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Anonyme Männer in Tarnuniformen, die in Fahrzeugen ohne Kennzeichen Demonstrierende wegbringen, Sicherheitskräfte des Bundes, von US-Präsident Donald Trump offenkundig mit der Absicht einer Gewalteskalation entsandt: So etwas spielt sich soeben in Portland ab. „Kann man das schon als Faschismus bezeichnen?“, fragte Kolumnistin Michelle Goldberg in der New York Times.

Trump beantwortete diese Frage mit der Ankündigung, seine Aktionen auf weitere von Demokraten regierte Großstädte auszudehnen. Und in den gesamten USA wird gerungen: um Werte, Würde und Demokratie, aber auch um Macht und Worte.

Vor kurzem starb der Bürgerrechtler John Lewis im Alter von 80 Jahren. Als Barack Obama Präsident wurde, übergab er Lewis eine handschriftliche Notiz, auf der stand: „Dank dir, John.“ Viele betrachteten mit der Wahl Obamas den Kampf der Bürgerrechtsbewegung als beendet. Das erwies sich als Irrtum, als Trump die Präsidentschaft mit einem Wahlprogramm errang, in dem sich der Rassismus mehr schlecht als recht hinter einer Agenda für weiße männliche Arbeiter verbarg.

Der gesellschaftliche Status definiert sich nicht nur über Geld, sondern auch über Hierarchien. Wenn Frauen aufsteigen, haben Männer absolut betrachtet darunter zu leiden; die Beziehungen verändern sich.

Die Black Lives Matter-Demonstrationen haben ihre Wurzeln in rassistischer Unterdrückung, die dazu führt, dass afroamerikanische Menschen im Gefängnis landen, früh sterben, ihren Job verlieren und überproportional von der Corona-Pandemie betroffen sind. Doch in diesem Kampf geht es noch um etwas anderes: um das Recht, als vollwertiger Mensch anerkannt zu werden.

Wir könnten von einem Kampf für die Demokratie sprechen. Oder wir könnten, wie manche es tun, von Identitätspolitik sprechen.

Gibt es einen Punkt, an dem der Freiheitskampf der einen Person einen Verlust für die andere nach sich zieht? Ja, das ist so. Der gesellschaftliche Status definiert sich nicht nur über Geld, sondern auch über Hierarchien. Wenn Frauen aufsteigen, haben Männer absolut betrachtet darunter zu leiden; die Beziehungen verändern sich. In diesem Spannungsgefüge können Konflikte und Verlustgefühle aufkommen. Und genau diesen Druckpunkt nutzen und verstärken Populisten.

In der Linken werden Klasse und Identität häufig einander gegenübergestellt. Manche Linke biedern sich an den konservativen Zeitgeist an, indem sie Transgender-Menschen ausgrenzen oder harte Maßnahmen gegen Zuwanderer fordern, verstehen sich aber nach wie vor als Kämpfer für die Gerechtigkeit.

In einer linken Analyse lässt sich der Kampf um mehr Minderheitenrechte nicht von wirtschaftlicher Gerechtigkeit abkoppeln: Beides setzt sich gegenseitig voraus.

Der vermeintliche Gegensatz von Klasse und Identität hängt auch damit zusammen, dass sozialdemokratische Bewegungen heutzutage kein Konzept dafür haben, wie sich wirtschaftliche Gleichheit erreichen lässt. Doch auf dieses Versagen sollte man nicht reagieren, indem man vor Forderungen nach Gerechtigkeit die Augen verschließt. In einer linken Analyse lässt sich der Kampf um mehr Minderheitenrechte nicht von wirtschaftlicher Gerechtigkeit abkoppeln: Beides setzt sich gegenseitig voraus.

Hier und da hört man, eine allzu starke Fokussierung auf Identitätspolitik sei kontraproduktiv, weil sie die Mehrheit verprellen könnte. Wäre Obama nicht ein Schwarzer gewesen, so wäre Trump nicht gewählt worden. Hätten Frauen nicht so energisch für Gleichberechtigung gekämpft, gäbe es auf Seiten der Männer nicht so viele Ressentiments: Wer fordert, polarisiert.

Aus dieser Analyse sprechen drei grundsätzliche Irrtümer. Erstens ist sie moralisch zweifelhaft, da sie die Unterdrückten für ihre Unterdrückung verantwortlich macht. Zweitens gründet sie auf einer häufig vorgebrachten Kritik an der „Identitätspolitik“, die einem stereotypen Missverständnis entspringt: Wer meint, dass die intensive Auseinandersetzung mit Rassismusfragen automatisch eine Gegenreaktion in der „weißen Arbeiterklasse“ provoziert – eine Bezeichnung, die relativ neuen Datums ist –, sitzt dem Vorurteil auf, dass letztere eine homogene Gruppe wäre, die feste, tief verwurzelte konservative Ansichten gemein hätte.

Der dritte Schwachpunkt dieser Argumentation liegt darin, dass sie recht offensichtlich der Realität widerspricht. In beiden größeren Bürgerrechtsprojekten der letzten Jahre, #metoo und Black Lives Matter, kam genau das Gegenteil heraus. Die lautstarken Forderungen führten nicht zur Marginalisierung dieser Bewegungen. Sie schufen vielmehr ein Bewusstsein und eine Empfänglichkeit für Probleme, die weit über die unmittelbar Betroffenen hinaus reichen. Aus „Identitätspolitik“ ergeben sich Erkenntnis, Solidarität und breite Bündnisse.

Man darf nicht übersehen, dass die Linke ein Intoleranzproblem hat. In der sogenannten „Cancel Culture“ gibt es gefährliche Tendenzen. Trotzdem sind Umsicht und Genauigkeit angebracht.

Woher aber kommt die immense Wut der „Kulturkriege“, woher kommen die gewaltigen Hassausbrüche? Ist es echte Angst vor dem Verlust von Privilegien, Trauer über eine Welt, die im Verschwinden begriffen ist? Ja, aber vor allem ist es eine aufgeblähte, eine künstlich erzeugte Wut.

In ihrer jüngst erschienenen hochgelobten Geschichte der USA Dieses Amerika beschreibt die Harvard-Professorin Jill Lepore die „sozialen Medien“ als eine Sackgasse für das bürgerschaftliche Verständnis, nach dem Demokratie auf Gespräch und Beratung gründet. Auf den Internetplattformen wird eine spezifische, eine wütende und empörte Redeweise belohnt, die nicht nur die Politik, sondern auch den professionellen Journalismus deformiert. Es ist leicht, einen Twitter-Sturm zu entfachen; das Ziel dieses Sturms zu sein, kann sehr weh tun.

Was Linksliberale wie Yascha Mounk als Gefahr für die „Redefreiheit“ bezeichnen, ist oft (wenn auch nicht immer) etwas völlig anderes: massive, organisierte Kritik in einem öffentlichen Raum, der Hass fördert und schürt. Deshalb hatte man wohl auch das Gefühl, dass die Kulturkriege der letzten Jahre konstruiert und auf Twitter zugeschnitten waren, performative Ausbrüche mit dem alleinigen Ziel, das persönliche Image des einen oder anderen Diskutanten oder seine Position im Parnass zu stärken.

Man darf nicht übersehen, dass die Linke ein Intoleranzproblem hat. In der sogenannten „Cancel Culture“ gibt es gefährliche Tendenzen, zumal, wenn auf eine provokative Behauptung gar nicht richtig reagiert, sondern nur darauf hingewirkt wird, die betreffende Person um ihren Job zu bringen. Trotzdem sind Umsicht und Genauigkeit angebracht.

Manchmal hört es sich so an, als stellten Bewegungen, die für mehr Rechte eintreten, eine ebenso große Gefahr dar wie die Kräfte, die ihre Rechte einschränken wollen. Das ist ein schlichter Irrtum.

Wenn man heute bestimmte Ansichten nicht mehr so leicht unwidersprochen äußern kann, ist das für sich genommen noch lange kein Zeichen für „Illiberalismus“. Hagelt es energischen Widerspruch, sobald einzelne Transgender-Personen unter Beschuss geraten oder das N-Wort fällt, so sollte man das nicht als Einschränkung, sondern als Erweiterung der Rechte und Freiheiten für jene begreifen, denen sie zuvor versagt wurden.

Manchmal hört es sich so an, als stellten Bewegungen, die für mehr Rechte eintreten, eine ebenso große Gefahr dar wie die Kräfte, die ihre Rechte einschränken wollen. Das ist ein schlichter Irrtum. Immerhin gehen derzeit überall auf der Welt autoritäre Politiker gegen Demokratie und Bürgerrechte vor.

Masha Gessen schreibt in ihrem neuen Buch Autokratie überwinden, Trump sei kein historischer Sonderfall, sondern eine logische Folge der Geschichte. Er steht auf den Schultern von 400 Jahren rassistischer Unterdrückung und 15 Jahren intensiver Mobilisierung gegen Muslime, Zuwanderer und ganz allgemein „Andere“ – in Gesetzgebung und Sprache, in Medien und Internet.

Eine Diskussion über Steuersätze zweifelt niemandes Existenzrecht an. Identitätskonflikte reichen tiefer, denn sie stellen die Frage: Wer hat ein Recht auf Zugehörigkeit? Und sie erfordern eine Antwort.

John Lewis und Martin Luther King kämpften für die Rechte schwarzer Amerikanerinnen und Amerikaner, um die Definition derer, die zugehörig sind, zu erweitern. Trump verfolgt wie die Schwedendemokraten, Victor Orbán in Ungarn oder Andrzej Duda in Polen die Strategie, Menschen aktiv aus der Gruppe des politischen „Wir“ zu vertreiben.

Gessen zitiert die deutsche Philosophin Hannah Arendt, die erklärte, warum sich Menschen zum Faschismus und zu autoritären Führern hingezogen fühlen. Sie spricht von der Versuchung, die „Maske der Heuchelei“ abzuwerfen, sich nicht um Moral bemühen zu müssen, da sie ja doch immer wieder scheitert.

Konflikte um „Rasse“ und Gender unterscheiden sich von anderen politischen Streifragen: Eine Diskussion über Steuersätze zweifelt niemandes Existenzrecht an. Identitätskonflikte reichen tiefer, denn sie stellen die Frage: Wer hat ein Recht auf Zugehörigkeit? Und sie erfordern eine Antwort.

Dieser Artikel ist eine gemeinsame Veröffentlichung vonSocial Europe und dem IPG-Journal. Auf Schwedisch erschien er im Aftonbladet.

Aus dem Englischen von Anne Emmert