Drei Romane begründen den Weltruhm von Ivo Andric, der 1961 als erster und einziger Schriftsteller aus Jugoslawien den Literaturnobelpreis erhielt. Der wohl bekannteste ist die epische Erzählung über die Geschicke im bosnischen Städtchen Visegrad vom osmanischen Mittelalter bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, die „Brücke über die Drina“. In „Wesire und Konsuln“ schildert uns Andric das 18. Jahrhundert am Sitz des osmanischen Wesirs im bosnischen Travnik. Mit dem Roman „Das Fräulein“ bietet uns Andric in einer Charakterstudie Einblick in das zwischen den Religionen und Ethnien, Altem und Neuem, Osten und Westen hin und hergerissene Leben in Sarajevo und Belgrad um die Jahrhundertwende bis in die 1930er Jahre.

Alle drei Romane spielen in Jugoslawien, vorwiegend im bosnischen Landesteil, in dem Ivo Andric 1892 geboren wurde und aufgewachsen ist. Geschrieben hat er sie in den Kriegsjahren 1941 bis 1945, als er sich in Belgrad zurückgezogen hatte, nachdem seine Diplomatenkarriere für das Königreich Jugoslawien mit der Okkupation durch die Nazis zu einem abrupten Ende gekommen war. In Titos sozialistischem Jugoslawien stieg er zum Literaturstar und internationalen Botschafter eines weltoffenen Jugoslawiens auf, ohne dabei offenbar selbst ein begeisterter Sozialist zu sein.

Seine Wurzeln reichen zurück in eine Zeit, in der seine bosnische Heimat Teil des Habsburgerreiches war und Andric mit den Hitzköpfen der Vereinigung „Junges Bosnien“ in Verbindung stand, die Sabotageakte und Attentate plante. Sein Schulfreund Gavrilo Princip schritt 1914 schließlich bekanntermaßen zur Tat und sorgte mit dem Attentat auf Thronfolger Franz Ferdinand für den Auslöser des ersten Weltkriegs. Wer war dieser Mann, der nicht nur den Terroristen Gavrilo Princip persönlich kannte, sondern als Diplomat in Berlin auch von Adolf Hitler empfangen wurde und später als Nobelpreisträger von Marschall Tito höchste sozialistische Staatsehren empfing?

Antwort auf diese Frage gibt nun Michael Martens in seiner sorgfältig recherchierten und unterhaltsamen Biographie. Michael Martens ist vielen als versierter Korrespondent für Südosteuropa und die Türkei aus der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ bekannt. In jahrelanger Recherchearbeit in Archiven und an den Stationen des beruflichen Lebensweges von Ivo Andric sowie in Gespräch mit Weggefährten und Wissenschaftlern hat Martens enorm viel Material für sein Buch zusammengetragen. Er hat nicht allein die Romane und veröffentlichten und unveröffentlichten Notizen des Nobelpreisträgers eingesehen, sondern weiß beispielsweise auch über die Stempel in Andric‘ Diplomatenpass von 1941 Auskunft zu geben, über den Blick von Andric‘ Wohnung während des Zweiten Weltkriegs in Belgrad und selbst über den Pflanzenbestand in Andric‘ Sommerhaus an der Adria. Dieser Detailreichtum, gemeinsam mit Martens‘ Kenntnis der Region in ihren historischen und politischen Verwerfungen sowie seinem lebendigen und pointierten Stil, machen die Biographie zu einer fesselnden Lektüre.

Dieser Detailreichtum, gemeinsam mit Martens‘ Kenntnis der Region in ihren historischen und politischen Verwerfungen, macht die Biographie zu einer fesselnden Lektüre.

Besonders interessant wird die Schilderung dadurch, dass uns Andric im entscheidenden Jahr 1941 als Botschafter des Königreichs Jugoslawiens in Berlin begegnet. Dieses Jahr ist für Jugoslawien und die weitere Entwicklung seiner Aufspaltung, die Entstehung des faschistischen Kroatiens, die Besetzung Serbiens durch die Wehrmacht und schließlich den Widerstand unterschiedlicher Gruppen und das Durchsetzen der kommunistischen Partisanen unter Tito von kaum zu überschätzender Bedeutung. Während sich die Lage 1941 zwischen Berlin und Belgrad immer weiter zuspitzt, werden Martens‘ Schilderungen immer kleinteiliger, am Ende beschreibt er fast im Stundentakt, wie Andric einerseits versucht, als Botschafter sein Heimatland vor dem Schlimmsten zu bewahren, und andererseits, an seiner persönlichen Integrität festzuhalten. Ganz ohne Lobhudelei auf das Nazi-Regime kommt Andric dabei offenbar nicht aus, am Ende führt er aber nicht die Feder in den scheiternden Verhandlungen. So entkommt er später, nachdem Titos Partisanen die Faschisten auf dem Balkan besiegt haben, der Ächtung. Martens gelingt es an dieser Stelle sowie an vielen anderen Stationen des Lebensweges Andric‘ auf hervorragende Weise, die weltgeschichtlichen Ereignisse darzustellen und mit seinem Protagonisten, dessen beruflicher Entwicklung und, nicht zuletzt, dessen literarischem Schaffen zu verknüpfen.

Wirklich nahe kommt Martens der Person Ivo Andric jedoch nicht. Wenn wir auch in Andric‘ Romanen einen Künstler vorfinden, der als sorgfältiger psychologischer Beobachter große Menschenkenntnis beweist und dabei Zerrissenheit und menschliche Abgründe lebendig und bewegend vor historischer Kulisse darstellt, so war die Person Ivo Andric offenbar von eher verschlossenem Charakter. Bezeichnenderweise sind seine drei wichtigsten Romane ja auch in einer Art innerem Exil, abgeschieden von der Gesellschaft und den furchtbaren Entwicklungen um ihn herum, in Belgrad während des Zweiten Weltkrieges entstanden. 

Widersprüchen in seinen Zeugnissen als privatem Tagebuchschreiber und jugoslawischem Diplomaten im faschistischen Berlin begegnet Martens, indem er Andric kurzerhand in zwei Persönlichkeiten aufspaltet: einen Tag-Andric und einen Nacht-Andric. Das vermag wenig zu überzeugen. Schließlich muss auch Martens festhalten: „Andric ist nicht zu fassen“. Die geradezu diplomatische Zurückhaltung und intellektuelle Reserviertheit sind offenbar Wesenszüge des Nobelpreisträgers gewesen.

Ein großer Europäer ist Andric nicht geworden.

„Im Brand der Welten: Ivo Andric. Ein europäisches Leben,“ ist die Biografie etwas reißerisch betitelt. Doch während die Welt in Brand stand, saß Andric zur Untermiete in Belgrad zurückgezogen am Schreibtisch und schrieb seine großen Romane, deren Veröffentlichung zu diesem Zeitpunkt völlig ungewiss war und die ihm später dennoch zu Weltruhm verhalfen. Doch ein großer Europäer ist Andric nicht geworden. Er war und blieb Jugoslawe, als Katholik den Kroaten zuzuordnen, aufgewachsen im bosnischen Landesteil, in Visegrad und Sarajevo, sowie Wahlserbe in der jugoslawischen Hauptstadt Belgrad. Andric‘ Treue zur Idee eines Zusammenhaltes der südslawischen Völker, sowohl in jungen Jahren bei den Widerständlern der „Mlada Bosna“, als auch in der Ausprägung eines Königreichs Jugoslawien und schließlich ebenso im autoritären Sozialismus Marschall Titos, ist bemerkenswert und wird von Martens völlig zu Recht kritisch hinterfragt. So schätzt sich der Nobelpreisträger beispielsweise glücklich, sich auf Anfrage für die Menschenrechte in Südafrika und Vietnam einzusetzen, schweigt hingegen zu entsprechenden Aufrufen seine jugoslawische Heimat betreffend.

Doch Andric‘ fortwährende Verbundenheit zur jugoslawischen Idee will Martens nicht anerkennen, er erhebt ihn stattdessen zu einem wahrhaften Europäer. Martens bezieht dabei aus seiner heutigen Perspektive Stellung und kommt zu anderen Urteilen als Ivo Andric in seiner Zeit und deren Umständen.

Serbien und daneben noch die vier aus Jugoslawien hervorgegangene Staaten Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Nordmazedonien und Montenegro sowie Albanien sind heute unterschiedlich weit fortgeschrittene Anwärter auf eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Sie bilden allerdings einen für viele Westeuropäer und Leser nicht ausgefüllten Bereich auf der politischen und literarischen Landkarte. Als „westlicher Balkan“ leidet diese Region auch heute noch an ihren inneren Spaltungen, Verwerfungen und ihrer Geschichte aus Hass, Gewalt und Krieg. Mit seiner großartigen Biografie des Nobelpreisträgers Ivo Andric gelingt es Michael Martens, ein ereignisreiches Stück Zeitgeschichte dieser Region lebendig und facettenreich nachzuvollziehen und die Neugierde auf die Gesellschaften, Menschen und ihre Geschichte und Geschichten zu wecken. Die Romane von Ivo Andric bieten dazu über Martens‘ Biographie hinaus einen literarisch genussvollen Einstieg.