Bei fast jeder Wahl steht viel auf dem Spiel. In Europa haben wir in jüngster Zeit oft erlebt, dass Wahlergebnisse die politische Landschaft weit über die Dauer einer parlamentarischen Periode hinaus verändert haben. Die Parlamentswahl in Großbritannien am 7. Mai ist solch ein richtungsweisender Moment. Denn sie wird nicht nur darüber entscheiden, welche Partei (oder Parteien) die Regierung stellen, sondern sie wird auch Einfluss darauf haben, ob Großbritannien Mitglied der Europäischen Union bleibt.
David Cameron, Premierminister und Chef der Konservativen Partei, hat bereits erklärt, dass er im Falle eines Wahlsiegs die Bedingungen der britischen EU-Mitgliedschaft neu verhandeln und das Ergebnis dem britischen Volk zur Abstimmung vorlegen wird. Cameron gab dieses Versprechen zur Hälfte seiner Amtszeit. Sein Ziel war es damals, von einer in Westeuropa einzigartigen finanzpolitischen Neuausrichtung abzulenken, dem lärmenden euroskeptischen Flügel seiner Partei einen Brocken hinzuwerfen und der Gefahr durch die populistisch und nationalistisch ausgerichtete EU- und einwanderungsfeindliche Ukip zu begegnen. Seine Gründe waren so egoistisch wie das Unterfangen riskant. Großbritannien ist im Handel, der Schaffung von Arbeitsplätzen und der Wahrung seines internationalen Einflusses auf die EU-Mitgliedschaft angewiesen. Ein Austritt hätte mittel- und langfristig weitreichende Folgen für die Wirtschaft und die Stellung des Landes in der Welt.
Egal, welche Gründe Mr. Cameron hatte: Mit seiner Ankündigung zwang er Labour und die Liberaldemokraten, zur Frage einer Volksabstimmung ebenfalls Position zu beziehen. Sowohl die Labour Party, seit geraumer Zeit eine der europafreundlichsten parlamentarischen Parteien in Großbritannien, als auch die traditionell EU-freundlichen Liberaldemokraten haben eine Volksabstimmung zur EU-Mitgliedschaft ausgeschlossen, es sei denn, es fände ein starker Machttransfer von der nationalen zur europäischen Ebene statt (ähnlich der Wirtschafts- und Währungsunion).
In den fünf Jahren als Premierminister hat sich Cameron in Brüssel stets konfrontativ verhalten. Statt Allianzen zu schmieden, hat er es geschafft, auch noch einige der natürlichen Verbündeten Großbritanniens zu vergraulen.
Die endgültige Position beider Parteien wird natürlich vom Wahlergebnis abhängen. Für den Fall, dass die Konservativen keine Mehrheit erhalten, hat die Führung der Liberaldemokraten beispielsweise angekündigt, dass sie die Volksabstimmung eventuell in die Koalitionsverhandlungen aufnehmen würde. Dieser Schritt dürfte in der liberaldemokratischen Partei reichlich Diskussionsstoff liefern, zeigt aber, dass die Position der Parteien zum Referendum womöglich nicht so endgültig ist, wie sie aussieht.
Für den Fall, dass Labour eine knappe oder gar keine Mehrheit erringt und gezwungen ist, eine Minderheitsregierung zu führen, wird sie sich der Forderung nach einem Referendum von Seiten der Ukip und der Konservativen kaum verschließen können (die Tories werden Cameron im Falle einer Niederlage vermutlich durch einen deutlich euroskeptischeren Parteichef ersetzen). Selbst wenn Labour eine »proeuropäische« Koalitionsregierung mit Unterstützung der Liberaldemokraten und (was weniger wahrscheinlich ist) der Scottish National Party bildet, wird der Druck von der rechten Seite des politischen Spektrums dafür sorgen, dass die Frage einer Volksabstimmung die politische Debatte in der nächsten Legislaturperiode beherrschen wird.
Labour-Chef Ed Miliband wünscht sich nichts weniger, als dass eine mögliche Amtszeit als Premierminister vom EU-Referendum dominiert wird, zumal er sich der Wirtschaft als derjenige präsentiert hat, der die Unsicherheit ausräumen und eine konstruktivere Beziehung zu den EU-Partnern Großbritanniens aufbauen kann. Wenn er jedoch mit einer knappen Mehrheit oder einer zerstrittenen Koalition regieren muss, könnte er zu dem Schluss gelangen, dass es politisch unvermeidbar ist, den ständigen Forderungen nach einem Referendum von Seiten der Opposition und der euroskeptischen Presse eine Ende zu setzen, indem er ihnen nachgibt.
Die erzwungene Diskussion um den BREXIT
Mit seiner Ankündigung eines Referendums zwang Cameron auch andere EU-Staatschefs dazu, ernsthaft über die Möglichkeit eines britischen Austritts nachzudenken. Zwar unterstützen die meisten Mitgliedsstaaten mit Nachdruck einen Verbleib Großbritanniens in der EU, doch sind nur wenige bereit, Mr. Camerons und Großbritannien eine Sondervereinbarung zuzugestehen, die es dem Land erlaubt, alle Vorzüge der Gemeinschaft zu genießen, seiner Verantwortung jedoch nicht nachzukommen. Die von einigen Politikern in Westminster vertretene Ansicht, dass ein britischer Sonderweg seine Berechtigung hätte, reicht nicht weiter als bis zum Ärmelkanal. Camerons grobschlächtiger diplomatischer Stil war da keine Hilfe. In den fünf Jahren als Premierminister hat er sich in Brüssel stets konfrontativ verhalten. Statt Allianzen zu schmieden und Freunde zu gewinnen, hat er es geschafft, auch noch einige der natürlichen Verbündeten Großbritanniens zu vergraulen, als er die Mitte-Rechts-Fraktion der EPP im Stich ließ und sein Veto gegen den Fiskalpakt zur Bekämpfung der existenziellen Staatsschuldenkrise in der Eurozone einlegte, als er drohte, den EU-Haushaltsplan zu blockieren und als er das Recht auf Bewegungsfreiheit innerhalb der EU infrage stellte, das für die gesamte Europäische Union symbolische Bedeutung hat. Großbritannien dürfte es folglich schwer fallen, Mitgliedsstaaten zu finden, die die für eine britische Sonderregelung notwendige Revision des Mitgliedsvertrages unterstützen würden.
Das neue EU-Leitbild aus der Downing-Street
Nicht zuletzt hat Cameron mit seinem Versprechen, eine Volksabstimmung durchzuführen, aber auch neuen Wind in die Debatte gebracht und viele Europa-Freunde dazu veranlasst, sich für die EU-Mitgliedschaft auszusprechen. Vertreterinnen und Vertreter aus Wirtschaft, Politik, Gewerkschaften und nichtstaatlichen Organisationen sind aus ihrer Lethargie erwacht und werben nun aktiv für das Projekt der Europäischen Integration. Die öffentliche Meinung ist daher mittlerweile gekippt. Jüngst hat eine YouGov-Umfrage ergeben, dass 46 Prozent der Briten für einen Verbleib in der EU und 36 Prozent für einen Austritt sind. In einer IpsosMori-Umfrage waren es Ende letzten Jahres sogar 56 zu 36 Prozent. Nach einer Reihe von Skandalen um ihre Parlamentskandidaten und Abgeordneten schwindet unterdessen auch die Popularität der Ukip, die Umfragen zufolge bei etwa zwölf Prozentpunkten verharrt und damit deutlich unter den 27 Prozent liegt, die ihr 2014 in den Europawahlen den Sieg brachten.
All dies vollzieht sich in einer Zeit, in der die EU einen von den Briten durchaus erwünschten Kurs eingeschlagen hat. Sowohl die Beschlüsse des Europarates im Juli 2014 zur Strategie für die nächste Zukunft, als auch die Ziele der Europäischen Kommission für das Jahr 2014 bis 2019 sind der von Großbritannien propagierten Agenda erstaunlich nah. Mit der Betonung des Wettbewerbs, der Deregulierung, des Handels und einer Ausweitung des Binnenmarktes könnte man fast meinen, das neue Leitbild sei in der Downing Street verfasst worden. Es ist paradox, dass genau in dem Moment, in dem sich die EU nach den von Großbritannien gebetsmühlenartig geforderten Vorgaben verändert, Großbritannien auf den Ausgang zusteuert.
Wie die Welt in Westminster nach dem 7. Mai aussehen wird, ist ungewiss. Eine Vorhersage über den Wahlausgang wäre unklug, doch egal, wie das Ergebnis aussieht: Die Wahl entscheidet nicht nur darüber, wer in den nächsten fünf Jahren auf den Abgeordnetenbänken des Unterhauses sitzen wird. Diese Wahl könnte alles verändern.
3 Leserbriefe
1. Safeguard the City!!!
2. EU als Europäische Freihandelszone ohne politische Dimension; Weder Cameron noch Bill Cash noch Farage anerkennen die EU-KOM, noch haben sie die Verträge zur Montanunion gelesen.
3. Die EU muss britischen Interessen angepasst werden.
Dazu haben wir noch Junker den unsolidarischsten Politiker der verfügbar war als EU Chef erhalten, zusammen mit einem alkoholkranken Buchkrämer. Wenn nicht jetzt wann dann. EU Adieu - -Europa Welcome