UKIP und die Wähler der Linken
Am 9. Oktober gewann UKIP bei Nachwahlen im südenglischen Clacton-on-Sea dank eines Überläufers von den Konservativen ihr erstes Unterhausmandat. In der Aufregung darüber ging ein zweites Nachwahlergebnis fast unter. Für die Labour Party war diese Wahl aber die wichtigere und das Ergebnis das weitaus unerfreulichere: Labour gelang es nur mit hauchdünnem Vorsprung – 617 Stimmen – einen sicheren Sitz in Nordengland, im tiefsten „labour heartland“ gegen UKIP zu verteidigen. Der Schock, dass die vermeintlich reaktionäre Mittelschichtspartei UKIP selbst in einem solchen Wahlkreis in Schlagnähe von Labour kommen kann, sitzt tief. Völlig überraschend kam dieses Ergebnis allerdings nicht. Bereits bei den Europawahlen und den Lokalwahlen hatte sich abgezeichnet, dass UIKP auch ein Problem für Labour ist. Die Frage nach dem Umgang mit UKIP beschäftigt daher die Labour-nahen Think Tanks immer intensiver.
Der Frage nach dem Ausmaß dieser Bedrohung widmet sich ein neues Papier der Fabian Society, „Revolt on the Left: Labour’s UKIP problem and how it can be overcome“. Die These der Autoren ist eindeutig: „UKIP poses a clear and present danger to Labour’s 2015 hopes and, left unchecked, could threaten to pull apart the party’s historical electoral coalition“. In 59 Wahlkreisen droht der Aufstieg UKIPs die Siegesaussichten von Labour zu untergraben. Auf der Basis sozioökonomischer und soziokultureller Daten werden fünf Gruppen von Labour-Wählern identifiziert, die sich von UKIP angezogen fühlen. Nur für zwei davon ist Immigration das entscheidende Thema. Alle dagegen fühlen sich von der Politik allein und von Labour im Stich gelassen.
Die Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen kommt daher nicht der offiziellen Oppositionspartei Labour zu Gute, sondern der sich als „Systemalternative“ präsentierenden UKIP. Allerdings ist das Ausmaß dieser Abwanderung begrenzt. Über die Hälfte der potentiellen Abwanderer wären, so die Autoren, grundsätzlich für Labour zurückholbar, vorausgesetzt, Politikangebot, Botschaften und Organisationsanstrengungen vor Ort stimmten. Der Kern dieses Angebots müsse in der Sozialpolitik und einem konstruktiven Umgang mit dem berechtigten Teil der Sorgen der UKIP-Sympathisanten liegen.
Fremd im eigenen Land: Die britische Arbeiterklasse
Tiefer in das Wertesystem der enttäuschten Labour-Stammwählerschaft dringt ein aktuelles Papier des IPPR ein. In „Alien Nation? New perspectives on the White Working Class and Disengagement in Britain“ wird das Porträt der „weißen“ Arbeitermilieus Großbritanniens und ihrer Sicht auf Politik und Gesellschaftssystem gezeichnet. Interessanterweise sind die Unterschiede in der Wahrnehmung zwischen dieser Gruppe und Mittelschichts-Briten gar nicht so groß: Sie einigt das Gefühl, dass sich die Lebensverhältnisse individuell wie kollektiv verschlechtert haben, das politische System sich nicht für sie interessiert, das Bildungssystem ihnen nicht dient und es zu viele Einwanderer gibt. Die Unterschiede, gerade in Hinblick auf die letzte Frage, sind zwischen den Generationen größer als zwischen den sozialen Milieus: Jüngere Briten haben einen positiveren Blick auf Einwanderung als ältere Menschen. Allerdings sind in Arbeitermilieus die Urteile pessimistischer und die Entfremdung vom politischen System ausgeprägter. 86 Prozent erklären, dass Politiker Leute wie sie nicht verstehen würden. Es ist diese schleichende Entfremdung, gekoppelt mit der Verdrängung von Arbeitern aus dem politischen System (die o.g. Fabian-Studie verweist darauf, dass 1979 noch 90 Unterhausabgeordnete aus dem Arbeitermilieu stammten, heute aber nur noch 20), die die „Versuchung“ durch UKIP wachsen lässt.
Labour ist zwar weiterhin die klar dominierende Partei unter der „white working class“, deutlich vor den Konservativen und weit vor UKIP. Aber immerhin die Hälfte der Stimmen für UKIP kommen von Arbeitern – ein Anteil, der höher ist als bei jeder anderen Partei, einschließlich Labours. Dies ähnelt der Entwicklung in Frankreich, wo der Front National zur „Partei der kleinen Leute“ zu werden droht. Damit dies nicht passiert, so die Autoren, ist ein Kultur-, Kommunikations- und Politikwandel auf Seiten Labours notwendig. Die Partei muss endlich anerkennen, dass „…people’s need for security, cultural identity and social connections are not just deeply-held human desires but valid and reasonable aspirations“.
Die Realitäten einer Klassengesellschaft
Woher die Gefühle der Verdrängung und des Ausgeschlossenseins kommen, illustriert auch eine gut aufbereitete Studie der staatlichen „Commission on Social Mobility and Child Poverty“. In „Elitist Britain?“ wird analysiert, aus welchen Bildungseinrichtungen und Sozialmilieus sich die Funktions- und Geldelite des Landes rekrutiert. Das Bild ist aus demokratischer Sicht erschütternd: Die Dominanz von Privatschülern und „Oxbridge“-Absolventen gerade auch im politischen, administrativen und juristischen System des Landes ist überwältigend. Absolventen der extrem teuren britischen Privatschulen stellen zwar nur 7 Prozent der Schulabsolventen eines Jahrganges, aber 71 Prozent der höheren Richter, 62 Prozent der Stabsoffiziere, 55 Prozent der verbeamteten Staatssekretäre, 53 Prozent der Diplomaten, 50 Prozent der Mitglieder des Oberhauses, 36 Prozent der Minister und 33 Prozent der Abgeordneten des Unterhauses. Diese Dominanz ist ähnlich in den Medien und der Kulturindustrie: 44 Prozent der hundert bestverdienenden Künstler in den „creative industries“ haben Privatschulen absolviert. In den Führungsinstitutionen des Landes reproduzieren sich quer durch alle Institutionen die Wertvorstellungen und kulturellen Muster einer kleinen Elite, deren Lebenswirklichkeit vom ersten Tag an mit dem der Durchschnittsbevölkerung nicht viel zu tun hat. Von einer „repräsentativen“ Demokratie kann in soziologischer Hinsicht nicht im Geringsten die Rede sein.
Es ist die kulturelle und ideologische Kluft zwischen dieser weltanschaulich weitgehend homogen liberalen und universalistischen Elite und den exkludierten Unterschichten, die die Lücke schafft, in die UKIP und ihresgleichen stoßen. Wobei – this is Britain - natürlich auch Nigel Farage, Sohn eines Börsenmaklers, eine exklusive Privatschule besucht hat: Dulwich College, gegründet 1619 und noch einen Tick teurer als Eton.