Letzte Woche trat der britische Premierminister Rishi Sunak bei strömendem Regen vor Downing Street Nr. 10 und gab bekannt, dass er für den 4. Juli Parlamentswahlen anberaumen werde – also viel früher als erwartet. Während Sunak die Nation zu überzeugen suchte, dass es mit ihrem Land nach Jahren der Misere wirtschaftlich endlich bergauf gehe, wurde seine Rede aus der Ferne von einem Spaßvogel übertönt, der in großer Lautstärke die berühmteste politische Wahlkampfhymne der britischen Geschichte abspielte: D:Reams peppigen Hit Things Can Only Get Better, der 1997 zu Tony Blairs erdrutschartigem Wahlsieg beitrug.
Sunaks verpatzte Bekanntgabe ist symptomatisch für den desolaten Zustand seiner Regierung. Nach 14 Jahren an der Regierung, Brexit-Chaos, schlimmer Pandemie und einer fünfköpfigen Riege vom Pech verfolgter Premierministerinnen und -minister – wer erinnert sich noch an Liz Truss? – ist die Konservative Partei innerlich zerrissen, sichtlich ausgelaugt und weithin verhasst. Kaum hatte Sunak den Wahltermin bekannt gegeben, spotteten auch schon die Kommentatoren, dass dieser Tag schon bald als „Independence from the Tories Day“ in die Annalen eingehen werde.
Dass Keir Starmer, der Vorsitzende der Labour-Partei, inzwischen höchstwahrscheinlich die Nachfolge von Sunak antreten wird, liegt nicht zuletzt an der schwachen Konkurrenz. Laut Umfragen ist Starmer selbst nämlich ausgesprochen unpopulär. Gerade einmal 31 Prozent der britischen Wählerinnen und Wähler halten die Labour-Partei für regierungsfähig, und nur 24 Prozent finden ihr Führungspersonal gut. Labour hat Glück, dass die Kompetenz der Konservativen von der Wählerschaft noch viel stärker angezweifelt wird: Die Tories werden von nur 15 Prozent als regierungsfähig eingestuft, und zu ihrer Führungsspitze haben nur zwölf Prozent Vertrauen. Der Chef von Ipsos, einem der größten Meinungsforschungsinstitute Großbritanniens, erklärte kürzlich gegenüber dem Guardian: „Starmers persönliche Umfragewerte sind die schlechtesten, die Ipsos bei einem Oppositionsführer, der bei der Wahlabsicht so weit vorne liegt, jemals gemessen hat.“
Die Situation in Großbritannien steht in bemerkenswertem Kontrast zu den Vereinigten Staaten. Ebenso wie Sunak ist Donald Trump äußerst unbeliebt. Und ebenso wie Starmer ist Joe Biden ein gemäßigter Politiker, der in der Bevölkerung keine besonders starken Emotionen auslöst. Doch im Gegensatz zu Starmer hat Biden aus der Schwäche seiner Konkurrenten bisher offenbar kein Kapital schlagen können. Während Starmer auf dem besten Weg ist, als zweiter Vorsitzender der Labour-Partei in über 50 Jahren eine absolute Mehrheit zu erreichen, liegt Biden inzwischen sowohl in den Umfragen als auch in den Wettbüros hinter Trump – eine unheilvolle Entwicklung, wenn man bedenkt, was für einen gewaltigen Schaden der ehemalige Präsident dem Land und der Welt vermutlich zufügen wird, wenn er das Weiße Haus zurückerobert.
Was macht Biden falsch?
Was also macht Starmer richtig? Oder andersherum gefragt: Was macht Biden falsch? Starmers Aufstieg in den Reihen der Labour Party fiel in die Zeit, als der sozialistische Hitzkopf Jeremy Corbyn deren Vorsitzender war. 2020 gewann er das Rennen um die Nachfolge Corbyns, weil er sich weder als einer seiner ideologisch verbohrten Anhänger noch als einer seiner lautstarken Kritiker positionierte. Als er den Parteivorsitz übernahm, gingen viele Beobachter davon aus, dass die konservative Vorherrschaft weiterbestehen werde – auch deswegen, weil es unwahrscheinlich schien, dass die Labour-Partei wieder in die Mitte rücken könnte.
Dann stellte sich jedoch heraus, dass Starmer von Freund und Feind unterschätzt worden war. Sobald er das Ruder von Labour fest in der Hand hatte, brach er auf erstaunlich effiziente Weise mit dem linken Flügel der Partei. Starmer verabschiedete sich von vielen der radikalsten Versprechen seines Vorgängers wie zum Beispiel von den Plänen zur Verstaatlichung von Schlüsselindustrien. In kulturellen Fragen begrub er etliche besonders problematische Standpunkte seiner Partei wie etwa ihre offenkundige Abneigung gegenüber jeder Form von Patriotismus. Er entledigte sich einiger der übelsten Gestalten in der Partei, die entweder unverhohlenen Antisemitismus verbreitet hatten oder – wie Starmers ehemaliger Vorgesetzter Corbyn – ganz offensichtlich nicht gewillt waren, ihn zu bekämpfen. Vor allem aber ging er bei alldem entschlossen und transparent vor: Selbst als ihn der Bruch mit den radikalen Kräften in seiner Partei einigen Rückhalt kostete, blieb er öffentlich bei seiner Haltung – und diese offensichtliche Bereitschaft, für seine Distanzierung von der extremen Linken einen Preis zu zahlen, trug wesentlich dazu bei, dass die Öffentlichkeit ihm bei dem Thema vertraute.
Starmer erlangte als loyaler Parteisoldat der Linken die Macht in seiner Partei und ist anschließend mit Blick auf kommende Parlamentswahlen in die Mitte gerückt. Joe Biden ist wiederum in den vergangenen fünf Jahren den umgekehrten Weg gegangen. Obwohl seine Kandidatur keine spürbare Begeisterung auslöste und Bedenken wegen seines fortgeschrittenen Alters bestanden, gewann Biden die Vorwahlen 2020, weil er der moderateste Kandidat im Rennen war. Doch während er sich auf den Wahlkampf und die personelle Besetzung des Weißen Hauses vorbereitete, stellte Biden die Einheit der Partei über sein eigenes politisches Gespür. Er war der einzige Präsidentschaftskandidat in der jüngeren Geschichte, der zwischen den Vorwahlen und den Präsidentschaftswahlen vom Kurs der Mitte abrückte. Nach seiner Wahl besetzte er seine Administration mit einer Legion von Beratern und politischen Fachleuten, die ihre Erfahrungen in den Senatsbüros und Präsidentschaftskampagnen von Elizabeth Warren und Bernie Sanders gesammelt hatten.
Obwohl das Weiße Haus in den Umfragen schlecht abschneidet, will es diesen Kurs allem Anschein nach beibehalten. Die wichtigsten politischen Ankündigungen und Präsidialverfügungen der vergangenen Monate sind ganz eindeutig darauf ausgerichtet, die progressive Basis zu mobilisieren und die Aktivistengruppen zufriedenzustellen. In kulturellen Fragen wie der an den Universitäten angeordneten Gleichstellung von Genderidentität und biologischem Geschlecht vertritt die Regierung stets Positionen, die weit entfernt sind von der vorherrschenden öffentlichen Meinung. Sogar wirtschaftspolitisch richtet sie sich nach den Forderungen progressiver Interessengruppen. So hat die Biden-Administration beispielsweise Milliarden von Dollar für den Erlass von Studentendarlehen ausgegeben, obwohl die Gruppe, bei der sie am meisten schwächelt, aus Wählern der Arbeiterklasse besteht, die keine Universität besucht haben – zumal in einer Umfrage, in der 30-jährige Wählerinnen und Wähler 15 politische Themen nach ihrer Priorität einstufen sollten, die Studentendarlehen an allerletzter Stelle standen (an 14. Stelle stand übrigens der Nahostkonflikt.)
Vor allem aber hat Biden öffentlich nie so deutlich mit der Linken gebrochen wie Starmer.
Vor allem aber hat Biden öffentlich nie so deutlich mit der Linken gebrochen wie Starmer. In seinen besten Momenten widersprach Biden der progressiven Orthodoxie, aber nie explizit den progressiven Politikerinnen und Politikern – etwa als er die Idee ablehnte, die Mittel für die Polizei zu streichen. Häufiger machte er einen Rückzieher, sobald sich auch nur ansatzweise öffentlicher Gegenwind regte. Bei der diesjährigen Rede zur Lage der Nation wich er zum Beispiel von seinen vorbereiteten Ausführungen ab und verwendete in Bezug auf einen Migranten ohne Papiere, der eine junge Frau ermordet hatte, das Wort „illegal“. Als Interessengruppen Biden für diese Bemerkung verurteilten, entschuldigte er sich eilig auf MSNBC für seine Wortwahl.
Dieser unterschiedliche Umgang mit dem linken Flügel ihren jeweiligen Partei ist der Grund, warum Starmer und Biden in der breiten Öffentlichkeit so unterschiedlich wahrgenommen werden. Die britischen Wählerinnen und Wähler hegen keine besondere Sympathie für ihren voraussichtlich nächsten Premierminister, aber sie vertrauen darauf, dass er das Land mit ruhiger Hand regieren wird. Die amerikanische Wählerschaft hingegen befürchtet, Biden sei zu alt oder gegenüber dem aktivistischen Flügel seiner Partei zu nachgiebig, als dass man sicher sein könnte, dass die Demokraten keine Dummheiten machen. Deshalb liegt Starmer 20 Punkte vorn und Biden laut den letzten Umfragen ein oder zwei Punkte zurück.
Jeder Vergleich beinhaltet Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Die Unterschiede zwischen Großbritannien und den Vereinigten Staaten liegen auf der Hand. Die Demokraten sind an der Regierung, Labour in der Opposition. Biden ist alt und gebrechlich, Starmer noch vergleichsweise jung und vital. Während die US-Wahlen fast immer äußerst knapp ausfallen, dreht sich bei den britischen Wahlen nahezu alles um den „Swingometer“, den die Fernsehsender in ihren Wahlnachtsendungen von Mal zu Mal dramatischer in Szene setzen und der oft anzeigt, dass die Wählerinnen und Wähler dem neuen Premierminister eine deutliche Mehrheit bescheren. Es wäre naiv, zu glauben, Biden würde jetzt einem Erdrutschsieg entgegengehen, wenn er sich nur ein Beispiel an Starmer genommen hätte.
Doch gerade jetzt, wo Biden in den Umfragen zurückliegt und in den USA viel mehr auf dem Spiel steht als in Großbritannien, wäre es einfältig, anzunehmen, die Demokraten könnten nichts von Labour lernen. Starmer wäre nicht auf dem besten Weg zu einem großen Sieg, wenn er die Wählerschaft nicht davon überzeugt hätte, dass er bereit ist, sich gegen die besonders irregeleiteten und unbeliebtesten Gruppierungen in seiner eigenen Partei zu stellen. Biden wird, so ist zu befürchten, erst dann wieder auf Kurs kommen, wenn er beweist, dass er genau dazu auch in der Lage ist.
Die britischen Wähler suchen nach einem – letztlich beliebigen – Grund, um gegen die Tories zu stimmen. Indem er sich vom unpopulären linken Flügel der Partei distanzierte, hat Starmer gerade genug getan, um ihnen diesen Grund zu liefern. Auch viele amerikanische Wählerinnen und Wähler suchen nach einem – eigentlich wirklich beliebigen – Grund, um gegen Trump zu stimmen. Da Biden sich vom unbeliebten linken Flügel der Partei nicht distanziert, tut er in ihren Augen gerade nicht genug, um ihnen diesen Grund zu liefern. Wenn er Trump – einen Kandidaten, der weitaus gefährlicher ist, als es Sunak oder sogar Boris Johnson je waren – schlagen will, hat er noch bis November Zeit, das zu ändern.
Dieser Artikel erschien zuerst im US-Onlinemagazin Persuasion.
Aus dem Englischen von Christine Hardung