wurde sichergestellt, dass zumindest im Energiebereich ein Teil der Übergewinne abgeschöpft wird.

Gewerkschaften fordern eine rasche Umsetzung in Form einer Übergewinnsteuer sowie die Einführung einer Anti-Teuerungskommission, die regelmäßig Preise und Preiserhöhungen auf ihre volkswirtschaftliche Rechtfertigung prüft und gegebenenfalls Preisprüfungen nach dem Preisgesetz einfordert. Nur so kann vermieden werden, dass Oligopole ihre marktmächtige Stellung zu Lasten der Beschäftigten und Konsumenten ausnutzen.