Linke Muslime in Frankreich

Gilles Finchelstein, Direktor der Fondation Jean Jaurès, widmet sich in seinem interessanten Papier über „Linke Muslime“ (Les Muselmans de Gauche) einem gesellschaftlich und politisch ausgesprochen spannenden Thema.

In einer soziologischen Untersuchung der Bevölkerung der Region Paris zeigte sich eine neue Gruppe: Gesellschaftspolitisch und kulturell sehr konservativ, gleichzeitig aber staats- und umverteilungsorientiert. In dieser „neokonservativen“ Gruppe sind Muslime weit überrepräsentiert. Knapp die Hälfte der muslimischen Bevölkerung des Großraums Paris lässt sich zu dieser Gruppe zählen. Nach sozioökonomischen Kriterien beurteilt, ist diese Gruppe als prekär einzustufen – 92 Prozent der Befragten erklärten, finanziell strukturell in Schwierigkeiten zu sein.

Trotz ihrer konservativen Grundwerte wählt diese Gruppe weit überdurchschnittlich links: bei den Präsidentschaftswahlen 2012 stimmten 72 Prozent für Francois Hollande. Ähnliche Beobachtungen lassen sich für andere westeuropäische Staaten machen: Die konservative, durchaus Erdogan-affine türkische Gemeinde in Deutschland wählte 2013 zu 64 Prozent SPD und zu jeweils 12 Prozent Grüne und Linke. In Großbritannien, so eine aktuelle Studie des christlichen Think Tanks Theos liegt Labour bei Muslimen regelmäßig in Bereichen zwischen 60 und 80 Prozent.

Diese wachsende Bedeutung neokonservativer Milieus mit Migrationshintergrund für linke Parteien ist natürlich nicht frei von Widersprüchen. Im Grunde handelt es sich um eine seltsame Allianz: Eine kulturell besonders konservative Bevölkerungsgruppe wählt Post-68er Parteien, in deren Selbstverständnis eine soziokulturelle Liberalisierungsagenda, Frauen- und Minderheitenrechte und libertäre Grundwerte eine immer wichtigere Rolle spielen. „Dagegen dominieren bei den linken Muslimen“ so Finchelstein „eher konservative, manchmal sogar sehr konservative kulturelle Werte, die diese Gruppe radikal von anderen linken Gruppen unterscheiden.“

Für Finchelstein ist diese Entwicklung durchaus mit einem politischen Risiko verbunden. Die in den vergangen Jahren von liberalen Gruppen in der PS propagierte „Zukunftsallianz“ zwischen linksliberalen Bildungsmittelschichten und „migrantischen“ Wählermilieus (unter Verzicht auf die traditionellen einheimischen Arbeiter und Kleine-Leute-Milieus) hält Finchelstein für falsch. In einem Interview mit dem Nouvel Observateur zur Studie zweifelt Finchelstein daran, dass es politisch dauerhaft möglich sein wird, gesellschaftliche Gruppen zusammen zu halten, die kulturell so unterschiedliche Werte haben. Gleichzeitig bietet der traditionalistische und religiös geprägte Charakter des Wertesystems der „Neokonservativen“ durchaus erhebliche Anknüpfungspunkte für konservative Parteien. Nur ein übergreifendes „republikanisches“ Projekt, das kommunitaristische Grenzen zu überschreiten in der Lage ist, kann diese Gegensätze auf Dauer überwinden.

Die Feuerkraft der Finanzlobby

Ein ausgesprochen interessantes Papier hat die Brüsseler Watch-Dog-Organisation Corporate Europe Observer (CEO) publiziert. „The Fire Power of the Financial Lobby“ beschäftigt sich mit dem Einfluss der Finanzindustrie auf die Brüsseler Institutionen und deren Entscheidungen. CEO ging dabei der Frage nach, welchen finanziellen und personellen Aufwand die Finanzindustrie für Brüsseler Lobbyismus betreibt und wie stark sie die Beratungs- und Konsultationsstrukturen der EU durchdrungen hat.

Die Antworten sind einigermaßen ernüchternd. Die Finanzindustrie gibt im Jahr 120 Millionen Euro für Lobbying in Brüssel aus und beschäftigt dort in über 700 Strukturen mehr als 1700 Lobbyisten. Entsprechend massiv ist ihre Präsenz auch in den offiziellen Beratungsgremien der EU. 15 von 17 untersuchten Expertengruppen wurden von der Finanzlobby dominiert. Als Ergebnis all dieser Bemühungen genießt, so CEO, die Finanzindustrie massiven Einfluss und einen „privilegierten Zugang zu den Entscheidungsträgern“ der EU.

Die Stärke des Einflusses des Finanzsektors zeigt sich gerade auch im Vergleich zu anderen Interessengruppen: „The financial industry…outnumbered civil-society organisations and trade unions by a factor of more than seven, with an even stronger dominance when numbers of staff and lobbying expenses are taken into account. In sum the financial lobby is massively outspending other (public) interests in terms of EU lobbing, by a factor of more than 30“. Eine wichtige Publikation, deren Lektüre man nur empfehlen kann. Man versteht, warum im Zuge der EU-Krisenbekämpfung  die Spekulationsrisiken des Finanzsektors so großzügig auf die europäischen Steuerzahler umgewälzt werden konnten. Die gerade in progressiven politischen Zirkeln gerne gemachte Ansage, die Regulierung der Finanzmärkte sei nur auf europäischer Ebene zu leisten und bedürfe entsprechender Kompetenztransfers nach Brüssel, klingt angesichts dieser Zustände allerdings nicht mehr ganz so überzeugend.

Gestörtes Vertrauen zwischen Politik und Bevölkerung

Die Fabian Society in UK treibt in Back to Earth – Reconnecting People and Politics die Frage um, wie das gestörte Vertrauen zwischen Politik und Bevölkerung wieder hergestellt werden kann. In dem Einführungskapitel werden - ausgehend von Fokusgruppen-Interviews - die Gründe für das sinkende Vertrauen der Bürger in die Politik bestimmt. Der Hauptgrund, so die Befragung, sind die Politiker selbst. Diese werden als desinteressiert, unrepräsentativ und karrieristisch wahrgenommen. Gewünscht werden dagegen „politicians who are more like one of us“, die erst am Ende eines langen öffentlichen Engagements in die Politik gehen, eine verständliche Sprache sprechen und den Leuten zuhören.

Da man sich derartige Politiker nicht schnitzen kann – der Trend geht gerade in den Spitzenpositionen eher zu reinen, früh begonnenen Berufspolitikerkarrieren – kann man wenigstens versuchen, die Art und Weise zu verändern, wie Politik und Politiker agieren. In acht Kapiteln werden Vorschläge für eine bürgernähere und partizipativere Politik gemacht. Denn für die gibt es, so die These, auf Seiten der Bürger sehr wohl Interesse und Begeisterung. Die eigentliche Frage, so der Herausgeber Ed Wallis, ist daher nicht „Why don’t people trust politicians?“ sondern vielmehr „Why don’t politicians trust people?“