„Verdampfen“. Am Ende werde Belgien einfach verdampfen und niemand werde es noch merken. So Bart De Wever, der populärste flämische Politiker, Vorsitzender der flämischen Separatisten von der Nieuw-Vlaamse Alliantie (N-VA) und Sieger der Europa-, Föderalstaat- und Gliedstaatwahlen vom 25. Mai.

Separatismus nennt man hier, den Zentralstaat langsam aber unaufhörlich unter der Europäischen Union und den Gliedstaaten aufzuteilen. Bis nichts mehr davon übrig bleibt. Seit 1970 wird der belgische Staat so schrittweise „föderalisiert“. Alle paar Jahre wird eine „Staatsreform“ veranstaltet, bei der weitere Zuständigkeiten des Zentralstaates an die Bundesländer übergeben werden. 1988 haben dabei die belgischen Bundesländer die deutschen überholt. Inzwischen bleiben dem Zentralstaat nur noch Verteidigung, Innere Sicherheit, Steuern, Sozialversicherung, Gesundheitspolitik und die Federführung in der Europapolitik.

Man findet in Belgien fast niemanden mehr, der diese Föderalisierung ablehnt. Unterschiede gibt es nur in der Finalität dessen, was dabei in Zukunft herauskommen soll: Föderalisten wollen den Zentralstaat als eigenständige Ebene erhalten, Konföderalisten den Zentralstaat zu einer intergouvernementalen Einrichtung der Gliedstaaten umformen, Separatisten den Zentralstaat verdampfen lassen. Dabei soll der Konföderalismus das Problem lösen, dass ein frischgebackenes neues Land einen Neuaufnahmeantrag bei EU, NATO etc. stellen müsste. Diese Vorstellung ist so unangenehm, dass eine Art leere Hülle des Zentralstaats als Träger internationaler Verträge übrigbleiben soll.

In Belgien nennt man Separatismus den Rauswurf eines ärmeren und kleineren Landesteiles durch diejenigen, die das Land wirtschaftlich und politisch dominieren.

Anderswo assoziiert man mit Separatismus einen kleinen, unterdrückten Landesteil, der sich von einem größeren dominanten Land abspalten will. In Belgien nennt man Separatismus den Rauswurf eines ärmeren und kleineren Landesteiles durch diejenigen, die das Land wirtschaftlich und politisch dominieren. Das Establishment sieht sich selbst als Opfer. Opfer einer mehr als hundertjährigen Unterdrückung durch französischsprachige Eliten. Diese nennt man in Flandern „Wallonen“, nach dem fernen anderen Landesteil, damit sich die flämischen Eliten nicht fragen lassen müssen, welche Sprache eigentlich die eigenen Großeltern sprachen. Diese „Unterdrückung“ ist in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verlorengegangen aber in Flandern will man das noch nicht gemerkt haben.

Ja, Verfassung und Verfassungstradition bestimmen, dass auf der Föderalstaatsebene mit doppelten, flämischen und frankophonen, Mehrheiten regiert werden sollte. Und wenn die Wahlergebnisse in beiden Landesteilen mal wieder unterschiedlich ausfallen, wie 2007, 2010 und 2014, dann ist es besonders schwierig, eine Regierung zu bilden, die rechts und links vereinen muss. Das ist bei gleichlaufenden Wahlergebnissen anders, weswegen es 1999 und 2003 ziemlich flott mit der Regierungsbildung gegangen war. Für die linken Wallonen sind es die rechten Flamen, die eine vernünftige Politik blockieren. Für die rechten Flamen sind es die linken Wallonen. Beide haben ihrer jeweiligen Sicht damit Recht. Belgien kann man nur im Kompromiß regieren, und mit Kompromissen sind nur wenige zufrieden.

 

Was wird aus Brüssel?

Nicht von ungefähr wundern sich etwa die Tschechen über die belgischen Verrenkungen eines immer komplexer werdenden Föderalsystems. Die zügige und vollständige Teilung der Tschechoslowakei war doch ein Erfolg. Sollte man sie nicht am besten einfach nachahmen? Doch Prag lag nicht in der Slowakei. Belgien wäre vielleicht schon vor Jahrzehnten geteilt worden, wenn nicht beide Seiten die Großstadt Brüssel für sich beanspruchten. Vor hundert Jahren war die Stadt noch mehrheitlich niederländischsprachig, heute spricht weniger als 10 Prozent der Brüsseler Wohnbevölkerung zu Hause noch niederländisch. Nationalisten argumentieren historisch: Was „schon immer“ niederländischsprachig gewesen sei, gehöre selbstverständlich zu Flandern. Die Nationalisten haben nur keine Antwort auf die Frage, wie sie die französisch- oder anderssprachige Mehrheit der heutigen Einwohner davon überzeugen sollen.

Der letzte Vorschlag aus den Reihen der N-VA war die Aufhebung des Selbstbestimmungsrechtes der Bürger des Bundeslandes Brüssel und die Verwaltung Brüssels als flämisch-wallonisches Kondominium, eine Art Riesen-Andorra. Nicht gerade eine Idee, die geeignet ist, innerhalb des Stadtstaates viele Freunde zu gewinnen... Es mehren sich aber Zeichen, dass jüngere Nationalisten mit der Multikulti-Stadt Brüssel ohnehin nichts anzufangen wissen. Vielleicht ist es nur eine Frage der Zeit, dass man einseitig auf Brüssel verzichtet?

Deutschland, Italien, Spanien und Großbritannien kennen weitaus größere Transfers zwischen reicheren und ärmeren Regionen.

Je nach Fragestellung bekennen sich in Umfragen 8 bis 15 Prozent der Flamen zum Separatismus. Doch sie wählen zu knapp 40 Prozent Parteien, die eben diesen vertreten. Warum? 85 Prozent der Belgier leben in einer rein einsprachigen Umgebung, in Flandern oder der Wallonie. Auch die Medienwelten sind getrennt, Flandern ist der selbstverständliche Bezugsrahmen der niederländischsprachigen Berichterstattung. „Belgier“ sind nur noch zufällig anderssprachige Sportler. Allein in Brüssel, entlang der Sprachgrenze und im deutschsprachigen Ostbelgien gibt es noch regelmäßige Kontakte mit einer anderen Sprachgruppe. Viele Flamen sind dem Separatismus gegenüber eigentlich indifferent, wählen aber N-VA oder Vlaams Belang (VB) aus anderen Gründen.

Denn man erzählt ihnen von enormen Finanztransfers, die allerdings tatsächlich nur in der Imagination existieren. Deutschland, Italien, Spanien und Großbritannien kennen weitaus größere Transfers zwischen reicheren und ärmeren Regionen. In Belgien nennt man es schon „Transfer“, dass in einem Landesteil mehr Geld in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt und im anderen mehr ausgezahlt wird.

Während Politiker jetzt verbissen versuchen, die notwendigen neuen Regierungen zu bilden, lässt das die Bürger ziemlich kalt. Wer braucht schon Regierungen? Die Sonne scheint, das dicke, vom Arbeitgeber bezahlte Auto steht auf der Garagenauffahrt, und kurz vor dem Sommerurlaub feiern wir jetzt erst einmal die beste Fußballmannschaft, die wir seit Jahrzehnten auf eine WM geschickt haben. Nach dem Urlaub können wir immer noch nachschauen, wie weit die Politiker bis dahin mit ihren Hausaufgaben gekommen sind: Ob wir wieder einmal neue Regierungen haben. Oder halt wieder eine "regierungslose" Zeit. Für die letzte gab es übrigens Lob vom New York Times Kolumnisten Paul Krugmann: Da Belgien in der letzten Wirtschaftskrise keine handlungsfähige Regierung hatte, konnte es auch nicht wie die Nachbarländer kaputtgespart werden. Während überall die Arbeitslosigkeit in die Höhe ging, blieb sie in Belgien stabil.