
Russland wartet. Auf einen Gesellschaftsroman, der die gewaltige Transformation der Sowjetunion am Ende des 21. Jahrhunderts zumindest ansatzweise zu erklären vermag. So wie zuvor in Deutschland die „Buddenbrooks“ von Thomas Mann und dann „Ein weites Feld“ von Günter Grass. Andrej Bitow, einer der großen russischen Schriftsteller, nannte mir zu Beginn der neunziger Jahre den Grund dafür: Es mangele an Inspiration, er würde ja nun schließlich in einem freien Land wohnen. Da bietet es sich an, eine Brücke zu schlagen zu der Autorin Swetlana Alexijewitsch, die das großartige Buch “Secondhand-Zeit geschrieben” hat. Sie wohnt in Minsk, der Hauptstadt Belarus. Ihr dürfte es an Inspiration also nicht mangeln.
Ihr “Roman der Stimmen”, basierend auf vielen, in einem knappen Vierteljahrhundert geführten, Interviews, beweist jedoch das Gegenteil der Bitowschen These. Es bedarf keineswegs zwangläufig eines genialen Romans, um die Schicksale der Menschen aufzuschreiben, die eines Morgens in einer anderen Welt mit anderen Regeln und anderen Werten aufwachten. Man musste nur mit ihnen reden, ihnen zuhören. Anna M., eine Architektin, beschreibt drastisch ihren Lebensrhythmus in den Zeiten der Wirren, also den neunziger Jahren: “Das ist, wie ich sterbe…und überlebe…wie ich sterbe.“ Und dann erinnert sich ein alter Mann, wie er als15jähriger seinen Onkel der Roten Armee verrät und deshalb einen grausamen Tod erfährt. Über das Furchtbare hatte er vorher noch niemandem berichtet. Damals gab ihm seine Mutter, die davon erfahren hatte, einen Leinensack und schickte ihn fort. Nun holt ihn die Vergangenheit ein. Doch er vertraut der Autorin unter Tränen an, als Kommunist sterben zu wollen. Ein besseres Gesellschaftsbuch über die Wurzeln der Zerrissenheit des heutigen Russlands ist bisher nicht geschrieben worden.

„Kann Russland konkurrieren?“ Das ist die fast ketzerische Frage von Loren Graham, die er seinem Buch „Lonely Ideas“ als Untertitel beifügt. Es ist die alte Frage nach dem Grund, weshalb das Russland der Zaren, Generalsekretäre und Präsidenten es bis heute nicht verstanden hat, die Ideen und Visionen ihrer talentierten Wissenschaftler in wirtschaftlichen Großprojekten umzusetzen. Sicher, so das Allgemeinverständnis, für Militär- und Raumfahrttechnik habe es im Kalten Krieg gereicht, aber der Lada, das sowjetische Volksauto, kam als Rohling aus der Fabrik. Und es konnte bekanntlich nur unter großen Mühen benachbarter Reparaturwerkstätten zum Fahren gebracht werden.
Loren Graham, emeritierter Professor für Wissenschaftsgeschichte am renommierten Massachusetts Institute for Technology hat sich nun die Mühe gemacht, Russlands Beitrag zur Erforschung der Eisenbahn, Luftfahrt und Softwaretechnik zu untersuchen. Dabei stellt sich heraus, dass russische Erfindungen oftmals zeitgleich mit denen in westlichen Ländern erfolgten. Anders als dort jedoch, wurde kein wirtschaftlicher Nutzen daraus gezogen. Weder aus der Erfindung einer Glühlampe von Alexander Lodygin (vor Thomas Edison) noch aus der Erfindung des Sturmgewehrs AK-47, das erst fünfzig Jahre nach der Entwicklung im Jahr 1999 patentiert wurde. Zu spät für Michail Kalaschnikov, der in bescheidenen Verhältnissen vor einigen Monaten verstarb.
Die russische Modernisierung, so die Beobachtung des einflussreichen Russlandkenners Richard Pipes, vollzieht sich in Wellen, nicht kontinuierlich. Graham führt das auf fehlende Institutionen zurück, auf mangelnde Rechtssicherheit und ein wirtschaftliches System, dass nicht auf Innovation ausgerichtet ist. Ausnahmen, wie das Antivirenprogramm Kaspersky Lab, bestätigen die Regel. Eine Verbesserung aus diesem Dilemma mag der Autor im heutigen Russland nicht erkennen.

Gekämpft hat er in der nordkaukasischen Republik Tschetschenien. Im ersten Krieg und im zweiten. Zakhar Prilepin war Teil der Sondereinheit OMON des russischen Innenministeriums. Später trat er der politischen Gruppierung der Nationalbolschewisten des illustren Eduard Limonow bei, einer kruden Mischung aus rechter und linker Ideologie. Und dann begann er zu schreiben über das, was er erlebt hat.
Er schreibt viel, in deutscher Sprache liegt sein bisher bekanntestes Werk vor: Sankya. Der Roman spielt im Milieu eben der aufständischen Nationalbolschewisten. Die Hauptperson, Sascha Tischin, stammt aus der Provinz und mischt in Moskau bei politischen Demonstrationen mit. Er erlebt bei seinen Leuten die Lust an der Zerstörung und erntet bei den Ordnungskräften brutale Gewalt: „Wir bringen einander um, weil in Russland die einen die Wahrheit so, die anderen anders verstehen. Das ist sowohl Blutbad als auch Erkenntnis.“
Gewalt, die hat der Autor erlebt. Er glorifiziert sie nicht, sondern beschreibt sie wie etwas ganz Alltägliches in Russland. Er kennt sie auch im zivilen Leben als Redakteur der bekannten Oppositionszeitung Nowaja Gazeta. Seine Kollegin Anna Politkowskaja wurde in Moskau erschossen. Schließlich zieht der Held des Buches in die Revolution gegen das korrupte Regime, die aber scheitert. Das Buch endet mit den Worten: „Alles wird gleich, im nächsten Augenblick, zu Ende gehen, und – nichts wird zu Ende gehen, alles wird weiterhin so sein, nur so.“
Prilepin hat eine schonungslose Zustandsbeschreibung eines Teils der russischen Gesellschaft geliefert. Der Leser muss freilich wissen, dass es noch andere Russlands gibt. Auf einen Einblick in jene Gesellschaften warten wir voller Ungeduld.