Südosteuropa wird von Marie-Janine Calic in die Weltgeschichte gestellt. Das mag in Westeuropa, wenn es sich als Ausgang der Weltgeschichte betrachtet, aufstoßen. Hier folgt das Interesse an Südosteuropa eher engen Urteilen, als Hort schlechter Nachrichten, von Korruption und organisierter Kriminalität in einer zu ineffizienten Staaten fragmentierten Region. Aus den dummerweise in die EU aufgenommenen Staaten kommen lästige Zuwanderer, denn ein Viertel der südosteuropäischen Bevölkerung ist seit 1989 abgewandert. Mit anderen Staaten werden seit 20 Jahren Beitrittsgespräche geführt, Asylbewerber von dort müssen zurückgeführt werden. Alle Staaten Südosteuropas, so wie Calic es umfasst, haben zusammen 62 Millionen Einwohner, 20 Millionen weniger als Deutschland. Davon sind 19,8 Millionen Rumänen, 10,8 Millionen „überschuldete“ Griechen, 7,1 Millionen Bulgaren, 4,2 Millionen Kroaten und 2,1 Millionen Slowenen bereits in der EU, es warten noch 18 Millionen in Albanien, Serbien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Montenegro und Mazedonien, das aber bereits (West-) Europa an seiner Grenze mit Griechenland gegen Flüchtlinge verteidigt. Würden diese 18 Millionen aufgenommen, hätte die EU mit ihren 506 Millionen 3,5 Prozent mehr Einwohner.

Die Abwertung Südosteuropas ist bleibende Folge zweier weltgeschichtlicher Einschnitte. Schon im Zeitalter der Aufklärung, mit der Verlagerung des Zentrums der Weltwirtschaft vom Mittelmeer in den atlantischen Raum, wanderte es auf der „westeuropäischen Mental Map“ an den Rand als „peripher, rückständig und kulturell minderwertig“. Und seit Ende des 18. Jahrhunderts begann mit den Auflösungsprozessen vorher die Region beherrschender Imperien die Fragmentierung der Staatlichkeit, die nach den Jugoslawienkriegen eher noch nicht zum Abschluss gekommen ist. Zuvor und in der Gegenwart war und ist Südosteuropa hingegen Raum weltpolitischer Vorgänge.

So ist Calics Buch auch ein Beitrag, die festgefassten Urteile zu ändern. Ihre weltgeschichtliche Erklärung zeigt, wie die „schlechten Nachrichten“ mit in der historischen Verantwortung von „Weltreichen“ liegen, die ihre Konflikte in Südosteuropa austrugen, es als Bezugsquelle von Menschen und Ressourcen benutzten. Calic folgt neuerer Geschichtswissenschaft, die die Verengung auf Nationalgeschichte zu überwinden sucht. Das gelingt, indem „translokale, ‑regionale und -nationale Austauschbeziehungen“ als Globalgeschichte Analyseeinheiten des Buches sind, und Kultur wie Identitäten als kulturelle Konstrukte verstanden werden.

Der erste Satz des Buches hat einen fatalen Bezug zur Gegenwart: „Am Anfang war Alexander der Große“. Griechenland und das postjugoslawische Mazedonien streiten heute um das Namenserbe. Sie dokumentieren damit, dass ihre historischen Anfänge griechisch-römisch sind, und sie beweisen, wie wenig sie damit für ihre europäische Integration anzufangen vermögen. Ihnen gegenüber ist die Herablassung westeuropäischer Staaten, für die Rom ein die EU begründendes Narrativ ist, gleichermaßen fragwürdig. Ebenso wird das christliche EU-Narrativ häufig westeuropäisch verengt, denn die Christianisierung erfolgte in Südosteuropa Jahrhunderte vor der Nordwesteuropas. Und so begannen mit dem Schisma zwischen Rom und Byzanz, das Religion für imperiale Herrschaft nutzte, dort auch die christlichen Religionskonflikte früher. Die Slawen, die seit dem 6. Jahrhundert Südosteuropa besiedelten, wurden vor allem durch diesen Konflikt in europäische Geschichte integriert. Ihr historisches Schicksal war, dass seit dem 14. Jahrhundert christliche Dominanz durch islamische, imperial genutzt durch das Osmanische Reich, verdrängt wurde – soweit der Erste Teil „Lebenswelten und Zivilisationen vor 1500“.

Der zweite Teil „Weltreiche und Weltwirtschaften 1450 bis 1800“ zeigt, wie die osmanische Herrschaft bei allen auch grausamen Machtansprüchen und Ausbeutungen vergleichsweise multikulturell war. Und sie stand im Zusammenhang mit der globalen Auseinandersetzung der in Europa bestimmenden Imperien, dem Osmanischen Reich, das sich nach Osten, und Habsburg, das sich nach Westen, nach Amerika, orientierte.

Der dritte Teil „Das Jahrhundert der globalen Revolutionen 1776 bis 1878“ stellt dar, wie die Revolutionen von Nordamerika und Frankreich ausgingen, verbunden mit der Aufklärung. Für Südosteuropa bedeuteten sie Befreiung von osmanischer Herrschaft, verbunden mit nationalem Streben, Anfang bis heute fortdauernder Konflikte und geschichtspolitischer Perzeptionen. Dabei erfuhr Griechenland ein gesondertes Schicksal. Europäer erinnerten sich ihres hellenistischen Erbes und intervenierten angesichts der Grausamkeiten des Osmanischen Reiches, denen allerdings die Grausamkeiten der griechischen Unabhängigkeitskämpfer nicht nachstanden. Diese weltgeschichtlich erste „humanitäre Intervention“ durch England, Frankreich, Habsburg und Russland führte 1829 zur Unabhängigkeit Griechenlands. Das aber musste von den Großmächten beaufsichtigt werden, ein bayrischer Prinz wurde als König eingesetzt – die weiß-blaue Staatsflagge des Landes erinnert bis heute an die Teilnahme Bayerns an westeuropäischer Dominanzpolitik.

Die Dichotomie nationalstaatlicher Politik wird im vierten Teil „Weltkrisen und Weltkriege 1870 bis 1945“ deutlich. Die Bildung kleiner Nationalstaaten in Südosteuropa konkurrierte mit imperialem Nationalismus. Dabei zog slawische Verbundenheit Russland herein, vor allem als Gegner des Osmanischen Reiches. Die imperialen Mächte Habsburg und Russland, dazu jetzt England, Frankreich und Deutsches Reich, instrumentalisierten südosteuropäische Nationalismen. Die Antagonismen zwischen ihnen führten in die Balkankriege 1912/13 und dann in zwei Weltkriege. Diese Kriege waren mit erschütternden Grausamkeiten auch gegenüber der Zivilbevölkerung verbunden, ausgeübt von den Südosteuropäern untereinander wie von den intervenierenden Großmächten, im Ersten Weltkrieg vor allem Habsburg, im Zweiten das faschistische Deutschland. Zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg blieben Versuche, in Südosteuropa demokratische Staatlichkeit zu entwickeln erfolglos, auch weil deutsch-italienischer Faschismus es mit verhinderte.

„Globalisierung und Fragmentierung 1945 bis heute“, der fünfte Teil, beschreibt dann die weltpolitische Aufteilung Südosteuropas nach der Vereinbarung zwischen Stalin und Churchill. Die Region wurde kommunistisch, mit Ausnahme Griechenlands, wo die entsprechende Machtergreifung durch die Intervention Englands verhindert wurde. Allerdings war diese Entwicklung verbunden mit Bestrebungen südosteuropäischer Staaten, sich aus der Abhängigkeit von der Weltmacht Sowjetunion zu lösen, das gilt für Albanien und Rumänien und herausgehoben für Jugoslawien. Tito spielte als ein Führer der Blockfreien eine weltpolitische Rolle.  

Der Aufbau kommunistischer Staatlichkeit führte zunächst zu hohen wirtschaftlichen Wachstumsraten, verbunden mit technologisch-ökonomischen Veränderungen, von der Agrarwirtschaft zur Industriewirtschaft, gleichzeitig began die dauerhafte Urbanisierung. Die Krisen seit Beginn der 1980er Jahre wurden vor allem durch die finanzwirtschaftliche Integration in die Weltwirtschaft ausgelöst, verschuldete Staaten konnten ihre ökonomischen Probleme nicht mehr lösen, die Macht der Kommunisten und in Jugoslawien die integrierte Staatlichkeit zerfielen. Die wirtschaftliche Erholung im Zuge der europäischen Integration wurde unterbrochen durch weltwirtschaftliche Vorgänge, vor allem die in den USA ausgelöste Finanzkrise mit ihren europäischen Folgen. Europäisch integriert wurde Griechenland dabei zurückgeworfen in die südosteuropäische Krisengemeinsamkeit.

Die Implosion der kommunistischen Systeme war einbezogen in globalen Konsum, die Kriege im zerfallenden Jugoslawien wurden zur globalen Krise, beides verbunden mit globalen zivilgesellschaftlichen Bewegungen. Und so kam es zu neuen weltpolitischen Instrumenten, so ein Internationaler Strafgerichtshof oder das UN-Prinzip der „Schutzverantwortung“.

Calics Perspektive für Südosteuropa ist, dass es vom Schauplatz der Weltgeschichte zur gleichgeachteten Region werden könnte, durch demokratische Staatsbildung, Überwindung nationalistischer Zersplitterung und durch europäische Integration. Das müsste von heutigen Welt- (und Europa-)mächten akzeptiert werden. Noch allerdings belieben die USA wie Russland, sich in die kleinen Staaten einzumischen. Religiöse Machtansprüche versuchen die von den Osmanen islamisierten Bevölkerungsgruppen zu beeinflussen. Helfen kann nur ein Selbstverständnis Europas, das die griechisch-römischen wie christlichen Geschichtsnarrative auch auf Südosteuropa zu beziehen bereit ist und so eine europäische Union schafft, die machtpolitische Beeinflussung von außen unmöglich macht.