Immigration war ein zentrales Thema der jüngsten Wahlkampagnen in Frankreich und den Niederlanden. Bedenken gegen Zuwanderung gelten als entscheidender Grund für den Brexit. Wie stehen linksgerichteten Wähler zu diesem Thema?
In einer Umfrage im Januar 2017 haben sich die nach eigenen Angaben links orientierten Wähler in Großbritannien zwar öfter für die Beibehaltung des Status Quo ausgesprochen als andere Wähler, aber dennoch zu einem noch größeren Teil eine Verschärfung der Zuwanderungsregeln befürwortet. Für eine Lockerung der Regelungen waren nur 7 Prozent der linken Wähler (gegenüber 16 Prozent der gesamten Wählerschaft), für eine Beibehaltung 34 Prozent (gegenüber 19 Prozent) und für eine Verschärfung 45 Prozent (gegenüber 69 Prozent aller Wähler). Diese Spaltung des linken Lagers stellt eine Herausforderung dar, mit der sich Sozialdemokraten bei den letzten Wahlen europaweit konfrontiert sahen.
Die Einwanderungspolitik ist zu einer großen Herausforderung für Mitte-links-Parteien geworden, weil die Trennlinie zwischen Begeisterung für- und Sorge um Einwanderung mitten durch sie verläuft. Wenn die linke Mitte dieses Problem nicht lösen kann, steht es tatsächlich schlecht um ihre Aussichten bei den kommenden Wahlen.
Man hört oft, dass die Vorbehalte gegen Immigranten dort am stärksten sind, wo es nur wenige Zuwanderer gibt. Stimmt das, und wenn ja, warum?
Gemeinschaften, die schon über einen langen Zeitraum eine große Zuwanderungsrate gewohnt sind, wie London und andere europäische Großstädte, haben häufig die positivsten Ansichten zur Immigration, woraus viele genau diese Schlussfolgerung ziehen. Wenn man sich aber etwas genauer mit den Daten auseinandersetzt, ist es nicht ganz so einfach.
Der Wissenschaftler Eric Kaufman hat sich genauer mit der Beziehung zwischen dem Erfolg der Anti-Einwanderungspartei UKIP in Großbritannien und den Migrationsbewegungen befasst. Er stellte fest, dass die stärksten Zustimmungsraten für UKIP in der Nachbarschaft von Gemeinden zu verzeichnen waren, in denen sich die Bevölkerungszusammensetzung durch Zuwanderung in letzter Zeit sehr schnell verändert hatte.
Es wäre also hilfreich, die Ansichten über Zuwanderung in einer Gemeinde als Reaktion auf das Ausmaß wie auch auf die Geschwindigkeit des demographischen Wandels zu interpretieren.
Was können Mitte-links-Parteien nach ihrer Einschätzung tun, um den Brückenschlag zwischen ihrer traditionellen Wählerschaft aus der Arbeiterklasse und den städtischen Eliten zu schaffen – also zwischen Menschen, die sich um die Zuwanderung sorgen und Menschen, die sie als Gewinn betrachten?
Die Mitte-links-Parteien haben drei Möglichkeiten: Sie können sich auf die Seite der liberalen Mittelschicht oder auf die Seite der konservativeren Arbeiter schlagen oder versuchen, sich bei diesem Thema irgendwie durchzuschummeln. Bei der britischen Parlamentswahl 2015 hat die Labour-Partei unter Ed Miliband letzteres versucht und wurde aus diesem Grund von beiden politischen Flügeln aus stark kritisiert.
In der Ausrichtung der meisten europäischen Mitte-links-Parteien ist über die letzten Jahrzehnte eine Vorliebe für eine höchst liberale Einwanderungspolitik deutlich geworden, die bei der mittelständischen Wählerbasis auf Zustimmung trifft. Angesichts der Stimmverluste in der Arbeiterklasse (und dem damit einhergehenden Machtverlust) lässt sich nun wahlstrategisch argumentieren, dass die Position zur Immigration überdacht werden sollte, um die Ansichten und Sorgen der Arbeiter besser widerzuspiegeln. Dies gilt insbesondere in Bezug auf die berechtigten Sorgen über niedrige Löhne, Konkurrenz durch geringqualifizierte Arbeitskräfte und über eine Geschwindigkeit des demographischen Wandels, mit der lokale Integrationsbemühungen nicht Schritt halten können.
Wenn die linke Mitte überleben und gedeihen will, muss sie sich wieder mit der Arbeiterklasse solidarisieren und das auch im Bereich der Zuwanderungspolitik.
Außerdem müssen sich die Mitte-links-Parteien ins Gedächtnis rufen, dass sie von, mit und für Wähler der Arbeiterklasse gegründet wurden und ihnen moralisch verpflichtet sind. Ihr Zweck ist es nicht, lediglich die Macht und die Vorteile der liberalen Mittelschicht weiter auszubauen. Persönlich kann ich als Sozialdemokrat der fabianischen Schule nichts Verwerfliches an dem Gedanken finden, die Märkte zum Vorteil der Arbeiter regulieren zu wollen. Das umfasst auch den Arbeitsmarkt. Daher gibt es meiner Ansicht nach ein gutes, linkes Argument für eine Zuwanderungspolitik, die Arbeiterlöhne schützt, die auf Grundlage berechenbarer maximaler Zuwanderungsraten eine vernünftige Planung öffentlicher Projekte ermöglicht und eine Integration auf Ebene der Gemeinden sicherstellt.
Ein gutes Beispiel für die praktische Umsetzung dieser Politik ist Kanada. Als Land, das schon lange als glänzendes Beispiel für liberale Werte gilt, betreibt Kanada in der Praxis eine strenge Regulierung der Wirtschaftsmigration in Kombination mit einer großzügigen Flüchtlingspolitik.
Kurz gesagt hat der liberale, bürgerliche Flügel der der linken Mitte lange genug den Ton angegeben. Wenn sie überleben und gedeihen will, muss sie sich wieder mit der Arbeiterklasse solidarisieren und das auch im Bereich der Zuwanderungspolitik.
Schweden ist ein Beispiel, wo die Politik auf den Wandel in der Debatte um Einwanderung reagiert hat. Wie hat sich das bemerkbar gemacht?
In Schweden hat das Thema Immigration zuletzt definitiv an Bedeutung gewonnen. Manche Umfragen sehen sogar die immigrationskritischen „Schwedischen Demokraten“ vorne (so auch die letzte YouGov-Umfrage, die sie bei 24 Prozent sieht). Als wir im letzten Sommer nach den derzeit wichtigsten Problemen fragten, mit denen Schweden konfrontiert sei, wurde das Thema Einwanderung mit 46 Prozent am häufigsten genannt.
Interessanterweise konnten ausgerechnet die schwedischen Sozialdemokraten in diesem Bereich über das letzte Jahr hinweg gute Umfrageergebnisse erzielen, da sie ohne Umschweife auf die Sorgen ihrer Wähler zu diesem Thema eingegangen sind. Sie haben keine Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners verfolgt, sondern durch eine beständige Politik gezeigt, dass sie die Sorgen der Menschen über das Tempo der migrationsbedingten Veränderungen in Schweden verstehen und respektieren. Außerdem zeichnen sich ihre Vorschläge für Maßnahmen in diesem Bereich dadurch aus, dass sie sorgfältig vor dem Hintergrund der Alltagserfahrungen der Wähler begründet werden. Dabei liegt der Schwerpunkt nicht auf Statistiken, sondern auf Geschichten, um ein emotionales Verständnis des Themas zum Ausdruck zu bringen.
Das politische Problem, das die Zuwanderungspolitik für die schwedischen Sozialdemokraten darstellt, wurde dadurch natürlich nicht vollständig gelöst. Es ist allerdings gelungen, die emotionale Temperatur des Themas zu senken und einen Teil der Wähler zurückzugewinnen. Außerdem wurde es dadurch möglich, auch wieder über andere Themen sprechen zu können.
Wenn man die Haltungen zur Immigration von außerhalb der EU betrachtet, kann man eigentlich keine klare Aufteilung in West- und Osteuropa feststellen.
Wie unterscheiden sich die Haltungen osteuropäischer Wähler zur Immigration von denen der Westeuropäer?
Wenn man die Haltungen zur Immigration von außerhalb der EU betrachtet, kann man eigentlich keine klare Aufteilung in West- und Osteuropa feststellen. In sechs von zwölf Ländern, die wir diesbezüglich untersucht haben, stimmten über 50 Prozent der Befragten der Aussage zu, die Immigration aus Nicht-EU-Staaten sei „schlecht für“ das jeweilige Land. Darunter waren sowohl westeuropäische (Finnland, Dänemark, Italien, und Frankreich) als auch osteuropäische Staaten (Litauen und Polen). Genauso verhält es sich mit den am wenigsten feindseligen Ländern, angeführt von Spanien (38 Prozent) und Rumänien (39 Prozent).
In Bezug auf die Einwanderung aus anderen EU-Staaten gibt es hingegen ein deutlicheres Ost-West-Gefälle. Hier wird die Liste der Immigrationsgegner von Frankreich (35 Prozent), Großbritannien (33 Prozent), Italien (29 Prozent) und den Niederlanden (27 Prozent) angeführt. Drei der vier Länder mit den wenigsten Einwänden gegen EU-Migranten liegen in Osteuropa: Polen (15 Prozent), Litauen (16 Prozent) und Rumänien (17 Prozent), etwa gleichauf mit dem vierten Land Schweden (17 Prozent). In Deutschland waren 20 Prozent der Befragten gegen EU-Migranten und 48 Prozent gegen Einwanderer von Außerhalb.
Wie ist die Diskrepanz in der Haltung sozialdemokratischer Politiker aus Ost- und Westeuropa gegenüber Migranten zu erklären?
Das lässt sich einfach als Reaktion der Politiker auf ihre jeweilige Wählerschaft erklären. Und damit meine ich nicht einfach eine Reaktion auf Umfragewerte und Wahlergebnisse, sondern eher den Einfluss der persönlichen Erfahrungen der Politiker mit ihren Wählern. Es ist gut möglich, dass die stärker in den Gemeinden verorteten Politiker in Osteuropa einfach direkter die Ansichten mancher ihrer Wähler wiederspiegeln, als es bei ihren westeuropäischen Kollegen der Fall ist. Diesbezüglich macht sich auch der Anstieg technokratischer Berufspolitiker im Westen bemerkbar, die aufgrund ihres bürgerlich-liberalen Hintergrunds oft von der Teilöffentlichkeit des Arbeitermilieus isoliert sind.
Glauben Sie, dass die europäischen Mitgliedstaaten jemals einen Kompromiss in Bezug auf die Umsiedlung von Flüchtlingen finden werden?
Absolut. Der Maßstab dieser Herausforderung ist so groß und das Eintreffen weiterer Flüchtlingskrisen ist so wahrscheinlich, dass Europa auch noch einmal darauf reagieren müssen wird. Es gibt eine einfache, logische und gerechte Lösung für diese Herausforderung, die ich für unumgänglich halte: Die Aufteilung von Flüchtlingen auf die europäischen Mitgliedstaaten auf Grundlage einer Quote. In diesem Fall ist eine entschieden auf europäischer Ebene verortete Politik notwendig, um die Last der Gastgemeinden gerecht zu verteilen und auch um die beste Unterstützung der Flüchtlinge selbst zu ermöglichen, indem man sie an Orten und in Zahlen ansiedelt, denen die örtlichen Integrationsbemühungen auch gewachsen sind.