Der Anstieg der Fahrpreise des öffentlichen Nahverkehrs um ein paar Cent hatte in der vergangenen Woche in Santiago de Chile große Studierenden- und Schülerproteste ausgelöst. Diese Erhöhung war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat und die Frustration der Chileninnen und Chilenen über die stark gestiegenen Lebenshaltungskosten und die wachsende soziale Ungleichheit sichtbar gemacht hat.

Nach tagelangen, zunächst friedlichen Aktionen ist die Lage im Land am letzten Freitag vollkommen eskaliert. Hunderte von jungen Leuten trafen sich zu organisierten Schwarzfahraktionen in der U-Bahn. Es kam auch zu gewalttätigen Ausschreitungen mit der Polizei. Züge sowie Stationen wurden demoliert und in Brand gesetzt. Daraufhin griff die Polizei mit harter Hand durch, sie setzte bereits nachmittags Tränengas in den vollbesetzten U-Bahnzügen ein, schlug Fahrgäste nieder und verletzte mehrere Demonstranten mit Schusswaffen.

Der konservative Präsident Piñera, der wie bereits in der Vergangenheit keine Gesprächbereitschaft gegenüber der jungen, protestierenden Generation zeigte, ließ sofort den U-Bahnverkehr in der sechs Millionen Stadt Santiago de Chile auf unbestimmte Zeit stoppen. Er deklarierte den Ausnahmezustand und beauftragte das Militär, die öffentliche Sicherheit wiederherzustellen. Der oberste General verhängt seitdem nächtliche Ausgangssperren. Angeblich 10 000 Soldaten sind nun im Einsatz.

Trotz dieser drastischen Maßnahmen kam es am Wochenende landesweit zu friedlichen Protesten gegen die steigenden Lebenshaltungskosten. Aber auch zahlreiche Plünderungen, Brandstiftungen, Verwüstungen sind Ausdruck der aufgestauten Unzufriedenheit mit dem chilenischen Entwicklungmodell. Bislang kamen bei den Bränden mindestens elf Menschen ums Leben, Hunderte wurden verletzt und es gab über 1900 Verhaftungen.

Das Andenland, in dem in wenigen Wochen zwei Gipfeltreffen von globaler Bedeutung stattfinden sollen – APEC (Treffen der Pazifischen Staats- und Regierungschefs) sowie der UN-Klimagipfel COP 25 – stürzt in eine ernstzunehmende politische und gesellschaftliche Krise.

Obwohl Chile der reichste Staat Lateinamerikas ist, ein stabiles Wirtschaftswachstum aufweist und die Armut in den letzten drei Jahrzehnten entscheidend bekämpft hat, wächst die soziale Ungleichheit.

Die letzten Tage legen zwei Defizite Chiles offen. Die Wut der Chilenen gegenüber ihrer Regierung und der politischen Elite ist nicht allein durch teurere U-Bahntickets zu erklären. Sie richtet sich insgesamt gegen die gestiegenen Lebenshaltungskosten in einem der neoliberalsten und dereguliertesten Länder der Welt. Anders als die Löhne sind Strom, Nahrungsmittel und Mieten in den vergangenen Jahren in die Höhe geschossen.

Obwohl Chile der reichste Staat Lateinamerikas ist, ein stabiles Wirtschaftswachstum aufweist und die Armut in den letzten drei Jahrzehnten entscheidend bekämpft hat, wächst die soziale Ungleichheit. Das durchschnittliche Einkommen liegt bei rund 500 Euro. Für 60 Prozent der Haushalte reicht der Lohn nicht bis zum Monatsende – ihr Schuldenberg steigt dementsprechend kontinuierlich.

Auch der gesellschaftliche Unmut über niedrige Renten und die daraus resultierende Altersarmut, hohe Bildungs- und Gesundheitskosten ist enorm. Von der beinahe vollständigen Privatisierung aller Bereiche der sozialen Sicherheit, ein Erbe, das Diktator Pinochet seinem Land hinterlassen hat, profitiert bis heute nur eine kleine Oberschicht.

Seit mehreren Jahren gehen in Chile soziale Bewegungen und Bündnisse regelmäßig auf die Strasse und fordern auf friedliche Art und Weise eine Verfassungsreform, um diese marktkonforme Ausrichtung aller Lebensbereiche rückgängig zu machen. Massenproteste der Rentnerinnen und Rentner sind ebenfalls seit langer Zeit Ausdruck des Unbehagens.

Doch die politische Elite, die in Chile eng mit der ökonomischen Elite verflochten ist und aufgrund der sehr hohen Diäten in einer „Oase“ lebt, scheint seit längerem das Gespür für ihre Bürgerinnen und Bürger und deren Sorgen verloren zu haben. Es kam zu keinerlei strukturellen Reformen. Die Menschen haben den Eindruck, dass Politik weiterhin die Interessen der Unternehmen und nicht der Bürger vertritt. Nur noch acht Prozent der Chileninnen und Chilenen fühlen sich heute von einer Partei in ihrem Land repräsentiert. Folglich hat Chile eine der niedrigsten Wahlbeteiligungen der Welt; bei der letzten Präsidentschaftswahl 2017 lag sie unter 50 Prozent.

Viele Studierende und Schüler die zunächst friedlich und nun zunehmend gewaltbereit demonstriert haben, sind die Kinder der verschuldeten 500 Euro-Haushalte. Soziologen bezeichnen sie als die „Wir haben nichts zu verlieren“-Generation. Sie sind nach der Pinochet-Diktatur geboren, haben keine Angst vor, aber eben auch kein Vertrauen in politische Entscheidungsträger und staatliche Institutionen. Und sie sehen kaum Möglichkeiten der politischen Partizipation.  

Die Handlungsweise des Präsidenten Sebastián Piñera zeigen, dass auch Chile zu den Ländern Lateinamerikas zählt, in denen das Eis zwischen Demokratie und autoritären Tendenzen dünn ist. Statt Dialogbereitschaft zu zeigen und Wege zur gesellschaftlichen Partizipation zu stärken, setzt die Regierung zum wiederholten Male schnell auf Repression durch den Polizeiapparat.

Wie in einer Zeitreise fühlen sich viele Chilenen zurück in die dunklen Jahre der Militärdiktatur versetzt.

Der Einsatz des Militärs im Inneren und die Verhängung der Notstandsgesetze, Polizei sowie Militär großen Handlungsspielraum geben, wirkten in keiner Weise deeskalierend. Dass die noch aus der Pinochet-Diktatur stammenden Gesetze überhaupt angewandt werden, ist eine historische Zäsur. Es kam zu zahlreichen erneuten Protesten, Verhaftungen. Auch von gravierenden Menschenrechtsverletzungen ist in mindestens vier Fällen die Rede.

Wie in einer Zeitreise fühlen sich viele Chilenen zurück in die dunklen Jahre der Militärdiktatur versetzt. Denn es ist das erste Mal seit Ende der Pinochet-Diktatur, dass Panzer durch die sechs größten Städte Chiles rollen und Generäle der Bevölkerung den Befehl geben, in ihren Häusern zu bleiben. Trotz der Verurteilung der Randale unterstützen viele Bürgerinnen und Bürger aus allen Einkommensschichten bislang die Proteste der Studierenden. Aufgrund der Ausgangssperre trommeln sie abends zu Hause auf Kochtöpfen und so tönt das Scheppern, das auch während der Militärdiktatur der Ausdruck von Protest war, durch die Millionenstadt.

Die Hoffnungen, dass es zu der seit langem geforderten verfassungsgebenden Versammlung kommt und Chile endlich die Verfassung der Pinochet-Diktatur hinter sich lässt und einen neuen, solidarischeren Gesellschaftsvertrag entwirft, geben sie nicht auf.

Besorgniserregend und aus demokratischer Sicht bedenklich ist, dass der Regierungschef in den Medien die demonstrierenden Bürger vorschnell kriminalisiert und sie als „mächtige und gut organisierte Feinde“ bezeichnet hat, gegen die er einen „Krieg“ gewinnen werde.  Damit steigt erstens die Sorge vor weiterer staatlicher Repression. Zweitens schüren diese Äußerungen die Angst, aber auch Verschwörungstheorien innerhalb großer Teile der Bevölkerung. Und drittens zeigt es, wie groß die Distanz zwischen Staatsoberhaupt und sozialen Bewegungen ist, wenn nicht mehr zwischen friedlichen Demonstranten und deren berechtigten Anliegen auf der einen Seite und Randalierern auf der anderen Seite unterschieden wird.

Wie es in den nächsten Tagen weitergeht ist ungewiss. Das Leben in der Hauptsstadt wird einige Tage lahmgelegt sein. U-Bahnen bleiben auf unbestimmte Zeit geschlossen, auch der nationale und internationale Flugverkehr ist stark eingeschränkt, Schulen und Universitäten öffnen frühstens am Mittwoch.

Am Sonntag hat Präsident Piñera angekündigt, die Preiserhöhung der Nahverkehrstickets rückgängig zu machen. Es bleibt abzuwarten, ob dieses Einlenken den Protestierenden ausreicht. Gewerkschaften, soziale Bewegungen und die größten Oppositionsparteien haben in den vergangenen Stunden Deklarationen veröffentlicht. In diesen verlangen sie neben dem Rückzug des Militärs in die Kaserne auch über die Preisgestaltung im Nahverkehr hinausgehende soziale Forderungen. Eine progressivere Steuerpolitik, solidarische Rentenreform und öffentliche Bildung sind Appelle, die in beinahe allen Dokumenten vom Wochenende zu finden sind. Chiles gesellschaftliche Baustellen sind nun mit aller Wucht in den Mittelpunkt der Debatte gerückt.

Es bleibt abzuwarten, ob sich die zersplitterten Mitte-Links-Oppositionsparteien, die über eine Mehrheit im Senat und Parlament verfügen, zusammenschließen. Nur so könnten sie gemeinsam Druck auf den Präsidenten und sein Kabinett ausüben und sie an den Verhandlungstisch mit den Demonstrierenden bringen.