Das Thema Polizei polarisiert: Für Fernsehzuschauer liegt zwischen der Faszination für Krimiserien und der Kontroverse über Polizeigewalt oftmals nur ein Werbeblock. Das gilt für Deutschland, aber mehr noch für die USA. Und spätestens nach dem Tod von George Floyd, für den ein Polizist des Minneapolis Police Department im Mai 2020 wegen Mord zweiten Grades verurteilt wurde, wird die Debatte über Polizeigewalt in den USA global geführt. Ein besonders aufschlussreiches Schlaglicht auf die Polizeiarbeit in den USA bietet das Buch Tangled up in Blue von Rosa Brooks.
Die Jura-Professorin und Expertin für Sicherheitspolitik an der Georgetown-Universität legte von 2016 bis 2020 regelmäßig ihren Talar ab und die Uniform einer Reservepolizistin des Washington DC Metropolitan Police Department (MPD) an, zunächst mehr aus persönlicher Neugierde denn aus wissenschaftlichem Erkenntnisinteresse. Herausgekommen ist ein faszinierendes Buch.
In einer ganzen Reihe von Städten in den USA existieren Programme für unbewaffnete, freiwillige Polizeihelfer. Washington DC aber ist eine der wenigen Großstädte, in denen ehrenamtliche Reservepolizisten und -polizistinnen auch als vereidigte und bewaffnete Beamte mit entsprechenden Vollmachten ausgestattet sind, bis hin zur Verhaftung. Auch sonst ist Washington DC durchaus besonders, wenn es um Polizeiarbeit geht: Die Stadt weist die „höchste Inhaftierungsrate aller US-Staaten auf – und das in dem Land mit der höchsten Inhaftierungsrate weltweit“. Wie kommt dies zustande? Brooks weist vor allem auf das strukturelle Problem einer „Explosion der Überkriminalisierung“ hin, sowohl auf Ebene der Einzelstaaten wie auch auf gesamtstaatlicher Ebene. Allein auf Bundesebene gibt es circa „300 000 Gesetze, deren Verletzung zu einer Inhaftierung führen kann“.
Gerade in sozial benachteiligten Stadtteilen wird die Polizei auch in vielen Problemlagen gerufen, die eigentlich eher in die Zuständigkeit von sozialen Diensten fallen.
Doch es ist nicht nur der Makro-Trend der Überkriminalisierung, der zu der sehr hohen Polizeipräsenz in Washington DC und in vielen anderen Städten der USA führt. Gerade in sozial benachteiligten Stadtteilen wird die Polizei auch in vielen Problemlagen gerufen, die eigentlich eher in die Zuständigkeit von sozialen Diensten fallen, schreibt Brooks. Diese sind jedoch unterfinanziert. Kombiniert mit einem höheren Kriminalitätsaufkommen in solchen Stadtteilen führt dies zu der oftmals beklagten hohen Polizeipräsenz im Alltag.
Der rote Faden des Buches ist die Polizeigewalt in den USA. Brooks beschönigt nichts und attestiert der praktischen Polizeiarbeit, eine „atemberaubend gewalttätige Angelegenheit“ zu sein. Sie verdeutlicht dies mit einem einfachen Beispiel: Während der ersten 24 Tage des Jahres 2015 seien in den USA mehr Menschen durch die Polizei getötet worden als in England und Wales in den vergangenen 24 Jahren. Bezogen auf die Bevölkerungsgröße töteten amerikanische Polizisten also vierundsechzigmal so viele Menschen wie ihre Kollegen und Kolleginnen aus dem Vereinigten Königreich. Brooks skizziert die verschiedenen Sichtweisen auf das Problem und weicht auch der besonders bitteren Frage der strukturellen Folgen von Rassismus nicht aus.
Ihr zentrales Anliegen aber ist ein anderes, basierend auf ihrer eigenen Erfahrung. Die zentrale Lehre, die ihr an der Polizeiakademie vermittelt wurde, sei folgende: „Anyone can kill you at any time.“ Und sie wurde nicht nur durch die Ausbilder selbst vermittelt. In einer Art Selbstverstärkung machten im Kreis der Polizeirekruten bald sogenannte „Officer Safety Videos“ die Runde, in denen unvorsichtige Polizisten auf verschiedenste Weise ums Leben kommen. Der Eigenschutz im Einsatz nahm einen so großen Raum ein, sagt Brooks, dass die gesamte Polizeiausbildung und Polizeikultur in den USA den angehenden Polizisten vermittele, aus jeder Richtung Gefahr zu wittern. Sie würden darauf trainiert, hyper-wachsam zu sein und unverzüglich auf potentielle Bedrohungen zu reagieren. Ihnen würde eingeschärft, dass sie ein „Recht hätten, sicher nach Hause zu gehen“.
Während der ersten 24 Tage des Jahres 2015 sind in den USA mehr Menschen durch die Polizei getötet worden als in England und Wales in den vergangenen 24 Jahren.
Brooks fragt, ob in der Polizeiausbildung nicht viel stärker vermittelt werden müsste, dass auch und vor allem die normalen Bürgerinnen und Bürger ein Recht darauf hätten, sicher nach Hause zu gehen. Polizisten würden sich ja bewusst für einen riskanten Beruf entscheiden. Man könnte Brooks‘ zentralen Punkt auch anders formulieren: Der Kernauftrag der Polizeiarbeit, nämlich der Schutz der Bevölkerung, sollte nicht leichtfertig dem Eigenschutz der Polizisten untergeordnet werden. Es geht also, abstrakt betrachtet, um einen bewussteren und kritischen Umgang mit den Risiken, die mit der Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols einhergehen. Man möchte aus deutscher Sicht ergänzen: Risiken, die auch deshalb in den USA größer sein dürften, weil das staatliche Gewaltmonopol deutlich ambivalenter ist als hierzulande – das Recht auf Waffenbesitz im zweiten Verfassungszusatz lässt grüßen.
Aus der Feder einer Jura-Professorin, die auch als Polizeibeamtin gedient und damit selbst Risiken getragen hat, ist dies eine starke Botschaft. Und Brooks wird noch deutlicher, indem sie einräumt, dass eine solche Akzentverschiebung vom Eigenschutz zum Schutz der Bevölkerung durchaus dazu führen könnte, dass mehr Polizisten im Einsatz getötet werden: „I’m okay with that“ – sicher kein leichtfertig dahingeschriebener Satz. Zudem verweist sie auf die Statistiken, die die vermeintlich omnipräsente tödliche Gefahr, die sich tief in die professionelle Identität vieler amerikanischer Polizistinnen und Polizisten eingegraben hat, in Relation setzen. So sind die statistisch gefährlichsten Berufe in den USA ganz andere – zum Beispiel Holzfäller und Fischer – wohingegen es der Polizei-Beruf nicht einmal in die Top Ten schafft. Sicher berge dieser ein größeres Risiko von Tod oder Verletzung durch absichtliche Gewalt als die meisten anderen Berufe, sagt Brooks. Aber auch hier gehen die Spitzenplätze wieder nicht an Polizisten: Taxifahrerinnen und Chauffeure tragen statistisch ein doppelt so hohes Risiko wie Polizistinnen und Polizisten, bei der Arbeit ermordet zu werden.
Eine solche Akzentverschiebung vom Eigenschutz zum Schutz der Bevölkerung könnte durchaus dazu führen, dass mehr Polizisten im Einsatz getötet werden.
Genau solch eine kritische und selbst-reflektive Auseinandersetzung mit den Risiken und Herausforderungen des Polizeiberufes war es, die Brooks an der Polizeiakademie vermisst hatte. Wenig überraschend also, dass sie es in ihrer Doppelidentität als Juraprofessorin und Polizistin nicht bei mahnenden Worten belassen hat: Auf ihre Initiative hin wurde in Kooperation zwischen der Georgetown University und dem Washington MPD ein neues Fellowship-Programm für Polizisten eingerichtet, das „Police for Tomorrow Program“.
Es ist allerdings nicht nur die klare und kritische Reflektion der gravierenden Fragen zur Zukunft der Polizeiarbeit in den USA, die den Reiz des Buches ausmacht. Brooks illustriert ihre analytischen Einsichten durch anekdotisch gehaltene Passagen zum Polizeialltag in Washington, DC. Vom Angriff mit einer gefährlichen Waffe („Schildkröte“) über die polizeiliche Absicherung der Amtseinführung von Präsident Trump – die verregnet war, was „keinem passenderen Präsidenten [hätte] passieren können“ – bis hin zu den vielen tragischen Familienschicksalen in einem der sozial am stärksten benachteiligten Stadtviertel Washington DCs, die regelmäßig zu Polizeieinsätzen führen. Ein rundum gelungenes Buch, geeignet sowohl zum Lesen am Schreibtisch als auch als Abendlektüre nach dem Tatort oder CSI Miami.