Chinas Wirtschaft? „Instabil, unausgewogen, unkoordiniert, unhaltbar.“ China-Bashing? Nein. Mit diesen Worten beschrieb kein geringerer als der ehemalige chinesische Premierminister Wen Jiabao im Jahr 2007 den Zustand der chinesischen Ökonomie. Ein Beleg dafür, dass der chinesischen Führung eines längst klar ist: Ihr bislang praktiziertes Entwicklungsmodell bedarf dringend einer Korrektur.

Sicher, dem Modell China gelang es innerhalb von 25 Jahren, mehr als 470 Millionen Menschen aus der Armut zu befreien. Anders als etwa Russland setzte die chinesische Führung dabei nicht auf eine Schocktherapie, sondern auf einen graduellen Wandel. Umgesetzt wurde ein Reformprozess, der staatlichen Interventionismus mit einer vorsichtigen Liberalisierungsstrategie kombinierte. Und Tag für Tag produzierte ein Heer an Wanderarbeitern zu niedrigen Löhnen Billigprodukte für den globalen Export. China wurde zur Werkbank der Welt.

Im China des Jahres 2014 besteht kein Zweifel daran, dass einige sehr reich geworden sind. Doch von Wohlstand für alle kann wahrlich keine Rede sein.

Doch das Entwicklungsmodell stößt an seine Grenzen. Im Reich der Mitte wachsen die Extreme. Die Einkommens- und Vermögensungleichheit nimmt stetig zu. Die Losung des paramount leaders Deng Xiaopings aus dem Jahr 1985 wird längst nur halb umgesetzt. Dieser hatte damals zugestanden, dass einige Bürger „als erste reich werden“ könnten, um „andere anzuführen und Wohlstand für alle zu erreichen“. Im China des Jahres 2014 besteht kein Zweifel daran, dass einige sehr reich geworden sind. Doch von Wohlstand für alle kann wahrlich keine Rede sein.

 

Die sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Grenzen

Die verantwortungslose Zerstörung von Land, Luft und Wasser zählt nach Untersuchungen der Chinese Academy for Social Sciences (CASS) zu den Hauptgründen sozialer Proteste in China. Im vergangenen Jahr kam es in China zu zehn Massenprotesten mit über 10.000 Beteiligten. Die Hälfte dieser Proteste entzündete sich an Problemen der Umweltverschmutzung.

Eine Herausforderung stellt auch der Trend der schrumpfenden arbeitsfähigen Bevölkerung dar. Er setzt sich auch in diesem Jahr fort. So ist der Anteil der 15 bis 59-Jährigen aufgrund der Ein-Kind-Politik 2014 um 2,4 Millionen gesunken. Bereits jetzt beklagen Unternehmen den durch die demographische Entwicklung verursachten Fachkräftemangel. Die alten Exportmärkte nehmen weniger Produkte ab und verringern somit das Wirtschaftswachstum. Doch die chinesische Wirtschaft muss pro Jahr um sieben bis acht Prozent wachsen, um den jährlich sieben Millionen Studienabgängern adäquate Jobs anbieten zu können. Hinzu kommt ein neuer gesellschaftlicher Trend, auf den die chinesische Führung  bislang keine Antwort gefunden hat. Die junge, frisch aufgestiegene Mittelschicht hat höhere Ansprüche und begehrt gegen Korruption, Umweltzerstörung oder die Verletzung von Arbeitsrechten auf.

 

Machtkampf: Wieviel Markt – wieviel Staat?

Seit der Reform- und Öffnungspolitik scheiden sich die Geister an dem Verhältnis Staat und Markt. Ab Mitte der 1990er Jahre  trat das Führungsduo Jiang Zemin und Zhu Rongji für eine zunehmende Liberalisierung und Privatisierung ein. 2001 mündete diese Politik im Beitritt Chinas in die WTO. Dagegen versuchten Hu Jintao und Wen Jiabao ab der Jahrtausendwende mit einer neuen Arbeits- und Sozialversicherungsgesetzgebung eher den sozialen Ausgleich.

Wieviel Markt und wieviel Staat wird nun das 2012 eingesetzte Führungsduo Xi Jinping und Li Keqiang zulassen? Hinter den Kulissen scheint ein Machtkampf zwischen Marktradikalen und gemäßigten Reformern zu toben, denn die bislang verabschiedeten Partei- und Regierungsdokumente muten wie Kompromisse an. Offensichtlich geht es aktuell darum, die einflussreichen und konkurrierenden Interessengruppen zu befriedigen. Auf dem historisch bedeutsamen 3. Plenum des Zentralkommittees im Herbst des vergangenen Jahres wurde die Rolle des Marktes aufgewertet. Ihm wird nun eine "entscheidende" und nicht mehr nur eine "grundsätzliche" Rolle in der Ressourcenverteilung zugewiesen.

Zugleich jedoch wurde im 3. Plenum jedoch nur eine Umstrukturierung der Staatsunternehmen, keine Privatisierung, angekündigt. Zudem sollen Teile der Gewinne der Staatsunternehmen in die staatlichen sozialen Sicherungssysteme überführt werden. Auch die Eröffnung  der China (Shanghai) Pilot Free Trade Zone, in der zahlreiche Projekte wie die freie Konvertibilität des RMB getestet werden sollen, verlief nicht reibungslos. Das Prestigeprojekt von Premier Li Keqiang wurde erst nach der 6. Lesung im Nationalen Volkskongress verabschiedet - ein  außergewöhnlicher Vorgang in einem Parlament, das nicht grade für kritische Diskussionen bekannt ist.

 

Was ist neu?

Die Schlagworte, die chinesische Politiker bei der Beantwortung dieser Frage anführen, lauten rebalancing und upgrading. Das rebalancing soll die Exportabhängigkeit der Wirtschaft reduzieren und im Gegenzug die Binnennachfrage zur tragenden Stütze des Wirtschaftswachstums machen. Der Leistungsbilanzüberschuss ist innerhalb von sechs Jahren vom zweistelligen Bereich auf nur noch 2,1 Prozent 2013 gefallen. Mit 36 Prozent (2012) des BIP ist der private Konsum im internationalen Vergleich allerdings immer noch sehr gering. Er liegt in der hohen Sparquote begründet, die der Absicherung für Krankheit, Alter und Pflege dient. Eine (wenn nicht die) zentrale Voraussetzung zur Ankurbelung des Binnenkonsums ist daher ein umfangreicher Ausbau der öffentlichen sozialen Infrastruktur, der die Verbraucher vertrauen.

China will die "Werkbank der Welt" durch innovative Industriegüter und Dienstleistungen ergänzen, um die gefürchtete Middle-Income-Trap zu überwinden.

Das Schlagwort des upgrading bezieht sich auf das Hinaufklettern in der Wertschöpfungskette und das Innovationspotential der chinesischen Wirtschaft. So will China die Werkbank der Welt durch innovative Industriegüter und Dienstleistungen ergänzen, um die gefürchtete Middle-Income-Trap zu überwinden. Einer der Vorreiter ist der Internetdienstleister Alibaba, der Ebay erfolgreich vom chinesischen Markt verdrängt hat und ständig neue Dienstleistungen im E-Commerce und im Bereich der sozialen Medien entwickelt. Der geplante New Yorker Börsengang des Unternehmens wird voraussichtlich sogar den Börsengang von Facebook übertreffen.

 

Schluss mit billig: Gut nicht nur für China

Zum Leidwesen vieler Unternehmen sind die Lohnkosten in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen und werden dies auch weiterhin tun. Proteste von Arbeitnehmern gegen zu geringe Löhne und nicht eingezahlte Sozialversicherungsbeiträge wie zuletzt in der Schuhproduktion in Donguan werden nicht abreißen. Zudem hat die chinesische Führung 2013 verkündet, dass sich das Pro-Kopf-Einkommen bis 2020 verdoppeln soll. Dass hierunter die Wettbewerbsfähigkeit Chinas jedoch tatsächlich leiden wird, ist mit Blick auf Befragungen deutscher und anderer europäischer Unternehmen eher unwahrscheinlich. Zwar führen europäische Unternehmen in China unisono die steigenden Lohnkosten als zentrale Herausforderung an, dennoch wollen sie in China weiter expandieren und diejenigen, die an eine Verlagerung von Produktionsstätten denken, wollen in erster Linie neue Märkte erschließen und nicht Lohnkosten senken.

Je höher das verfügbare Einkommen, desto konsumfreudiger wird die heranwachsende chinesische Mittelschicht sein, die prestigeträchtige, ausländische Marken kaufen kann.

China ist in jedem Fall nicht mehr nur Produktionsstandort für den Export sondern längst auch Absatzmarkt von vor Ort produzierten Waren. Hier wirken sich die höheren Löhne positiv aus: Je höher das verfügbare Einkommen, desto konsumfreudiger wird die heranwachsende chinesische Mittelschicht sein, die prestigeträchtige, ausländische Marken kaufen kann. Somit verspricht the end of cheap China nicht nur für China eine erfolgreiche Strategie zu werden.

Dass in China produzierte Produkte für den Export teurer werden, ist für Konsumenten mit einer „Geiz ist geil“-Mentalität zwar keine erfreuliche Neuigkeit. Aber durch die „korrigierten“ Preise werden Güter, die in Amerika, in der europäischen Peripherie oder in Emerging Markets hergestellt werden, künftig bessere Absatzchancen finden. Insofern sind die Preissteigerungen chinesischer Exporte positiv für andere Entwicklungs- und Schwellenländer, da sie ernsthaft mit chinesischen Waren konkurrieren können.

 

Xi hat die Macht, aber wie wird er sie einsetzen?

Xi Jinping gilt als der mächtigste chinesische Führer seit Deng Xiaoping. Seine reale Macht wird sich auch an der Durchsetzung der angekündigten Reformen und schlussendlich am Erfolg „seines“ wirtschaftspolitischen Programms messen lassen. Dabei geht es jedoch nicht um semantische Spitzfindigkeiten wie die "grundsätzliche" oder "entscheidende" Rolle des Marktes, sondern um die Frage, welche Art Staat und welche Art Markt China für die erfolgreiche Umsetzung seines neuen Entwicklungsmodells benötigt. Oder wie es der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz auf den Punkt bringt: "Viele der heutigen Probleme Chinas haben ihren Ursprung in zu viel Markt und zu wenig Staat. Oder anders ausgedrückt: der Staat greift offensichtlich dort ein, wo er nicht sollte, vermeidet es aber in Bereichen, wo dies erforderlich wäre."