
Fußball spaltet und eint wie kaum ein anderes Phänomen. Die Bilder von gemeinsam feiernden Spaniern oder einander tröstenden Engländern gehen um die Welt. Die Stimmung in den Stadien und auf den Fanmeilen hat vor allem den Austragungsstädten eine ganz besondere Dynamik verliehen. Das Fußballspektakel scheint auf den ersten Blick den vielen Kritikpunkten, die vor der EM die Runde machten, jeglichen Wind aus den Segeln genommen zu haben. Und das ja auch nicht ganz zufällig. Die UEFA verlangt, Europameisterschaften so unpolitisch wie möglich auszutragen. Dabei gibt es auch viele Fans, für die Politik und Fußball nicht getrennt voneinander gedacht werden können. Auch viele nationale Fußballorganisationen verweigern sich oft den Wünschen nach Reformen, die aus immer mehr Ecken erklingen. Wie steht es also um den Profifußball? Ist das System kaputt? Und könnte es denn überhaupt anders?
Auf diese und viele weitere Fragen versucht Alina Schwermer in ihrem Buch Futopia: Ideen für eine bessere Fußballwelt Antworten zu finden und Utopien zu skizzieren. Dass Wandel durchaus möglich ist, belegt sie an zahlreichen Beispielen. Wie nötig ein weiterer Wandel ist, auch. „Wir spielen, wie wir wirtschaften“, ist ihr ernüchterndes Fazit: Leistung über Gesundheit, Profit über Leidenschaft und Zahlenfetischismus über Teamgeist. Das war keineswegs immer so. Erst im Zuge der Industrialisierung wurde Fußball zu einem disziplinierten Gegeneinander, aus dem seither notwendigerweise Gewinner und Verlierer gekürt werden. Der Sport diente als eine Art Kriegssimulation, der vorrangig den jungen Männern Gehorsam lehren und diese aufs Siegen trimmen sollte. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass Chancengleichheit auch heute noch ein Fremdwort bleibt. Es zählt nur das Resultat, nicht die Person.
Gewinne werden privatisiert und Kosten vergemeinschaftet.
Egal ob Vereinssport und Nationalmannschaften, ob Bundesliga, UEFA-Champions League, UEFA-Europameisterschaft oder FIFA-Weltmeisterschaft: Gewinne werden privatisiert und Kosten vergemeinschaftet: In Deutschland sind insgesamt 625 Millionen Euro für die Austragung des EM-Turniers veranschlagt – Kosten, die letztlich aus Steuereinnahmen finanziert werden. Währenddessen rechnet die UEFA mit einem Gewinn von mehr als einer Milliarde Euro – und stellt dabei noch eine ganze Reihe Forderungen. Auch mit rechtsextremen und nationalistischen Vorfällen sehen sich Fans und Spieler erneut konfrontiert, weil sich die UEFA (und der DFB) seit Jahren ihrer demokratischen Verantwortung entziehen.
Die Verbände reihen sich damit einfach bei anderen kapitalistischen Unternehmen ein, die sich für ihr Geschäft eine politikbefreite Zone wünschen, womit sie letztlich bloß undemokratischen und menschenverachtenden Positionen eine Bühne geben. Dabei war Fußball noch nie unpolitisch: Das vom DFB ausgehende Verbot des Frauenfußballs von 1955 bis 1970, das Outing von Thomas Hitzlsperger 2014, die WM in Katar 2022, die noch immer in Stadien ertönenden Affenlaute, das von Rechtsextremen missbrauchte Trikot mit der Nummer 44, der Verzicht der dänischen Männer-Nationalmannschaft auf eine Gehaltserhöhung, um dem Frauen-Team finanzielle Gleichstellung zu ermöglichen, oder Kylian Mbappés jüngster Wahlaufruf – sofort fallen zahlreiche Beispiele ein, die belegen, dass Fußball politisch ist. Das Runde wird nicht in einem wertfreien Raum ins Eckige getreten, sondern hält der Gesellschaft einen Spiegel vor.
Das Runde wird nicht in einem wertfreien Raum ins Eckige getreten, sondern hält der Gesellschaft einen Spiegel vor.
Schwermer plädiert für Mut zur Veränderung – in einzelnen Aspekten sowie auf das große Ganze bezogen. Sie skizziert zunächst Ideen für eine bessere Zukunft innerhalb des bestehenden Systems und diskutiert – auch durch zahlreiche Interviews begleitet – unter anderem Forderungen einer Gehaltsobergrenze, eines Draft-Systems und einer Superliga. Interessanterweise münzt sie eine Ober- in eine Untergrenze um und spricht sich im Sinne der Umverteilung dafür aus, Jugendtrainerinnen und -trainern und bisher Ehrenamtlichen über ein hohes Mindestgehalt hinaus auch prozentual an den Einnahmen der Klubs teilhaben zu lassen. Für ein Draft-System, wie es beispielsweise in der NBA in den USA praktiziert wird, lässt sich für Deutschland jedoch nicht werben, da Artikel 12 des Grundgesetzes das Recht auf eine freie Wahl des Arbeitsplatzes festhält. Und die doch recht breite Befürwortung einer Superliga lässt sich eher auf eine generell verbreitete Mischung aus Hilflosigkeit und Hoffnung zurückführen, dass die nationalen Ligen ohne die Großklubs endlich wieder spannender wären. Nachhaltig verbessern würde dies erstmal nichts.
Diesen bereits kursierenden Veränderungsansätzen wird daher eine Revolution als Langzeitprojekt entgegengesetzt, die unter anderem die Auflösung des DFBs und einen Systemwechsel beinhaltet. Gerechter Fußball ist für Schwermer im Kapitalismus schlicht nicht möglich. In diesem Zuge wird mehr als deutlich, dass Fußball eben keine Sonderstellung innehat, sondern in vielen Hinsichten mitten in unserer Gesellschaft steht. Die im letzten Teil des Buches diskutierten Utopien befinden sich daher auch auf der Ebene eines systemischen Wandels – nach dem Motto: Eine bessere Gesellschaft würde automatisch einen besseren Fußball hervorbringen.
Konkret lautet der Vorschlag, ein Wirtschaftssystem mit den zwei Säulen Beitrag und Anerkennung einzuführen, die ein System mit bedingungslosem Grundeinkommen tragen. Am Beispiel des Fußballs versucht Schwermer zu zeigen, dass mehr verfügbare Zeit, die nicht Profitmaximierung oder Wirtschaftswachstum gewidmet ist, wieder Zwischenmenschlichkeit und Werteorientierung in den Vordergrund rücken könnte. Gemeinschaftliches Engagement in beispielsweise Fußballvereinen soll zusätzlich vergütet werden und somit in basisdemokratischer und Fan-geführter Manier einen solidarischen Fußball vorantreiben. Hier wird das Thema Fußball geschickt genutzt, um für eine progressive Veränderung bei breiter gefassten gesellschaftspolitischen Themen zu mobilisieren – weswegen gerade dieser Teil nicht bei allen Leserinnen und Lesern Anklang finden wird. Aus Wünschen nach Verbesserung im Fußball können jedoch größere Gerechtigkeits- und Gleichstellungsansprüche erwachsen, von denen auch unsere Gesellschaft als Ganzes profitieren kann.
Futopia ist damit sowohl in der Gegenwart als auch in einer fern erscheinenden Zukunft verortet. Alina Schwermer trägt gut recherchiert viele verschiedene Ideen zusammen und gibt sowohl den härtesten Fußballfans als auch nur gelegentlich Zuschauenden interessante Anregungen für notwendige Veränderungen. Dabei führt sie der Leserschaft eindrücklich vor Augen, dass jede Sportart stetigem Wandel unterzogen ist. Wer die damit verbundenen Herausforderungen besser verstehen will, die Weiterentwicklung des Fußballs gar mitgestalten will oder einfach bei zukünftigen Großereignissen stichhaltig mitdiskutieren möchte, sollte dieses Buch unbedingt lesen.