Mit dem Ideenrüstzeug des 20. Jahrhunderts begreifen wir nicht mehr, was geschieht. Und wir verstehen auch nicht, wie wir reagieren sollten. Das Problem ist, dass der Großteil der demokratischen, progressiven und linken Ideen aus dem 20. Jahrhundert stammt. Der Großteil unserer aktuellen Eliten hat sich auf der Basis dieser Ideen herausgebildet. Er verfügt somit über einen geistigen Werkzeugkasten, der heute nicht mehr einsetzbar ist. In ihm finden sich gesellschaftliche Klassen und internationale Arbeitsteilung. Doch die heutige Welt hat es anscheinend darauf angelegt, uns zu überraschen und spaltet sich entlang von Bruchlinien, die wir für erledigt und von der Geschichte begraben hielten – wie zum Beispiel die der Religion.

Blättern wir einmal das Wörterbuch der Leitbegriffe durch, die so vielen Generationen seit dem Ende des II. Weltkriegs Sicherheit gaben. Der Pazifismus bleibt eine noble moralische Option. Aber er ist keine realistische Antwort an die, die uns den Krieg erklärt haben und ebenso wenig wie an die, die uns bitten, ihm im Krieg beizustehen (wie der Sozialist Francois Hollande). Das Evangelium sagt, wir sollten die andere Wange hinhalten. Doch selbst Papst Franziskus hat uns wissen lassen, dass, „wenn einer meine Mutter beleidigt, ich ihm einen Fausthieb verpasse“. Und wenn sie unsere französischen Cousins umbringen? Es ist keine politische Option, in einer solch kriegerischen Welt Pazifist zu sein, während etwa 50 kriegerische Konflikte im Gange sind und während viele der Opfer dieser Konflikte täglich an unseren Stränden anlanden. Solange der Krieg ein Mittel zur Lösung internationaler Konflikte darstellte, lehnten wir ihn ab. Was aber machen wir, wenn er zur Notwendigkeit der Selbstverteidigung wird? Wenn wir – so wie heute – jemanden brauchen, der über den Einsatz militärischer Macht – selbstredend angemessen und legitim – gegen diejenigen nachdenkt, die menschliche Bomben losschicken?

Oder nehmen wir den Internationalismus, die wahre Scheidelinie zwischen Rechts und Links seit dem Entstehen dieser politischen Lager im Feuer der französischen Revolution. Es ist ein Wert, der später ausufern sollte im Friedenstraum des Kosmopolitismus oder in der Utopie europäischer Gesellschaften, so multikulturell, dass die Kultur der Alteingesessenen nicht mehr zu identifizieren war. Offen gesprochen ist das kein Diskurs, den man einer öffentlichen Meinung vorschlagen kann, die von Angst erschüttert und von den Proportionen der Wanderungsbewegungen schockiert ist. Einer Gesellschaft, die sich Sorgen macht, die eigenen Wurzeln und den eigenen Lebensstil in einem ununterscheidbaren Magma des kulturellen Liberalismus einzubüßen, in dem schon das Aufhängen eines Kreuzes zum beleidigenden Akt werden kann.

Gegenüber diesem ideellen Rüstzeug haben es die Ideen der Rechten leicht, moderner, angemessener und vor allem populärer zu erscheinen. Auch wenn sie praktisch nicht umzusetzen sind. Auch wenn sie nicht akzeptiert werden können, auch wenn sie keine Lösungen bieten.

Nicht gut bestellt ist es auch um die Rhetorik des Mittelmeers als Brücke nach Afrika, zum Nahen Osten und zum Süden der Welt und damit auch um die Rhetorik zur Rolle, die uns so oft für unser Land und vor allem für den Süden Italiens ans Herz gelegt wurde. Was aber tun, wenn – wie Paolo Macry im Corriere del Mezzogiorno schrieb – hingegen „aus dem Süden der Welt der Krieg kommt“ und nicht etwa das Verlangen nach Dialog, nach kultureller Öffnung, nach wechselseitigem Verständnis?

Gegenüber diesem völlig überalterten ideellen Rüstzeug haben es die Ideen der Rechten leicht, moderner, der gegenwärtigen Welt angemessener und vor allem populärer zu erscheinen. Auch wenn sie praktisch nicht umzusetzen sind. Auch wenn sie nicht akzeptiert werden können, auch wenn sie keine Lösungen bieten. Nationalismus, Nostalgie für Mauern und Grenzen, Ablehnung des Anderen, Egoismus statt Solidarität: Sie können angesichts der doppelten Drohung der Massenmigrationen und des islamistischen Terrorismus die Achse der europäischen öffentlichen Meinungen strukturell nach rechts verschieben, so wie es in den USA nach dem Bruch von 1968 geschah.

Demokratisches Denken, das eine solche Entwicklung befürchtet, darf sich deshalb nicht darauf beschränken, sie zu bedauern oder gar lächerlich zu machen oder sie auch einfach nur der manipulierten Ignoranz zuzuschreiben. Es ist stattdessen die Kultur der Progressiven, die sich neu definieren und sich der Realität der Welt, so wie sie nun einmal ist, anpassen muss. Dies beginnt beim Binom Frieden-Krieg: denn Frieden heißt nicht, sich die Hände in Unschuld zu waschen und sich rauszuhalten. Es geht weiter beim Begriffspaar Laizität-Religion. Denn es gibt solche und solche Religionen. Und es führt schließlich auch zur Wiederentdeckung eines Begriffs der nationalen Souveränität, die kompatibel mit einem neuen Internationalismus ist. Anderenfalls wäre Kultur der Progressiven der Verlierer jenes kulturellen Krieges, den die islamistische Offensive nach dem 11. September 2001 im Okzident entfesselt hat und der mit den Ereignissen des 13. November 2015 noch nicht zu Ende ist.

Dieser Beitrag ist ursprünglich am 17. November im Corriere della Sera erschienen