Kabul -- Nachrichten O-Ton: „... hat erneut ein massiver Anschlag die afghanische Hauptstadt Kabul erschüttert.“ In den deutschen Nachrichtensendungen klingen Meldungen aus Afghanistan immer gleich. Das Stakkato der Schreckensmeldungen erweckt den Eindruck, als habe eine Taliban-Armee Kabul umringt und als sei es nur noch eine Frage von Stunden, bis die letzte Bastion der afghanischen Regierung in die Hände bärtiger Gotteskrieger fiele.

Ein Realitätscheck könnte dieses Bild eigentlich schnell korrigieren. Denn kaum ein Anschlag in Kabul und tatsächlich nur ganz wenige in anderen Landesteilen werden von mehr als einem halben Dutzend Attentäter ausgeführt. Sicher, für die Opfer ändert das nichts. Doch bemerkenswert ist: Würden genau diese Attacken in westlichen Ländern stattfinden, würden dieselben Medien sie differenzierter als das bezeichnen, was sie sind „Terroranschläge“. Doch kaum geht es um Afghanistan, spielen Details kaum noch eine Rolle, denn wie man längst weiß, „nichts ist gut in Afghanistan“.

Selbstverständlich ist die Lage im Land verfahren und die Situation prekär. Doch dies hat weit weniger mit der Sicherheitslage als mit zahlreichen ungelösten, oft sogar vom Westen – absichtlich oder nicht – ignorierten politischen Problemen im Land und der Gesamtregion zu tun. Es wäre eigentlich zu erwarten, dass deutsche Medien diese Analyse liefern und eben auch einmal größere Zusammenhänge aufzeigen könnten. Zur Erinnerung: Die Bundeswehr befindet sich seit 12 Jahren in Afghanistan, nicht erst seit vorgestern. Und die Bundesregierung setzt sich unter Einsatz massiver Ressourcen für die Überwindung dieser Probleme ein. Dabei werden nicht zuletzt zahlreiche Steuer-Millionen eingesetzt. Doch die deutschen Medien sehen kaum Anlass, hier eine aktive Kontrollfunktion einzunehmen.

 

Afghanistanberichterstattung: Was, wenn niemand vor Ort ist?

Die privaten, aber vor allem die öffentlich-rechtlichen Sender drosseln kontinuierlich ihre Berichterstattung über das Land am Hindukusch. Für deutsche Redaktionen gehören seit Jahren eigentlich nur Anschläge, Befindlichkeiten der vor Ort eingesetzten Bundeswehrsoldaten und die Lage der afghanischen Frauen zur Chronistenpflicht. Der Grund ist banal: Trotz mehr als zehn Jahren Anwesenheit deutscher Institutionen in Afghanistan verstehen deutsche Medien einfach nicht, was in und um Afghanistan vor sich geht. Warum? Ganz einfach: Weil niemand dort ist.

Für deutsche Redaktionen gehören seit Jahren eigentlich nur Anschläge, Befindlichkeiten der vor Ort eingesetzten Bundeswehrsoldaten und die Lage der afghanischen Frauen zur Chronistenpflicht.

Zum Vergleich: Vier Fernseh-, ein Radiosender und sechs Tageszeitungen aus den USA leisten sich 15 US-amerikanische Korrespondenten in Kabul. Allein die New York Times beschäftigt fünf Korrespondenten in ihrem Kabul-Büro, dazu kommen zahlreiche afghanische Stringer im ganzen Land. Die britischen Medien verfolgen ähnlich gut aufgestellt das Land und die Region. Frankreich: drei Korrespondenten. Selbst der niederländische De Volkskraant war bis vor kurzen mit zwei Vollzeit-Journalisten vertreten. Das ist mehr als denkwürdig. Wo bleiben die deutschen Berichterstatter?

Bis auf wenige Ausnahmen gab es schlicht nie akkreditierte deutsche Journalisten in Kabul oder Mazar oder Kunduz. Kein deutscher Sender, keine deutsche Zeitung hatte jemals ein Büro in Kabul. Die deutschen Medien covern das Thema Afghanistan aus ihren Büros in Südasien, hauptsächlich aus dem indischen Delhi. Das ist ein Sicherheitsabstand von 1 000 Kilometern. Sicher, die wagemutigen unter den Asienkorrespondenten reisen zwei, drei Mal im Jahr für zwei Wochen ins Land. Dann werden „Geschichten“ gesammelt, die bis zum nächsten Besuch nacheinander auf den Markt geworfen werden. Diese „Unerschrockenen“ fliegen gelegentlich mit dem Verteidigungsminister, meistens aber mit der Bundeswehr ins Land. Dort sind sie dann Gast der Truppe – und deren Sicherheitsvorschriften sowie zum Teil Themenideen unterstellt.

 

Der letzte Korrespondent machte das Licht aus

Einer der letzten deutschen Korrespondenten in Afghanistan, Ulrich Tilgner, verließ das ZDF 2008 mit harscher Kritik: Es gäbe Bündnisrücksichten, die sich in den redaktionellen Entscheidungen der Sender widerspiegelten. Tilgner beschwerte sich zu Recht darüber, dass die Berichte über Afghanistan immer mehr in den heimischen Redaktionen entstehen, wo man vermeintlich genau Bescheid weiß, welche Entwicklungen jetzt geschildert gehören. Die Verhältnisse vor Ort seien daher mit Verweis auf die Sicherheitslage immer oberflächlicher reflektiert worden. Tilgner beklagte, er habe am Ende eine Art journalistische Folklore betreiben müssen. Die politische Berichterstattung sei dagegen von Kollegen übernommen worden, die mit der Bundeswehr anreisten und zwar weder Land noch Leute dafür aber Bundeswehrlager ganz genau kannten.

So kommt es, dass die Afghanistanberichterstattung in Deutschland stets auf wenige Themen beschränkt geblieben ist. In der Folge sind die komplizierten Hintergründe des Konfliktes stets rätselhaft geblieben.

So kommt es, dass die Afghanistanberichterstattung in Deutschland stets auf wenige Themen beschränkt geblieben ist. Dem Gebühren zahlenden deutschen Publikum sind in der Folge die komplizierten Hintergründe des Konfliktes am Hindukusch und in der gesamten Region stets ein Rätsel geblieben. Denn nicht nur wurde und wird kaum aus dem Konfliktland berichtet. Auch aus Pakistan, den zentralasiatischen Republiken und dem Iran berichten nur eine Handvoll deutscher Medien – und auch dies nur gelegentlich. Im Ergebnis ist eine geopolitisch höchst brisante Region, in der mehrere Atommächte miteinander im Konflikt liegen, unbeleuchtet und unverstanden geblieben.

Dabei wurde das deutsche öffentlich-rechtliche Rundfunksystem einst gegründet, um der schwachen deutschen Demokratie eine finanziell – und damit politisch – unabhängige vierte Gewalt an die Seite zu stellen. Eine Informationsquelle also, die es dem Wahlbürger erlauben sollte, sich ein Bild der Welt und ihrer Politik machen zu können, jenseits von Einschaltquoten und Klickzahlen.

Dennoch ist in deutschen Redaktionen seit Jahren zu hören, Afghanistan interessiere doch keinen Menschen mehr. Warum also berichten? ARD und ZDF, jährlich mit über eine Milliarde Gebühren-Euro ausgestattet, gehen lieber auf Quotenfang, anstatt die komplexen Beziehungen von Großmächten, Drogen, islamistischen Milizen und post-kolonialen Konflikten zu untersuchen, die in einem 2,30-Minuten-Beitrag „eh nicht darstellbar“ seien.

 

Der Fluch des „Deutschlandbezugs“

Die Kritik, die Tilgner 2008 formulierte, gilt heute mehr denn je. Couragierte Korrespondenten, die es noch wissen wollen und in die Region reisen, klagen in privaten Gesprächen über die Provinzialität der deutschen Medien. Egal welches Thema: Es gilt die Devise: „Da muss ein Deutschlandbezug rein!”. Beiträge ohne die obligatorische deutsche Entwicklungshelferin, ohne den tapferen Bundeswehrgefreiten aus Unter Uhldingen werden eingestampft. So sind die Berichterstatter krampfhaft auf der Suche nach dem Pfitzelchen Deutschland am Hindukusch. Doch so entseht keine Berichterstattung, sondern letztlich nur eine Verzerrung der Wahrnehmung.

Auch aus diesem Grund blieb der Satz Peter Strucks, Deutschlands Sicherheit werde auch am Hindukusch verteidigt, grotesk allein und nackt im Gedächtnis der Beobachter. Eine weitergehende Sinnstiftung blieb aus, denn auch deutsche Abgeordnete und Entscheidungsträger haben sich in der Causa Afghanistan stets zurückgehalten. Mehr noch: Seit Beginn des Einsatzes herrschte eine seltsame überparteiliche Einigkeit darüber, dass Afghanistan kein Thema sei. Und schon gar keines zum Streiten.

Der Satz Peter Strucks, Deutschlands Sicherheit werde auch am Hindukusch verteidigt, blieb grotesk allein und nackt im Gedächtnis der Beobachter.

Die Berichterstattung folgte und folgt diesen politischen Duckereien aus Berlin, anstatt selbst die Themen zu setzen. Überforderte Entscheidungsträger und Medienmacher haben so letztlich eine kritische Debatte darüber erstickt, was Deutschland eigentlich am Hindukusch tut.

Was geschieht, wenn sich eines der führenden Exportländer der Welt, der Motor Europas, dazu entschließt, eine Weltregion zu ignorieren, in der Indien, der Iran, Russland und China um Vormachtstellung und Kontrolle ringen, ist jetzt zu beobachten: Denn nach nunmehr einer guten Dekade der Afghanistan-Berichterstattung ist nicht nur anhaltende Ahnungslosigkeit über ein Land zu verzeichnen, in dem sich jahrhundertealte Probleme schnell zu größeren Konflikten entwickeln können, sondern auch eine umfassende Ratlosigkeit über den Sinn des eigenen Tuns. Eigentlich ist das kein Wunder.