Karl Marx ist einer der ganz Großen unserer jüngeren Geschichte. Völlig zu Recht feiern wir daher auch seinen 200. Geburtstag in festlichem Rahmen. Wenn wir die Neuerscheinungen auf den Büchertischen sehen, Jürgen Neffe ist ja nur eine davon, wird schnell klar: Marx ist „in“, und das ist auch gut so, denn sein Werk aktueller denn je, und die Versuche, es in die eine oder andere Richtung weiterzuentwickeln, sind häufig gewinnbringend und erkenntnisreich.
Fast 30 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges können wir über Marx reden ohne direkt einen Stempel aufgedrückt zu bekommen. Wir schauen auf seine Persönlichkeit in Gänze, auf den außerordentlich facettenreichen, auch widersprüchlichen Denker, Publizisten, Wissenschaftler und Politiker Marx. Seine Analysen und Gedanken haben das 20. Jahrhundert wie keine anderen beeinflusst, in Europa und weltweit. Sie haben die Sozialdemokratie inspiriert und uns die Augen geöffnet für einen realistischen Blick auf das Wesen des Kapitalismus.
Karl Marx hat die Sozialdemokratie geprägt, die sich nach den Sozialistengesetzen, und bis zum Godesberger Programm 1959, in erster Linie als marxistische Partei verstand. Geleitet von der Vorstellung, dass es irgendwann zum Zusammenbruch der alten Ordnung kommt, aus dem dann Neues entsteht.
Die mit Marx begründete Gewissheit einer sozialistischen Zukunftsgesellschaft förderte Orientierung, Fortschrittsglauben, Kampfeswillen und Gemeinschaft.
Es gibt eine ganze Reihe von ähnlichen Entwicklungen zwischen der sogenannten ersten industriellen Revolution, die Marx so sehr beschäftigt hat, und der vierten industriellen Revolution, die uns heute beschäftigt.
Natürlich spürten die marxistischen Sozialdemokraten schon früh, dass da eine programmatische Kluft entstand, die schwierig zu schließen war: Auf der einen Seite die große revolutionäre Transformationsperspektive, auf der anderen Seite die auf die Verbesserung der Lebensverhältnisse ausgerichtete konkrete schrittweise Reformpraxis, dem „mühsamen Schneckengang“, wie das einst Grass nannte. Diese Kluft machten dann auch die Auseinandersetzungen in der SPD aus. Das waren spannende Debatten. Sie waren geprägt von Zielen und den richtigen Wegen dahin. Auch wir sollten große Leidenschaft entwickeln, wohin wir unsere Gesellschaft führen wollen.
Heute ist die SPD natürlich längst keine marxistische Weltanschauungspartei mehr, doch in ihrem Begründungspluralismus gehören auf Marx zurückgehende Betrachtungen und Orientierungen nach wie vor zu uns.
Marx ist wieder interessant, wo Sozialstaat, sozialer Aufstieg, Mittelstandsgesellschaft, der Wert der Arbeit nicht mehr selbstverständlich sind. Die Marxsche Dialektik des aufs Neue enthemmten Kapitalismus wirkt: Er entfaltet einerseits ungeheuren technologisch-ökonomischen Fortschritt, den Wohlstand der Moderne. Er unterwirft andererseits die Menschen diesen Verhältnissen, bringt Krisen, Kontrollverlust, Entfremdung, Ausbeutung, Ungleichheit, Machtkonzentration, Naturzerstörung hervor. Marx analysierte die Profitmaximierung als strukturell verankert, durch Deregulierung und Neoliberalismus gerät diese innere Dynamik des Kapitalismus wieder in den Blick.
Seit der Finanzkrise 2008 haben Analysen wieder mit dem zu tun, was bei Marx „fiktives Kapital“ hieß. Das hat damals viele in die Knie gezwungen und die Nachwirkungen spüren wir noch heute. Und Marx‘ Begriff des „Weltmarktes“ bietet Hinweise auf das, was wir heute als Globalisierung erfahren.
Ja, es lohnt sich heute, den digitalen Kapitalismus und Marx genauer in den Blick zu nehmen. Denn es gibt eine ganze Reihe von ähnlichen Entwicklungen zwischen der sogenannten ersten industriellen Revolution, die Marx so sehr beschäftigt hat, und der vierten industriellen Revolution, die uns heute beschäftigt.
Am Anfang der ersten industriellen Revolution stand eine völlig unregulierte, unkoordinierte, manchmal sprunghafte und widersprüchliche Entwicklung: der Frühkapitalismus. Durch eine Kombination aus sozialen, technologischen und ökonomischen Entwicklungen ist diese - wie Marx es nannte – neue Produktionsweise entstanden.
In Wahrheit sind wir aber mitten in diesem Prozess. Als sich diese Produktionsweise durchsetzte, standen auf der einen Seite Goldgräberstimmung, geniale Ideen und exorbitante Gewinne, riesige neue Monopole, eine krasse wirtschaftliche Machtkonzentration und auf der anderen Seite Verelendung, Unsicherheit und entwürdigende Abhängigkeiten. Erst als die Arbeiterinnen und Arbeiter angefangen haben sich zu organisieren und zusammenzuschließen, konnte diese Ausbeutung „des Menschen durch die Menschen“ (Marx) überwunden werden.
Die Abschaffung von Kinderarbeit, der Acht-Stunden-Tag, Mitbestimmung in den Unternehmen und Betrieben, Kündigungsschutz – das alles und vieles mehr hat die Arbeiterbewegung erreicht. Und dabei war sie inspiriert und vor allem auch motiviert von Marx.
Die SPD war dabei – so hat Sascha Lobo das formuliert – die „Technologiebewältigungspartei“, die dazu beigetragen hat, dass aus technologischem Fortschritt auch gesellschaftlicher Fortschritt geworden ist. Heute – und das ist mein Appell – ist das aktueller denn je. Heute erleben wir etwas Ähnliches. Wir sind Zeugen der Digitalisierung und damit auch der Entstehung einer neuen Produktionsweise, oder eines neuen, nämlich des digitalen Kapitalismus.
Der sogenannte Fahrstuhleffekt des westlichen Nachkriegskapitalismus hat sich gewandelt. Jetzt fahren die ohnehin Wohlhabenden und Spitzenverdiener ganz nach oben, während für die Mehrheit der Arbeitnehmer der Blick nicht mehr nach oben, sondern nach unten geht.
Wir stehen am Anfang dieser Entwicklung. Und es ist eine beeindruckende Entwicklung. Die Digitalisierung durchdringt all unsere Arbeits- und Lebensbereiche. Sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse revolutionieren sich – könnte man in Anlehnung an Marx formulieren.
Und ganz ähnlich wie zu Beginn der Industrialisierung gibt es sagenhaften Reichtum, beeindruckende, zum Teil weltumspannende Monopole - Google, Amazon, Facebook, Apple - und eine erhebliche Machtkonzentration. Und auf der anderen Seite erleben wir neue soziale Verwerfungen und unwürdige Formen der Ausbeutung. Die Janusköpfigkeit des Kapitalismus, die Marx so treffend beschrieben hat, wird wieder deutlich – und damit eine neue Gestaltungsaufgabe für die Sozialdemokratie.
Auf dem Wiesbadener Parteitag habe ich dargelegt, warum das Prinzip der Solidarität für uns Sozialdemokraten handlungsleitend seien sollte wenn es darum geht, neue Regeln für den digitalen Kapitalismus durchzusetzen – und damit den technischen Fortschritt in den Dienst der Menschen zu stellen. Warum brauchen wir ein neues Leitbild einer solidarischen Marktwirtschaft? Die Regeln der Sozialen Marktwirtschaft der Nachkriegszeit basierten auf der Annahme von ungebremsten Wachstum und Wohlstandsgewinn. Mit den Regeln der sozialen Marktwirtschaft haben wir dafür gesorgt, dass der Wohlstandsgewinn auch allen zu Gute kam, dass die großen Lebensrisiken abgesichert waren, und dass Aufstieg durch Bildung unabhängig von Geschlecht, Klasse oder Herkunft möglich war.
Dieses Modell ist schon seit Ende der 70er Jahre in der Krise. Der sogenannte Fahrstuhleffekt des westlichen Nachkriegskapitalismus hat sich gewandelt. Jetzt fahren die ohnehin Wohlhabenden und Spitzenverdiener ganz nach oben, während für die Mehrheit der Arbeitnehmer der Blick nicht mehr nach oben, sondern nach unten geht. Statuserhalt, nicht mehr Statusverbesserung, ist für viele das Thema. Und das hat weitreichende Folgen, leider auch für die politische Landschaft in unserem Land.
Jetzt kommt ein neues Krisenmuster hinzu: Das Wesensmerkmal der digitalen und vernetzten Welt ist, dass Risiken und Krisen unerwarteter eintreten und es auch noch unklar ist, wen sie treffen. Die Welt wird dadurch diffus; die Menschen empfinden eine diffuse Unsicherheit. Heute haben wir Wachstum und Unsicherheit gleichzeitig.
Qualifikationsverlust ist eine ebenso große Bedrohung wie Arbeitsplatzverlust, die Digitalisierung krempelt ganze Märkte um, und wer gestern noch dachte er hätte bei Nokia einen sicheren Arbeitsplatz, schaut schon morgen auf ein Iphone.
Disruption nennen das – und das auch noch ganz euphorisch – die libertären Vordenker aus dem Sillicon Valley. Der Glaube, dass es immer besser wird, ist aus unserer Welt verschwunden. Es ist möglich, dass sich das wieder ändert. Wenn es uns gelingt, die Regeln für den digitalen Kapitalismus so zu gestalten, dass der faszinierende technische Fortschritt auch tatsächlich den Menschen zu Gute kommt: zum Beispiel in Form von besserer medizinischer Versorgung, dem Wegfall gesundheitsschädlicher Arbeiten oder mehr Ressourcen für den Dienst Mensch am Mensch. Mit Mechanismen, die alle an den Gewinnen dieser Wirtschaft teilhaben lassen. Dann wäre das sehr gut. Solidarische Wirtschaftsordnung heißt, dass wir mit Regeln und Rechten diejenigen schützen, die Werte schaffen. Und nicht diejenigen, die die Werte der anderen abschöpfen und verwerten, noch begünstigen. Denn das ist das, was wir gerade machen.
Ohne Daten keine Suchmaschine, kein werbefinanziertes soziales Netzwerk, keine boomende App-Industrie, keine Industrie 4.0, kein autonomes Fahren. Wer die Daten besitzt, hat Macht.
Da der Wandel jeden treffen kann, bis weit in die gut qualifizierte Mittelschicht hinein, den hart arbeitenden Handwerksmeister, den Familienunternehmer und die gut qualifizierte Facharbeiterin, ist der Gedanke einer solidarischen Gemeinschaft stark. Solidarische Marktwirtschaft heißt, anderen Sicherheiten und Unterstützung zu geben, auch wenn man aktuell selbst nicht betroffen ist. Dieses Versprechen des füreinander Einstehens kann nur die Gemeinschaft geben. Es ist die stärkste Antwort, die wir auf die Umbrüche unserer Zeit geben können. Stärker als Nationalismus und Rassismus.
Wer verspricht, die Welt überschaubarer zu machen, indem er auf nationale und autoritäre Lösungen setzt, verhindert nur den echten gesellschaftlichen Fortschritt, schafft aber keine Sicherheiten, sondern das Gegenteil. Marx hat sich ja immer wieder mit der Bedeutung der Arbeit befasst. Und zwar nicht nur damit, welche Rolle Arbeit und der damit produzierte Mehrwert für ein ökonomisches System einnehmen, sondern auch damit, welche Bedeutung die Arbeit für jeden einzelnen hat, als sinn- und identitätsstiftende Tätigkeit. Genau um diese Fragen geht es heute wieder, wenn wir über Arbeit 4.0 reden.
Die wichtigsten Produktionsmittel sind nicht mehr nur Maschinen und Fabriken, sondern Daten. Daten sind der Rohstoff der vermutlich wichtigsten Querschnittstechnologie unserer Zeit, der künstlichen Intelligenz. Ohne Daten kann kein Algorithmus lernen. Ohne Daten keine Suchmaschine, kein werbefinanziertes soziales Netzwerk, keine boomende App-Industrie, keine Industrie 4.0, kein autonomes Fahren. Wer die Daten besitzt, hat Macht. Zugleich hat der Datenkapitalismus eine Tendenz zum Monopol. Plattformen wie Google, Facebook oder Amazon, sind für alle attraktiver, wenn sie viele Kunden haben. Der „Netzwerkeffekt“ wie Ökonomen das nennen. Dieser Effekt ist nicht nur unter Wettbewerbsgesichtspunkten problematisch. Es geht auch darum, ob diese Unternehmen in Zukunft Macht über uns ausüben und unser Verhalten bestimmen.
Hier brauchen wir Antworten wie wir die Produktivkraft der Digitalisierung für eine moderne solidarische Marktwirtschaft nutzen können. Wie wäre es zum Beispiel, wenn die großen Plattformen ab einer bestimmten Größe ihre Daten – selbstverständlich anonymisiert – mit ihren Wettbewerben teilen müssen. Daten würden so zum Gemeinschaftsgut für die Wirtschaft und es gäbe einen echten Wettbewerb. Über diese Frage müssen wir nachdenken: Wem gehören die Daten und wer kann mit den Daten was machen? Oder dass die alte Idee der Genossenschaften eigentlich wie gemacht für das digitale Zeitalter ist. Die Plattformen und die Daten gehören dann nicht den Monopolisten aus dem Silicon Valley, sondern den beteiligten Unternehmen oder den Bürgern. Sie entscheiden dann über die Spielregeln und die Daten. Warum gehören die Lieferdienste nicht den Restaurants? Oder warum keine „Facebook-Genossenschaft“.
Mit diesen beiden Ansätzen versuche ich jetzt gar keine fertigen Antworten zu geben, aber wir müssen uns über die Dimension der Aufgaben, der Fragen und Antworten und übrigens – das ist ja das Erschreckende – die Notwendigkeit des Kampfes, der dahintersteckt, klarwerden. Denn geschenkt wird einem so etwas ja nicht. Dass man hier die Daten in ein Gemeinschaftsgut ummünzt oder zumindest ihre Verwertung reguliert ist in jedem Millimeter ein riesen Kampf. Und das ist genau das, worum es eben geht. Mit jeder dieser Maßnahmen kann es gelingen, den digitalen Kapitalismus ein Stückchen mehr in den Dienst des Menschen zu stellen, ihn gesellschaftlich einzubetten und einzuhegen.
Auch die Frage, welche Chancen und Risiken die künstliche Intelligenz birgt, und welcher politische Gestaltungsbedarf sich daraus ergibt, gehört ins Zentrum unserer demokratischen Debatte. Es geht also wieder – wie zu Beginn der ersten industriellen Revolution – darum, eine Entwicklung nicht nur hinzunehmen, sondern als menschengemacht zu begreifen und entsprechend auch als von Menschen gestaltbar zu verstehen. Das Werk von Marx liefert dabei entscheidende Fragen und Anstöße, es hilft bei der Analyse des Kapitalismus und seiner Triebfedern.
Die Marxsche Utopie, jene „Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“, die auch hier auf einer der Zitatfahnen abgebildet ist, wird wohl ein Traum bleiben. Aber es ist ein guter Traum. Und es kann Leitbild sein für die tägliche Reformpraxis, und gelebte Solidarität, die wir in diesem Land dringend brauchen und die unseren Erneuerungsprozess hoffentlich geistig beflügelt.
Dieser Text ist ein Auszug der Rede von Andrea Nahles anlässlich der Festveranstaltung „200 Jahre Karl Marx“ des SPD Parteivorstandes am 5. Mai 2018 in Trier.