Als Tony Blair vor zehn Jahren zum dritten Mal hintereinander die Parlamentswahlen gewann, schien es durchaus möglich, dass die Labour Party die britische Politik im 21. Jahrhundert auch weiterhin beherrschen würde. Doch fünf Jahre später, in der Parlamentswahl 2010, wurde Labour mit einem Stimmenanteil von 29 Prozent und einer Stimmenanzahl von 8,6 Millionen aus dem Amt gewählt. Es war das zweitschlechteste Ergebnis der Nachkriegsgeschichte. Wenn die Labour Party bei der Parlamentswahl im Mai 2015 gewinnen will, muss sie zu den 258 Abgeordneten, die sie 2010 ins Unterhaus brachte, 68 hinzugewinnen, um wieder unangefochten regieren zu können.
Dafür hat die Partei zwei Hürden zu überwinden, die Oppositionsparteien nur selten nehmen. Die erste ist der Wirtschaftsaufschwung (die Wirtschaft wuchs 2014 in Großbritannien um 2,6 Prozent gegenüber 1,7 Prozent 2013). Das ist ein Faktor, der normalerweise der Regierungspartei nützt. Die zweite Hürde ist die Rückkehr zur Macht nach nur einer Amtszeit in der Opposition. Das ist in der Ära des Allgemeinen Wahlrechts in Großbritannien nur einmal vorgekommen - und zwar 1974. Vor diesen Hürden steht die Labour Party in einer Zeit, in der Umfrage für Umfrage die Konservativen in Wirtschaftsbelangen im Vertrauen der Wähler vor Labour und Ed Miliband in der Frage nach dem »besten Premierminister« hinter David Cameron liegt.
Obwohl die derzeitige konservativ-liberaldemokratische Koalition seit langem äußerst unpopulär ist, ist Labour seit 2010 kein politischer Durchbruch gelungen. Die Führung, die Labour in den Meinungsumfragen 2012 bis 2014 noch hatte, ist Anfang 2015 vollends verloren gegangen. Die Wählerinnen und Wähler machen nach wie vor nicht die globale Finanzkrise 2008, sondern Labour für die wirtschaftlichen Probleme Großbritanniens verantwortlich. In der traditionellen Labour-Hochburg Schottland droht die Partei von der nationalistischen Bewegung hinweggefegt zu werden. Nach allen Regeln der Logik dürfte Ed Miliband am 7. Mai daher kaum Chancen haben, Premierminister zu werden.
Und doch geht Labour 2015 auch mit einer Reihe von Vorteilen in die Parlamentswahl, die sich nicht so leicht von der Hand weisen lassen. Der erste Bonus ist, dass auch den Konservativen kein Durchbruch gelang. Camerons Tories gelten weiterhin als Partei der Reichen, die sich bislang die Loyalität der wahlentscheidenden britischen Mittelschicht nicht sichern konnte. Der zweite Bonus ist der kleine Koalitionspartner, die Liberaldemokraten, die seit 2010 kontinuierlich an Zuspruch verloren haben, überwiegend zugunsten von Labour.
Die Labour Party hat den Vorteil, dass sie sich nach der Niederlage 2010 nicht selbst zerfleischt hat. Als die Partei 1951,1970 und 1979 die Macht verlor, spaltete sie sich jeweils dramatisch in einen linken und einen rechten Flügel. Das ist nach 2010 nicht geschehen. Obwohl Milibands Wahl zum Parteichef umstritten war – er bezwang mit Unterstützung der Gewerkschaften seinen Bruder David –, hat Labour politische Disziplin bewahrt. Das lässt sich teilweise damit erklären, dass Miliband interne Auseinandersetzungen meidet, spricht aber auch dafür, dass die Partei aus Fehlern der Vergangenheit lernt. Die Parteirechte legt Wohlverhalten an den Tag, und auch die Linke (vor allem die Gewerkschaften) macht gelegentliche Drohungen nicht wahr.
Milibands Führungsstil seit 2010 zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass er das Erbe der Regierungen Tony Blair und Gordon Brown 1997 bis 2010 nie gänzlich angenommen, aber auch nicht rundweg abgelehnt hat. Vielmehr hat er den Kampf zwischen »New Labour« und »Old Labour« abgehakt und hinter sich gelassen. In den vergangenen fünf Jahren hat Miliband für die britische Mittelschicht ein Angebot für die Zeit nach der Finanzkrise ausgearbeitet. Er hat den Schwerpunkt auf die Lebenshaltungskosten, vor allem für Kraftstoff, gelegt, und in das Konzept »One Nation Labour« eingebettet. In der Außenpolitik ist Labour deutlich europafreundlicher als die Tories; Milibands bislang wichtigster außenpolitischer Schritt war die Ablehnung einer Intervention in Syrien.
In einigen großen Themen jedoch hat sich die Partei noch nicht klar positioniert, besonders in der Frage, ob die Staatsausgaben nach 2005 hätten gekappt werden müssen, wie es die Konservativen nun ständig fordern, es damals indes nicht umsetzten. Auch bei der Einwanderung, der Reform des Sozialstaats und den Beziehungen zur Wirtschaft tut sich Labour schwer, eine Position zu finden. Dennoch scheinen die meisten Labour-Anhänger zufrieden zu sein. Sie finden Miliband vielleicht weder liebenswert noch sonderlich inspirierend, doch der Partei, die er führt, bleiben sie treu. Um mit dem Meinungsforscher Michael Ashcroft zu sprechen: Sie sehen in Ed Miliband offenbar den Preis, der für eine Labour-Regierung zu zahlen ist.
Das alles ist Welten entfernt von dem politisch ehrgeizigen Kurs der Blair-Jahre. Oft hört man den Vorwurf, der nie völlig ausgeräumt werden konnte, dass Miliband einer sogenannten »35-Prozent-Strategie« folgt, dass er sich also die Loyalität der 29 Prozent sichert, die Labour 2010 wählten, und zusätzlich den enttäuschten Liberaldemokraten eine Heimat bietet, dass er aber auf der Suche nach Labour-Tory-Wechselwählern nicht zu weit nach rechts schwenkt. Wenn es der Partei gelänge, in Schottland ihre Position zu halten, könnte dieser Kurs Miliband im Mai 2015 einen knappen Sieg sichern. Ohne Schottland allerdings ist es ein sehr steiniger Weg.
Dass Miliband die Wahlkampfstrategien Tony Blairs nicht übernimmt, heißt allerdings nicht unbedingt, dass seine Partei dramatisch nach links gerückt wäre: Miliband hat sorgsam vermieden, höhere Staatsausgaben zu versprechen, ausgenommen in der Infrastruktur, wo jedoch viele Pläne vage bleiben. Die von der Regierung geplanten deutlichen Ausgabenkürzungen im öffentlichen Sektor werden von Labour mitgetragen. Den Gewerkschaften gegenüber wurden nur wenige Zugeständnisse gemacht. Eine Erhöhung der Mehrwertsteuer und der Sozialversicherungsbeiträge wurde ausgeschlossen. Der Spitzensteuersatz soll wieder 50 Prozent betragen, und auf teure Häuser ist eine Immobiliensteuer geplant, doch ansonsten findet sich im Labour-Programm kaum etwas, das in der rechten Presse Gruselgeschichten über die Steuerpolitik provozieren könnte, wie sie in den britischen Wahlkämpfen vor Blair an der Tagesordnung waren.
Der strategische Ehrgeiz früherer Labour-Wahlkämpfe geht Milibands Partei ab. Dennoch passt ihre Strategie womöglich besser in die Zeit nach der Krise als beispielsweise die ehrgeizigen Wahlversprechen der französischen Sozialisten 2012. In einer Zeit, in der sich Mitte-Links-Parteien in weiten Teilen Europas schwer tun, Wahlen zu gewinnen, sollte man Milibands merkwürdige Mischung aus ideologischer Sturheit und programmatischem Pragmatismus nicht unterschätzen. Man kann jedoch davon ausgehen, dass eine Regierung Miliband keine starke Regierung wäre. Bei der 35-Prozent-Strategie geht es ums Gewinnen. Das Regieren ist danach ungleich schwieriger.
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