Polen
Unvorstellbare 15,6 Prozent – das ist die Inflationsrate in Polen im Juli. Die gute Nachricht lautet, dass sie nur 0,1 Prozent höher ist als im Juni, die meisten glauben jedoch, dass der Höhepunkt der polnischen Inflation noch nicht erreicht ist. Die täglichen Lebenshaltungskosten – Lebensmittel, Benzin, Gas und Strom – sind in Wirklichkeit noch viel stärker gestiegen. Zuletzt erlebten die Polinnen und Polen derartige Preissteigerungen in den späten Neunzigern. Die Regierung führt deswegen immer mehr „Anti-Inflationsmaßnahmen“ ein und macht äußere Umstände und Feindbilder für die Teuerung verantwortlich. Die Opposition hingegen wirft der Regierung und insbesondere dem Chef der Nationalbank, der eng mit den Machthabern verbunden ist, Inkompetenz vor und kritisiert, dass sie zur Verschärfung der Krise beigetragen haben.
In diesem Jahr führte die Regierung den sogenannten „Anti-Inflations-Schirm“ ein und senkte die Mehrwertsteuer auf Benzin, Gas und Strom sowie auf viele Produkte des täglichen Bedarfs – teilweise sogar auf bis zu null Prozent. Ziel war es zu Beginn des Jahres, die Inflationsrate unter 10 Prozent zu halten. Im Juli verlängerte die Regierung die Maßnahmen bis zum Ende des Jahres.
Zur Bekämpfung der Inflation wurden zudem die Zinssätze in Polen angehoben – von 0,1 Prozent im Oktober 2021 auf 6,5 Prozent im August 2022. Dies hatte einen extremen Anstieg der Hypothekenrate für ungefähr 2,5 Millionen Polinnen und Polen zur Folge, die ihre Häuser und Wohnungen auf Kredit gekauft haben. Bei fast allen dieser Kredite handelt es sich in Polen um Hypotheken mit variablem Zinssatz, sodass die Raten abhängig vom Leitzins steigen oder fallen. Die Bedingungen für die Hypothekenkredite verschärften sich so sehr, dass Tausende von Menschen keine Aussicht mehr auf den Kauf einer Wohnung auf Kredit haben, da sie es sich schlicht nicht mehr leisten können. Dies wiederum wirkt sich auf die Preise von Mietwohnungen aus – diese sind rar und für Studierende oder junge Menschen am Anfang ihres Berufslebens unbezahlbar.
Mehr als 2 Millionen unglückliche Schuldnerinnen und Schuldner erhielten nun ein wahres Geschenk: Sie können ihre monatliche Ratenzahlung ohne jegliche Konsequenzen ab August 2022 bis Ende 2023 achtmal aussetzen. Die einzige Bedingung ist, dass die fehlende Liquidität zur Deckung des eigenen Wohnungsbedarfs genutzt wird. Es wird erwartet, dass die große Mehrheit der Berechtigten diese Möglichkeit nutzen wird – in einigen Banken brachen in der Folge aufgrund des großen Ansturms die Server zusammen.
Die Inflation in Polen erweckt in einigen Menschen Panik.
Die Regierung will aber auch denjenigen helfen, die sich Sorgen um die Energiepreise machen. Die Besitzerinnen und Besitzer von Häusern, die noch mit Festbrennstoffen beheizt werden, begannen bereits im Frühjahr damit, sich mit Kohle für den nächsten Winter einzudecken und einige Urlaubsrückkehrer, die eine Zentralheizung besitzen, fanden in ihren Briefkästen eine Rechnung für die Grundversorgung, die nun doppelt so teuer ist wie bisher. In diesem Herbst können sie mit einem Zuschuss rechnen, der je nach Heizquelle zwischen 100 und 650 Euro beträgt.
Die Inflation in Polen erweckt in einigen Menschen Panik. In diesem Sommer gab es einen Ansturm auf Zucker – die Menschen jagen das seltene Gut in den Supermärkten und horten es zu Hause. Im Juni dieses Jahres lag der Zuckerpreis um 40 Prozent höher als genau ein Jahr zuvor. Die ausgebrochene Panik führte jedoch nicht nur zu Engpässen, sondern trieb die Preise natürlich noch weiter in die Höhe.
Die Regierung und der Chef der Nationalbank behaupten, die Inflation habe externe Quellen – sie nennen sie manchmal „Putinflation“. Aufgrund der wachsenden Unzufriedenheit in der Gesellschaft und der zahlreichen Bereiche des täglichen Lebens, wo die Inflation die Bevölkerung trifft, gibt es eine ganze Reihe von Schwachstellen, wo die Opposition die Regierung vor den Parlamentswahlen 2023 angreifen kann. Liberale Expertinnen und Politiker argumentieren, dass die ergriffenen Maßnahmen und damit die steigenden Staatsausgaben nur zu einer Verschärfung des Problems führen, anstatt die Teuerung zu bekämpfen. Viele Beobachterinnen und Beobachter sagen zudem, die Vorhersage der Inflationsrate in einer derart instabilen Situation, wie sie gegenwärtig in der gesamten Welt vorherrscht, komme Wahrsagerei gleich. Sie vermuten jedoch auch, dass die Preise in Polen noch weiter steigen werden, und dass auch das nächste Jahr höchstwahrscheinlich nicht die lang ersehnte Erleichterung bringen wird.
Barbara Szelewa, FES Warschau
Nepal
Ohne eigenen Zugang zum Meer, umgeben von den beiden asiatischen Giganten China und Indien, und angesichts einer in nahezu allen Bereichen von Importen abhängigen Wirtschaft ist Nepal anfällig für externe Schocks. Die meisten Rohstoffe für die ohnehin begrenzte lokale Produktion werden eingeführt und selbst ein erheblicher Teil des Lebensmittelbedarfs wird durch Importe gedeckt – überwiegend aus Indien. Finanziert werden diese Importe dabei weitgehend durch Rücküberweisungen von nepalesischen Arbeitsmigranten, die in den Golfstaaten und anderen asiatischen Ländern wie Malaysia tätig sind und die insgesamt etwa 25 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung ausmachen.
Extreme Preisschwankungen sind nicht unüblich: Läuft die Zwiebelernte in Indien schlecht, können sich die Preise in Nepal schnell vervielfachen. Die langen (und häufig beschwerlichen) Transportwege haben auch zur Folge, dass die Preisentwicklung im Land im besonderen Maße von den Kraftstoffpreisen abhängig ist. Benzin und Diesel sowie Propangas, das insbesondere zum Kochen genutzt wird, werden nahezu komplett aus Indien eingeführt und die Preisentwicklung der letzten Monate hat Nepal hart getroffen. Der Dieselpreis etwa stieg von weniger als 120 Rupien (etwa 90 Eurocent) pro Liter Anfang des Jahres auf mehr als 190 Rupien (circa 1,50 Euro) Ende Juni. Zwischenzeitlich kam es zu Panikkäufen und Engpässen, die zu langen Schlangen an den wenigen geöffneten Tankstellen führten.
Die nepalesische Regierung reagierte zwischenzeitlich mit einer Verkürzung der Arbeitswoche für Angestellte im öffentlichen Dienst von sechs Tagen auf eine Fünftagewoche, um den Benzinverbrauch zu senken. Zudem wurde eine Mehrwertsteuersenkung auf Kraftstoffe beschlossen, obwohl damit erhebliche Verluste für die Staatskasse verbunden sind.
In Nepal, einem der ärmsten Länder Asiens, stellen derartige Verteuerungen von teilweise mehr als 50 Prozent viele Haushalte vor schier unlösbare Probleme. Auch der Staat hat nur einen sehr begrenzten Spielraum für teure Unterstützungsmaßnahmen, um die Auswirkungen der steigenden Energiekosten einzugrenzen. Gleichzeitig stehen im November Parlamentswahlen an und die steigenden Preise sind das bestimmende öffentliche Thema. So stiegen die Preise für Speiseöl und Ghee (die südasiatische Butter) nach offiziellen Angaben um 25 Prozent, die Preise für Obst, Gemüse und Milchprodukte um 10 bis 15 Prozent. Die Realität in den lokalen Märkten offenbart oft noch weitaus größere Preissprünge.
Viele Beobachter stellten die Frage, ob Nepal ein ökonomischer Kollaps wie Sri Lanka bevorstehe.
Offiziell wird die Inflationsrate auf etwa 8 Prozent beziffert, gefühlt liegt sie für die allermeisten um ein Vielfaches höher. Die staatlichen Maßnahmen konzentrierten sich bislang vor allem auf die Kontrolle der Kraftstoffpreise. Aber auch die Gehälter für die meisten öffentlichen Angestellten wurden um satte 15 Prozent angehoben. Darüber hinaus gilt die Sorge insbesondere dem ohnehin schon großen und weiterwachsenden Handelsdefizit, das wiederum durch die steigenden Ölpreise getrieben ist. Kraftstoff- und Gasimporte machen etwa 20 Prozent der Gesamtimporte aus. Im Verlauf der vergangenen Monate mehrten sich so die Stimmen derer, die eine ökonomische Krise heraufziehen sahen. Viele Beobachter stellten die Frage, ob Nepal ein ökonomischer Kollaps wie Sri Lanka bevorstehe. Die Währungsreserven schrumpften beständig und decken aktuell noch den Zahlungsbedarf von sechs bis sieben Monaten.
Als Reaktion beschloss die nepalesische Regierung im April einen Importstopp für zehn Waren, darunter Kartoffelchips, alkoholische Getränke, Zigaretten, Mobiltelefone im Wert von über 600 US-Dollar, Fernseher mit einer Bildschirmdiagonale über 32 Zoll, Spielzeuge, Motorräder mit einem Hubraum von mehr als 250 Kubikzentimetern und Autos – außer Kranken- und Leichenwagen. Bislang ist es der Regierung mit diesen und anderen Maßnahmen gelungen, die Entwicklung zu verlangsamen und die Währungsreserven zumindest zu stabilisieren.
Was die Kraftstoffpreise angeht, scheint aktuell das Schlimmste überstanden – zuletzt fiel der Einkaufspreis, zu dem die staatliche Nepal Oil Corporation die Importe aus Indien bezieht. Der Preis für Diesel und Benzin hat wieder um etwa 10 Prozent nachgegeben und das, obwohl die jüngsten Preisnachlässe noch nicht an die Endkunden weitergegeben wurden. Ein Grund hierfür: Die steigenden Ölimporte, die Indien aus Russland bezieht.
Trotz vieler Parallelen, zentrale ökonomische Kennwerte wie die Auslandsverschuldung sind im Vergleich zu Sri Lanka bislang noch nicht allzu besorgniserregend. Aber das Blatt kann sich auch schnell wenden. Denn auch in Nepal – eine weitere Parallele zu Sri Lanka – ist es nicht gelungen, den Bedarf an Kunstdünger für die monsunabhängige Landwirtschaft zu decken. Bis zu 90 Prozent der Bauern konnten keinen Kunstdünger beziehen.
Es bleibt zu hoffen, dass die Monsunsaison den nepalesischen Bauern auch ohne ausreichend Dünger eine gute Ernte bescheren wird. Denn insgesamt steht Nepals Ökonomie – auch in Folge der Nachwirkungen der Coronapandemie – nicht auf den stabilsten Füßen und der andauernde Krisenmodus geht zunehmend an die Substanz. Immerhin: Durch die steigenden Gaspreise hat eine Diskussion über Alternativen zu den Rohstoffimporten begonnen. Eine stärkere Nutzung der im Land zunehmend durch Wasserkraft produzierten Elektrizität könnte Abhilfe schaffen. Allerdings würde dies auch erhebliche Investitionen voraussetzen, für die erst einmal Spielraum entstehen müsste.
Jonathan Menge, FES Nepal
Ghana
Vor wenigen Wochen kursierte in den Sozialen Medien Ghanas ein Video, das einen jungen Mann zeigt, der nach dem Betanken seines Motorrads die Zapfpistole aus der Hand des Tankwarts nimmt, den Zeigefinger in die Öffnung steckt und gekonnt die letzten Tropfen des kaum noch erschwinglichen Sprits in seinen Tank befördert. Anschließend schmeißt er sein Motorrad wieder an und macht sich von dannen. In der Luft bleibt das Gefühl von Anspannung und Ärger. Dieser Moment steht sinnbildlich für die extreme Preissteigerung der letzten Monate und die kontinuierlich wachsende Frustration der Menschen in Ghana.
Obgleich Ghana ein Öl-Exporteur ist, muss es über 80 Prozent der Endprodukte Benzin und Diesel importieren. Die globalen Ölpreise sorgen dafür, dass auch die Preise an den Zapfsäulen in Ghana ansteigen. Noch vor einem Jahr kostete 1 Liter Benzin umgerechnet 90 Eurocent. Seitdem ist der Preis auf fast 1,30 Euro geklettert. Diesel hat sich im gleichen Zeitraum noch mehr verteuert. Die Konsequenzen spürt man mittlerweile in allen Bereichen der ghanaischen Wirtschaft.
Im Juli lag die Inflation in Ghana offiziellen Statistiken zufolge bei 31,7 Prozent – der höchste Wert seit über 20 Jahren. Hierunter leiden insbesondere die Menschen, die in informellen und meist prekären Jobs der größten Städte des Landes beschäftigt sind. Aber auch die Mittelklasse beschwert sich zunehmend öffentlich. Bei einem Mindestlohn von derzeit umgerechnet 1,40 Euro am Tag und zunehmend steigenden Preisen für Transport und Lebensmittel bewegen sich viele Menschen trotz Arbeit unterhalb der Armutsgrenze. Eine beträchtliche Anzahl dieser working poor kann sich nur noch eine richtige Mahlzeit am Tag leisten. Für viele war die wirtschaftliche Situation seit der Gründung der „Vierten Republik“ im Jahr 1992 noch nie so schwierig gewesen.
Einige Zahlen verdeutlichen diese Erfahrung. Hatte ein Laib Brot im April noch um die 70 Cent gekostet, so ist der Preis mittlerweile auf über 1 Euro oder mehr angestiegen. Das beliebte Maisgericht Kenkey, das in Ghana zu den Grundnahrungsmitteln zählt, kostete auf der Straße noch im letzten Jahr um die 20 Cent pro Standardportionsgröße. Mittlerweile ist der Preis dafür um über 50 Prozent gestiegen. Manche Straßenverkäufer reduzieren die Portionsgröße, um nicht durch höhere Preise die Kunden zu verprellen. Teurer gewordenes Düngemittel sorgt dafür, dass Preise auf Obst und Gemüse ebenfalls kontinuierlich steigen. Noch Anfang letzter Woche wurden die Tarife für Strom und Wasser um über 20 Prozent angehoben – weitere Erhöhungen sind geplant.
Manche Ökonomen sagen ganz unverhohlen, dass Ghana bankrott sei.
Die liberal-konservative Regierung unter Präsident Nana Akufo-Addo hat kaum Möglichkeiten, diese Preissteigerungen aufzufangen und soziale Programme zu initiieren. Die Staatsschulden sind auf über 85 Prozent des Bruttoinlandsprodukts angewachsen. Über die Hälfte der staatlichen Einnahmen werden für die Bedienung der Schulden aufgewendet. Herunterstufungen durch Ratingagenturen sorgen dafür, dass Ghana kaum noch Zugang zu Geldern auf internationalen Finanzmärkten hat. Die lokale Währung Cedi verliert fast täglich an Wert gegenüber Fremdwährungen, in denen Ghana allerdings mehrheitlich verschuldet ist. Seit Juli führt die Regierung Gespräche mit dem IWF und bemüht sich um ein Unterstützungsprogramm, obwohl sie vorher versprochen hatte, niemals ein solches in Anspruch nehmen zu wollen. Manche Ökonomen sagen ganz unverhohlen, dass Ghana bankrott sei.
Für die Regierung Ghanas sind die Schuldigen an der Misere schnell ausgemacht: Die Pandemie und der Krieg in der Ukraine sind die Ultimativbegründungen für die sich verschlechternde Situation. Andere sagen, dass es sich bei dieser Analyse nicht mehr nur um Realitätsferne der Eliten handele, sondern um regelrechte Gleichgültigkeit gegenüber der Verarmung der eigenen Bevölkerung. Massives Missmanagement der letzten Jahre wird ignoriert, ebenso das Versagen, genügend Steuergelder während der starken Wachstumsjahre eingenommen zu haben, um die Wirtschaft von Grund auf zu reformieren. Wahlgeschenke, die im Jahr 2020 noch großzügig – als Corona-Hilfen verkleidet – verteilt wurden (unter anderem kostenloser Strom und Wasser für drei Monate), scheinen aus heutiger Sicht gesehen noch mehr als Verschwendung, als sie bereits vor zwei Jahren gewirkt haben.
Die nächsten Monate werden kritisch sein. Schafft es die Regierung erneut, ein IWF-Programm zu sichern, um bei internationalen Finanzgebern ein höheres Standing (und hierdurch weitere Mittel) zu bekommen? Wird das Land zunächst mit den Gläubigern über Umstrukturierung von Schulden sprechen müssen, was mittelfristig allerdings seiner Reputation schaden könnte? Wird es die Regierung der Bevölkerung gegenüber vermitteln können, dass ein IWF-Programm mit größeren Sparzwängen, gegebenenfalls mit Entlassungen im aufgeblähten öffentlichen Sektor, verbunden sein wird? Die Wahrscheinlichkeit, dass weitere Bürden und Entbehrungen dazu führen werden, dass die Frustration steigt und sich auf den Straßen breitmachen könnte, nimmt mit jedem Tag zu.
Was jetzt nötig wäre, ist eine koordinierte Initiative zur Restrukturierung der Schulden. Unter Einbeziehung aller Gläubiger und unter besonderer Berücksichtigung der sozialen Dimension müssen Wege zur Schuldenerleichterung identifiziert werden, die nicht auf Kosten der Bevölkerung stattfinden darf – wie dies häufig in der Vergangenheit der Fall war. Vielmehr muss dafür gesorgt werden, und dies kann eine der Bedingungen des Programms zur Schuldenerleichterung sein, dass die Regierung ihrer Aufgabe nachkommt und sichtbare Erfolge dabei vorweisen kann, verantwortlich und transparent zu wirtschaften sowie den strukturellen und nachhaltigen Umbau der Wirtschaft voranzutreiben.
Johann Ivanov, FES Ghana