Die Welt steckt inmitten der schlimmsten Ernährungskrise der jüngsten Geschichte. Eine Gemengelage aus geopolitischer, wirtschaftlicher und Klimakrise heizt die weltweite Lebensmittelknappheit an. Unvorstellbare 326 Millionen Menschen in Dutzenden Ländern sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. 222 Millionen sind von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen und bis zu 50 Millionen sind vom Hungertod bedroht. Der weltweite Anstieg der Lebensmittelpreise infolge des Krieges in der Ukraine trifft die ärmsten Länder besonders hart. Wenn zu Konflikt und unterbrochenen Lieferketten nun noch die drohende Klimakatastrophe hinzukommt, muss der humanitäre Sektor mit einem proaktiven und stärker vorausschauenden Ansatz gegen die zunehmende Hungerkrise ankämpfen.

Bis vor relativ kurzer Zeit hatten humanitäre Organisationen den Klimawandel noch kaum auf dem Schirm. Seit wetterbedingte humanitäre Katastrophen immer häufiger werden, hat der Sektor jedoch verstanden, dass die Klimakrise für Länder mit niedrigem Einkommen und das globale Nahrungsmittelsystem eine enorme Bedrohung darstellt. Die tödlichen Überschwemmungen und Hitzewellen, unter denen Europa in den letzten zwei Jahren gelitten hat, haben gezeigt, dass auch Länder, die als relativ sicher gelten, nicht gegen extreme Wetterereignisse immun sind. Noch viel stärker gefährdet sind jedoch die Entwicklungsländer. Im Jahr 2021 wurden 94 Prozent aller Binnenflüchtlinge durch klimabedingte Bedrohungen aus ihrer Heimat vertrieben. Die Überschwemmungen in Pakistan, die letztes Jahr die Welt erschütterten, haben ein Drittel des Landes überflutet, mehr als 1 730 Leben gekostet, 33 Millionen Menschen vertrieben und wirtschaftliche Schäden in einer geschätzten Höhe von 16,3 MilliardenUS-Dollar verursacht.

Der Klimawandel löst in allen Teilen der Welt humanitäre Krisen aus.

Der Klimawandel löst in allen Teilen der Welt humanitäre Krisen aus und die Anzahl der Menschen, die Hilfe benötigen, ist im vergangenen Jahr um 40 Prozent gestiegen. Als Reaktion auf den steigenden Bedarf haben sich die Aufwendungen für humanitäre Hilfen im Jahr 2021 mit 31,3 MilliardenUS-Dollar beinahe verdoppelt. Aber obwohl die Mittel steigen, stehen internationale Organisationen und Nichtregierungsorganisationen heute vor der Herausforderung, den Nutzen dieser Ressourcen zu maximieren und gleichzeitig lokale und nationale Organisationen zu stärken.

Derzeit gehen zwei Drittel aller direkten Spenden für humanitäre Zwecke an Organe der Vereinten Nationen und prominente internationale Organisationen wie das Rote Kreuz und den Roten Halbmond. Diese großen Institutionen spielen zwar eine unverzichtbare Rolle, oft verstehen ortsnahe Initiativen die lokalen Zusammenhänge jedoch besser. Weil das auch die größten Geberländer und Nichtregierungsorganisationen der Welt wissen, haben sie 2016 die Initiative Grand Bargain ins Leben gerufen und sich verpflichtet, 25 Prozent aller humanitären Hilfen lokalen Organisationen zu überlassen. Leider liegt diese Zahl auch heute, sieben Jahre nach dieser Ankündigung, immer noch bei unter zwei Prozent. Und noch immer setzt der Sektor statt auf Aktion meist auf Reaktion. Egal ob in HaitiÄthiopien oder Pakistan, der Ablauf ist immer derselbe: Es gibt eine Krise, eine humanitäre Hilfsaktion beginnt, es wird um Spenden geworben und die Hilfe kommt erst nach vielen Tagen (oder Monaten) an. Wenn wir auf die Klimawissenschaft hören, können wir Risiken künftig vorhersehen und in humanitären Notlagen eingreifen, bevor sie zu Katastrophen werden.

Ein vorausschauender Ansatz bedeutet laut Definition, „Maßnahmen vor einer prognostizierten Gefahr zu ergreifen, um akute humanitäre Auswirken zu verhindern oder abzumildern“. Damit dies gelingen kann, braucht es jedoch Prognoseverfahren und Mechanismen, die dafür sorgen, dass Mittel freigegeben werden, sobald vorab vereinbarte Indikatoren und Schwellenwerte erreicht sind. Wenn wir schneller auf Krisen reagieren, können wir unsere Hilfsangebote effizienter und menschenwürdiger einsetzen. So haben beispielsweise die senegalesische Regierung und Start Network im Jahr 2019 Versicherungspolicen gegen Dürre abgeschlossen. Dank der ausgezahlten Mittel konnten sie später humanitäre Hilfen finanzieren und ihre Maßnahmen zum Schutz bedrohter Regionen koordinieren.

Nicht alle Krisen lassen sich prognostizieren oder modellieren.

Manchmal stößt der vorausschauende Ansatz aber auch an Grenzen. Wie ein aktueller Bericht von Start Network zeigt, lassen sich nicht alle Krisen prognostizieren oder modellieren. Dennoch könnten humanitäre Akteure und Organisationen mit diesem Ansatz früher handeln, ihre Effizienz verbessern und verhindern, dass aus lebensbedrohlichen Krisen ausgewachsene Katastrophen werden.

Das System der globalen humanitären Hilfe muss dringend reformiert werden. Und obwohl in den letzten Jahren bereits gewisse Fortschritte erzielt wurden, ging es dabei meist um leichte Richtungskorrekturen, nicht um radikales Umsteuern. Die Probleme, denen wir gegenüberstehen, sind kompliziert und vielschichtig, und wir dürfen natürlich auch die politische Dimension humanitärer Hilfe nicht außer Acht lassen. Manche glauben, dass der Sektor aus reiner Notwendigkeit oder Verzweiflung gezwungen sein wird, sich zu ändern. Wesentlich vielversprechender wäre es jedoch, viel stärker als bisher auf vorausschauende Aktionen unter der Leitung lokaler Partner zu setzen.

Die Klimakrise bietet die einmalige Chance, den globalen Hilfssektor auf wissenschaftlicher Basis zu reformieren. In unserer datengesteuerten Welt müssen wir nicht mehr warten, bis die Katastrophe da ist. Wenn wir Risiken beobachten und intelligent planen, können wir gefährdeten Menschen frühzeitig helfen und die Welt für alle sicherer machen.

© Project Syndicate