PORTUGAL
Alle lieben Portugal: die Touristen, die durch die engen Gassen von Porto schlendern; die digitalen Nomaden, die sich in Lissabon mit ihrem internationalen Gehalt eine eigene Wohnung leisten können; die ausländischen Firmen, die Abteilungen nach Portugal verlagern, weil sie dort auf niedrige Löhne und gut ausgebildete junge Menschen treffen.
Diese internationale Beliebtheit Portugals lässt insbesondere den Druck auf die Lebenshaltungskosten, allen voran auf die städtischen Wohnungsmärkte, steigen. In Lissabon muss man für seine Bleibe im Vergleich zu 2012 rund 70 Prozent mehr zahlen. 1 300 Euro für 60 Quadratmeter sind längst keine Seltenheit mehr. Und für die „bica“, den beliebten portugiesischen Espresso, den es vor wenigen Jahren nahezu an jeder Straßenecke für 60 Cent gab, zahlt man in den Stadtzentren schon gerne mal 2,50 Euro. Zugegeben: Der Mindestlohn, den jeder vierte Portugiese bezieht, ist seit dem Amtsantritt des sozialistischen Premierministers António Costa von monatlich 450 Euro im Jahr 2015 auf 705 Euro im Jahr 2022 ebenfalls gestiegen. Sind es die Portugiesinnen und Portugiesen also nicht längst gewohnt, dass Löhne steigen und der Alltag teurer wird?
Die zunehmende Abkopplung der Preis- von den Lohnsteigerungen wird eine Herausforderung für Costas Regierung bleiben.
Nein. Denn derzeit verteuern sich neben dem eher fakultativen Kaffee am Bartresen auch essenzielle Produkte, wie zum Beispiel Wasser und Brot, Strom und Gas. Die Inflation lag im August bei 9 Prozent. Der Verlust der Kaufkraft war trotz kontinuierlicher Lohnsteigerungen seit der Einführung des Euros noch nie so hoch.
Am vergangenen Montag hat Costa daher ein weiteres Entlastungspaket in Höhe von 2,4 Milliarden Euro angekündigt. Frei nach dem Motto Familias primeiro – Familien zuerst – wird es ab Oktober verschiedene Einmalzahlungen geben: 125 Euro für Personen mit bis zu 2 700 Euro Bruttomonatsgehalt, 50 Euro pro Kind, 50 Prozent Rentenbonus. Die für 2023 gesetzlich vorgeschriebene Rentenerhöhung in Höhe von circa 4 Prozent soll bereits ab Oktober greifen.
Zudem plant die Regierung steuerliche Entlastungen und Preisbremsen: Die Mieten dürfen im nächsten Jahr beispielsweise um nur 2 Prozent steigen; die Spritsteuer bleibt bis Ende dieses Jahres reduziert; und die auf den Stromverbrauch erhobene Mehrwertsteuer wird bis Ende 2023 von 13 auf 6 Prozent gesenkt.
Der Blick auf die Strompreisentwicklung in Portugal lohnt sich an dieser Stelle ganz besonders. Da der Strompreis an die iberische Strompreisbörse gekoppelt ist, werden Preissteigerungen sehr zeitnah an den Endverbraucher weitergegeben. Deshalb begann die Regierung bereits im Mai damit, den Gaspreis für die Stromerzeugung auf 50 Euro pro Kilowattstunde zu deckeln. Dank der staatlichen Preisdeckelung und einem hohen Anteil an regenerativen Energien – mit 80 Prozent belegt Portugal Platz 1 in der EU! – steigt die Stromrechnung im liberalisierten Tarif daher „nur“ um 30 Prozent. Mehr noch: Ein Teil der Mehreinnahmen, die Unternehmen auf dem liberalisierten Markt aufgrund des hohen Anteils an günstigen regenerativen Energien einfahren, werden in einen staatlich regulierten Energiemarkt umgeleitet, auf dem die Energiepreise folglich kaum steigen. Ab Oktober sollen Verbraucherinnen und Verbraucher in diesen staatlichen Tarif wechseln dürfen.
Umweltminister Duarte Cordeiro sieht Portugal hier in einer „Vorreiterrolle“. Europa müsse lernen, nicht nur Geschäfte mit den osteuropäischen Ländern zu machen, die sich auf fossile Rohstoffe konzentrieren, sondern nach Südeuropa zu schauen, wo grüne Energie bereits heute zu wettbewerbsfähigen Preisen hergestellt wird.
Das Leben in Portugal muss auch für Menschen mit portugiesischen Gehältern bezahlbar bleiben.
António Costa wollte mit der Vorstellung des Entlastungspakets Ende August deutlich machen: Sozialpolitische Maßnahmen stehen im Vordergrund seines Regierungshandelns. Ein weiteres Entlastungspaket für die Wirtschaft will die portugiesische Regierung Mitte September vorstellen. Es ist zu erwarten, dass die staatliche Unterstützung energieintensiver Unternehmen, die bereits im April eingeführt wurde, ausgebaut wird. Dass die portugiesische Wirtschaft in diesem Jahr um voraussichtlich 6,4 Prozent wachsen soll – auch hier Platz 1 in der EU! – zeigt, dass Wirtschafts- und Sozialpolitik nicht im Widerspruch stehen.
Die zunehmende Abkopplung der Preis- von den Lohnsteigerungen wird allerdings noch eine Herausforderung für Costas Regierung bleiben. Das Leben in Portugal muss auch für Menschen mit portugiesischen Gehältern bezahlbar bleiben. Und das gilt natürlich auch für die „bica“, den portugiesischen Espresso.
Fabian Schmiedel, FES Portugal
Venezuela
Venezuela hat nicht nur die größten Erdölreserven der Welt, sondern auch die achtgrößten Gasreserven. Das insbesondere bei der Erdölförderung austretende Gas wird allerdings größtenteils abgefackelt. Daneben steht Wasserkraft für die Energiegewinnung zur Verfügung und das Land hat ein enormes Potenzial für Biogas, Sonnen- und Windenergie. Experten zufolge könnte Venezuela ohne Erdöl das Dreifache seines eigenen Bedarfs an Energie produzieren und exportieren.
Und dennoch ist Gas knapp in vielen Regionen des Landes und seit den großen Stromausfällen im März und Juni 2019, als das gesamte Land mehrere Tage ohne Strom war, muss ein Großteil der Haushalte häufig mehrere Stunden täglich ohne Strom auskommen – übrigens auch ohne Wasser. Nur eine kleine Schicht Wohlhabender besitzt Generatoren und eigene Brunnen. Bis vor wenigen Monaten war auch Benzin rar und musste aus dem Iran importiert werden.
Die Bevölkerung leidet also nicht an hohen Energiepreisen – diese werden in Venezuela traditionell hoch subventioniert –, sondern seit mehreren Jahren am Ausfall der Versorgung. Das beeinträchtigt auch die Projekte der Regierung, mit denen sie die darniederliegende Wirtschaft des Landes ankurbeln will. In Sonderwirtschaftszonen nach chinesischem Vorbild soll mit Hilfe von privaten Investoren aus dem Ausland die industrielle Produktion des Landes erhöht werden.
Aber wie soll das gehen ohne Strom? Venezuela hatte sich jahrzehntelang auf seine Einnahmen aus dem Erdölsektor verlassen und fast alle Güter des täglichen Lebens importiert. Nur durch eine Erhöhung der Produktivität lässt sich auch die Hyperinflation der letzten Jahre von zeitweise nach offiziellen Angaben über 130 000 Prozent nachhaltig eindämmen. Venezuelas bescheidener wirtschaftlicher Aufschwung und das Ende der Lebensmittelknappheit seit 2019 verdanken sich im Wesentlichen der Liberalisierung der Wechselkurse und der damit einhergehenden informellen „Dollarisierung“ der venezolanischen Wirtschaft.
Ursache für das Desaster in der Energieversorgung ist der traurige Zustand der öffentlichen Infrastruktur, die früher einmal vorbildlich in Lateinamerika war. Jahrzehntelang wurde hier nichts mehr investiert – Ölförderanlagen, Raffinerien, Gas-, Strom- und Wasserleitungen rotten vor sich hin und werden nur notdürftig repariert. Die autoritäre Regierung unter Präsident Nicolas Maduro hat das Problem inzwischen erkannt. Vor wenigen Tagen hat sie einen Vertrag mit Siemens Energy zur Reparatur des Stromnetzes abgeschlossen. 2024 möchte Maduro wiedergewählt werden, und dafür wären Verbesserungen bei der Energie- und Wasserversorgung der Bevölkerung hilfreich.
Nur eine kleine Schicht Wohlhabender besitzt Generatoren und eigene Brunnen.
Um jedoch das riesige Energiepotenzial des Landes – auch jenseits fossiler Brennstoffe – zu erschließen, sind erhebliche Finanzmittel erforderlich. Das geht nicht ohne die Unterstützung internationaler Finanzinstitutionen und Kreditgeber. Dem stehen die strengen internationalen Wirtschafts- und Finanzsanktionen entgegen, die insbesondere die USA aufgrund der problematischen Menschenrechtslage und der unfairen Bedingungen bei den Wahlen der vergangenen Jahre gegen Venezuela verhängt haben.
Die internationale Gemeinschaft hat die Wahl von Maduro 2018 zum Präsidenten des Landes nicht anerkannt und seitdem auf eine Politik gesetzt, die den Sturz der Regierung zum Ziel hat. Dieser ist aber bisher nicht eingetreten und es gibt – auch wegen einer notorisch schwachen politischen Opposition – keine Anzeichen dafür, dass sich das in nächster Zeit ändern wird. Venezuelas Verbündete in der Welt sind Russland, China, der Iran und die Türkei. Das Land unterstützt deshalb auch uneingeschränkt die Position Russlands im Krieg mit der Ukraine.
Vor dem Hintergrund dieses Krieges und der Energiekrise in Europa stellt sich die Frage, ob es sich Deutschland und die Europäische Union leisten können, diesen Zustand so hinzunehmen, oder ob nicht der Moment gekommen ist, dem Land und der Region Lateinamerika insgesamt mehr Aufmerksamkeit zu schenken als bisher. Die Menschenrechtslage in Venezuela ist auch nicht schlechter als die in Katar, wo demnächst unter in mehrfacher Hinsicht fragwürdigen Bedingungen Fußballweltmeisterschaften stattfinden sollen und mit dem Deutschland über Gaslieferungen verhandelt.
Die venezolanische Regierung ist zu Verhandlungen bereit und es hat auch schon mehrere Gesprächsrunden mit der Opposition gegeben. Mit den USA gibt es inzwischen ebenfalls direkte Gesprächskontakte auf hoher Regierungsebene. Die EU hat mit einer Wahlbeobachtungsmission die Regionalwahlen im November 2021 begleitet. Diese so entstandenen Chancen und Verbindungen sollten genutzt werden mit dem Ziel, die Energieversorgung der venezolanischen Bevölkerung zu verbessern und das Potenzial des Landes auch jenseits der fossilen Energieträger zu erschließen. Ohne Zugeständnisse der venezolanischen Regierung im Hinblick auf die Verbesserung der Menschenrechtssituation und ohne die Stärkung der Rechtsstaatlichkeit im Land – auch damit mehr Rechtssicherheit für die von der Regierung gesuchten Investoren besteht – wird dies allerdings nicht möglich sein.
Katharina Wegner, FES Venezuela
Mexiko
Ende August enden in Mexiko die Ferien und wie für jedes neue Schuljahr müssen Materialien und Uniformen gekauft werden. Die Ausgaben hierfür sind stets bedeutend für die Familienkasse, aber diesmal schockierten sie viele Eltern: Laut Statistikamt lagen die Preise 30 Prozent über dem Vorjahr. Seit 1979 war es zu keinem vergleichbaren Preisschub gekommen, die Ausgaben pro Kind liegen nun im Schnitt bei rund der Hälfte eines Mindestlohnes.
Etwa ein Drittel der arbeitenden Bevölkerung verdient aber nur bis zu einem Mindestlohn, fast ein weiteres Drittel bis zu zwei Mindestlöhnen. Der durch die Pandemie stark gestiegene Anteil der Bevölkerung, deren Einkommen unter den Kosten eines Nahrungsmittelkorbs für eine Familie liegt, konnte von 46 Prozent (2020) auf 38 Prozent reduziert werden. Die Preissteigerungen konsumieren aber zunehmend einen bedeutenden Teil der höchsten bislang registrierten Zuwächse. Gleichzeitig ist das Wirtschaftswachstum seit Jahren zu gering. Erst für 2024 wird damit gerechnet, dass der Stand von vor der Pandemie wieder erreicht werden wird.
Seit mehr als zwei Dekaden sind die Preise nicht so stark gestiegen, wie in den letzten Monaten. Im August lag die Inflation gegenüber dem Vorjahr bei 8,6 Prozent. Die Preistreiber sind Transport, Gas und Elektrizität, vor allem aber Lebensmittel und Getränke, deren Preise bis Juli um durchschnittlich 14,5 Prozent gestiegen sind. Betroffen sind vor allem Geringverdiener und Arme, die Lebensmittel substituieren beziehungsweise ihren Konsum einschränken müssen.
Als einer der Hauptgründe für die Steigerung der Lebensmittelpreise gilt der Krieg Russlands gegen die Ukraine und die Unterbrechung von Lieferketten. Die Kosten für Transport und Düngemittel haben sich erhöht. Aber auch Spekulation hat ihren Anteil. Hinzu kommt aber, dass Mexiko zwar große Mengen an Lebensmitteln exportiert, aber kein Selbstversorger ist. 45 Prozent des Konsums, vor allem Getreide und Fleisch werden importiert, hierunter ein Drittel des Mais, Grundlage der allgegenwärtigen Tortilla.
Gesetzt wurde auf den freien Handel und in der Folge auf den Import billigerer Lebensmittel aus den USA. Kleine und mittlere mexikanische Produzenten wurden so vom Markt gedrängt, die mexikanische Agroindustrie ihrerseits begann zu blühen. Heute ist Mexiko der siebtgrößte Agrarexporteur und der weltgrößte Exporteur von Bier, Tomaten und Avocados, die vor allem von Kleinproduzenten angebaut werden. 70 Prozent des Bruttoinlandsprodukts werden durch den Außenhandel erwirtschaftet, 80 Prozent hiervon mit den USA. Mexiko ist zwar Erdölproduzent, importiert aber einen bedeutenden Teil seines konsumierten Benzins und Diesels.
Die mexikanische Regierung hat reagiert. Die Zentralbank hat, wie auch generell vom IWF empfohlen, in mehreren Schritten den Leitzins auf 8,5 Prozent erhöht, der höchste Stand der letzten 16 Jahre. Im Mai wurde zudem ein Katalog aus 16 Maßnahmen von der Regierung vorgestellt. Die Preise des Korbs an Grundnahrungsmitteln sollen in den nächsten sechs Monaten nicht erhöht werden, so wurde es zumindest mit dem Privatsektor verhandelt. Der Multi-Milliardär Carlos Slim kündigte an, dass die Telefon- und Internetpreise seiner Firmen Telcel und Telmex bis zum Jahresende nicht steigen werden. Der Backkonzern Bimbo und die Supermarktkette Walmart folgten mit ähnlichen Maßnahmen.
Seit mehr als zwei Dekaden sind die Preise nicht so stark gestiegen, wie in den letzten Monaten.
Gleichzeitig wurden die Zölle auf den Import von Lebensmitteln des Grundnahrungskorbs für ein Jahr ausgesetzt, so wie auch die auf Vorprodukte für Backwaren, auf Gemüse, Früchte und lebende Tiere. Das staatliche Sozialprogramm Sembrando Vida, mit dem Kleinproduzenten gefördert werden, Fruchtbäume anzupflanzen, soll auf die Produktion von Mais, Reis und Weizen umgestellt werden, um die Selbstversorgung des Landes zu steigern. Seit Juni wird der Sprit subventioniert und die Preise für Gas und Elektrizität sowie für die Straßenmaut wurden eingefroren.
Welche Effekte die Ausgaben von fast 29 Milliarden Euro, etwa 2,25 Prozent des BIPs, und hiervon 21,5 Milliarden für die Subventionierung der Spritpreise, zur Abbremsung der Inflation haben werden, ist schwer zu sagen. Natürlich fehlte es, ausgerechnet gegenüber einer Regierung, die im vierten Jahre eine strikte Austeritätspolitik betreibt, nicht an orthodoxer Kritik, die vor erhöhten Staatsausgaben warnt. Die Regierung hingegen glaubt, dass die Preissteigerung deutlich abgebremst worden sei und unter der der USA liege. Ohne ihre Maßnahmen läge die Inflation heute bei über 10 Prozent, der Konsum wäre noch stärker eingebrochen und das durchschnittliche Einkommen hätte sich um 12 Prozent verringert. Andererseits konnten nach Erhebungen bisher nur die Preise von 9 der 24 Produkte des Grundnahrungsmittelkorbs stabilisiert werden.
So stark die Inflation die Bevölkerung und vor allem die arme Bevölkerung auch betrifft, sie ist nicht das einzige Problem. An erster Stelle stehen vielmehr das organisierte Verbrechen und die tagtägliche Gewalt. Letztes Jahr wurden laut offiziellen Zahlen 35 625 Menschen ermordet, 100 000 Menschen sind verschwunden. Es geht aber nicht nur um Drogenhandel. Das organisierte Verbrechen hat sich diversifiziert. Immer feinere Kanäle der Erpressung und Erhebung von Abgaben sind ebenso für die Preissteigerungen verantwortlich wie der Krieg in der Ukraine.
Die Kartelle verdienen überall mit: an den Agrarproduzenten, dem Transport und auf den Märkten, an den kleinen und mittleren Manufakturen, an Handwerkern und Händlern, an den Kiosken und sogar an den Straßenverkäufern sowie natürlich am Verkauf von Wasser und Gas. Die „lokale Governance des Verbrechens“ hat laut Wissenschaftlern Auswirkungen auf die Preise alltäglicher Güter. Die kriminellen Kartelle bestimmen zunehmend auf Mikroebene die Produktion, die Verteilung, den Verkauf sowie den Umfang von Ernten und die Herstellung von Gütern. „Der Bürger finanziert als Konsument diese kriminellen Netzwerke“ der alltäglichen Erpressung, so Laura Atuesta, Wissenschaftlerin im Forschungsinstitut CIDE.
Yesko Quiroga, FES Mexiko