Afghanistanabzug – Nachdem die Vereinigten Staaten im September 2001 in den Grundfesten ihrer Unbezwingbarkeit erschüttert worden waren und sie den Dämon ihres nationalen Traumas – Osama bin Laden – in Afghanistan vermuteten, begann der Krieg gegen den Terror. Und er dauert an.

Vermutlich verging seitdem kein Tag, an dem das NATO-Bündnis für seinen Einmarsch in Afghanistan nicht kritisiert, Fortschritte und Rückschläge im afghanischen Wiederaufbau nicht gegenüber gestellt und der baldige Zusammenbruch Afghanistans nicht prognostiziert wurde. Der Druck, der auf der westlichen Staatengemeinschaft lastet, endlich Erfolge in Afghanistan vorzuweisen, stieg mit jedem gefallenen NATO-Soldaten, mit jeder manipulierten Wahl, mit Berichten über die von Drogengeldern in Saus und Braus lebende Taliban-Schickeria – und nicht zuletzt auch mit jedem Euro und jedem US-Dollar, der seit der Finanz- und Wirtschaftskrise in den eigenen nationalen Haushalten der westlichen Staaten fehlt.

Klar ist, dass wiedererstarkte Taliban das Land auch weiterhin in Angst und Schrecken versetzen könnten.

Da hat die Ansage, bis Ende 2014 die Internationale Mission in Afghanistan zu beenden und die Soldaten abzuziehen fast etwas Erleichterndes – obwohl das Land nach wie vor von Bürgerkrieg, Terrorismus und wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit gezeichnet ist und obwohl keine klare Strategie erkennbar ist, was nach dem verkündeten Abzug der ISAF-Schutztruppen aus Afghanistan werden soll.

Wie geht es weiter?

Klar ist, dass wiedererstarkte Taliban das Land auch weiterhin in Angst und Schrecken versetzen könnten. Erst kürzlich haben die Taliban durch den erneuten Boykott der für April anstehenden Präsidentschaftswahlen erneut unter Beweis gestellt, dass sie kein Interesse an einer Mitgestaltung der künftigen afghanischen Regierung haben. Besorgniserregend ist auch, dass die vom Westen mit eher mittelmäßigem Erfolg ausgebildete afghanische Armee nicht hinreichend in der Lage sein dürfte, die Bürgerinnen und Bürger verlässlich zu schützen. Hinzu kommt, dass nicht zuletzt die vielen sinnvollen Projekte internationaler und auch afghanischer staatlicher wie nichtstaatlicher Organisationen in ihrem Weiterbestehen gefährdet sein könnten.

Die Aussichten sind so beunruhigend, dass Pläne für eine Nachfolgemission ab 2015 längst ausgearbeitet wurden. Im Rahmen von „Resolute Support“ sollen die afghanischen Sicherheitskräfte auch nach dem verkündeten Abzug von insgesamt etwa 8.000 bis 12.000 internationalen Soldaten ausgebildet und beraten werden. Dazu zählt auch die Fortführung von finanziellen Hilfen – allerdings nur unter der Voraussetzung, dass ein bilaterales Sicherheitsabkommen zwischen den USA und Afghanistan unterzeichnet wird – und das ist bislang nicht der Fall.

Eine Unterschrift muss her!

Präsident Hamid Karzai weigert sich selbst nach einstimmiger Empfehlung der Loya Jirga im November 2011 beharrlich, dem druckreifen Abkommen seine Unterschrift zu geben. Das lässt schon jetzt absehen, dass ein reibungsloses Ablösen der aktuellen durch eine Nachfolge-Mission nahezu unmöglich sein wird. Karzai muss sich sehr sicher sein, dass niemand ein „zweites Irak“ in Kauf nehmen möchte, und dass die in Tokio gemachten Zusagen ernst gemeint waren. 2012 hatten sich die afghanische Regierung und die internationale Gemeinschaft auf das Tokyo Mutual Accountability Framework verständigt, das für das zivile Engagement der Geber maßgeblich ist. Allein Deutschland beteiligt sich in den Jahren 2012 bis 2015 mit 430 Mio. Euro jährlich an den Kosten für Entwicklung und Wiederaufbau. Insgesamt beläuft sich diese Summe auf 16 Mrd. US-Dollar, wobei „umfangreiche deutsche Hilfe“ – so Bundespräsident Gauck – auch nach 2014 bereits in Aussicht gestellt wurde.

Zu hoffen ist daher, dass Präsident Karzai die Geduld der US-Amerikaner nicht länger strapaziert und somit die Zukunft seines Landes nicht aufs Spiel setzt.

Für Afghanistan wäre es fatal, sollte die Mission „Resolute Support“ nicht gelingen und die Zusagen internationaler Geber nicht eingehalten werden. Zu hoffen ist daher, dass Präsident Karzai die Geduld der US-Amerikaner nicht länger strapaziert und somit die Zukunft seines Landes nicht aufs Spiel setzt. Denn auch die Stimmung in den USA kippt: Wie lässt sich bei Staatsstillstand und Überlaufen der Schuldenobergrenze ein Krieg fern der Heimat rechtfertigen, der Unmengen von Geld sowie zahlreiche Menschenleben kostet und dazu noch die eigene strategische Konzeptlosigkeit vor Augen führt?

Afghanistan: "Herz von Asien"?

Die Erkenntnis einerseits, dass der Krieg in Afghanistan nicht zu gewinnen ist, und das Gefühl der Verantwortung andererseits, das Land nicht allein und zerstört zurück zu lassen, führte unweigerlich zu einer auf den ersten Blick überzeugenden Forderung: Nun sollte endlich auch einmal die Region selbst sich des „afghanischen Problems“ annehmen. Diplomatisch verpackt wurde das Ganze in den „Heart-of-Asia-Prozess“, auch „Istanbul-Prozess“ genannt. Offiziell heißt es da: “Das Ziel ist die Förderung einer konstruktiven politischen und wirtschaftlichen Beteiligung der Staaten der Region an zukünftigen Entwicklungen in Afghanistan“. Das Problem ist nur: So leblos sich dieser Satz anhört, so leblos ist der Prozess bislang geblieben, wenn man von der Verständigung auf einige vertrauensbildende Maßnahmen einmal absieht.

Ist der Westen mittlerweile so verzweifelt, dass er es lieber einst selbst so betitelten „Schurkenstaaten“ überlässt, sich um die sichere, stabile und demokratische Zukunft Afghanistans zu kümmern?

Denn in der Region selbst wird das teilweise deutlich anders gesehen. Und zwar eher als „Abwälzung“ einer unbequemen Last denn als wohlüberlegte Übertragung der Verantwortung auf betroffene Nachbarstaaten. Schließlich finden sich im „Herzen Asiens“ mit Pakistan, Indien, den zentralasiatischen Republiken, dem Iran, China, der Türkei und Russland fast ausschließlich Länder, die entweder für die Internationale Gemeinschaft hoch problematisch sind oder selbst miteinander im Konflikt liegen.

Die Geister, die man rief

Ist der Westen mittlerweile so verzweifelt, dass er es lieber einst von ihm selbst so betitelten „Schurkenstaaten“ überlässt, sich um die sichere, stabile und demokratische Zukunft Afghanistans zu kümmern? Viel Kritik ist sehr berechtigt, vor allem, wenn es um schnelles Einmarschieren ohne durchdachte Strategie geht, aber die Geister, die man rief, wird man so schnell nicht wieder los – im Guten wie im Bösen. Der Einmarsch in Afghanistan mag rückblickend eine falsche Entscheidung gewesen sein, aber ein Abzug, der nicht auf strategischer Planung, sondern auf unbestimmten Hoffnungen beruht, wäre sicher nicht besser.