Vor zwanzig Jahren machte der Philosoph Richard Rorty eine Vorhersage. Seine Worte verschwanden zunächst in der Versenkung, bis sie durch den unerwarteten Aufstieg des Donald Trump eine geradezu prophetische Note erhielten.

„Gewerkschaftsmitglieder und ungelernte Arbeiter werden früher oder später erkennen, dass das System sie im Stich gelassen hat, und einen starken Mann wählen, der ihnen bereitwillig verspricht, dass nach seiner Wahl die feinen Bürokraten, die raffinierten Anwälte, die überbezahlten Anlageberater und die postmodernistischen Professoren nicht mehr das Sagen haben werden.“

Das Buch Achieving our Country (dt. Stolz auf unser Land. Die amerikanische Linke und der Patriotismus) enthält eine aufrichtig konstruktive und prägnant formulierte Kritik der politischen Linken. Rorty zufolge zog eine vorherrschende, in der akademischen Welt verwurzelte Denkrichtung der postmodernen Linken die Kulturpolitik der „eigentlichen Politik“ vor und finde schon die bloße Vorstellung lächerlich, dass demokratische Institutionen wieder der sozialen Gerechtigkeit dienen könnten.

Eine solche Ausrichtung der politischen Diskussion spiele jedoch den rechten und ihren Stärken in die Hände.

Diese Linke stelle lieber Menschen öffentlich an den Pranger, als sich für ein neues Gesetz zu engagieren; lieber mache sie für eine Parkbesetzung oder eine Autobahnsperrung mobil als für die Registrierung von Wählern. Sie „übertreibt die Bedeutung der Philosophie für die Politik und verschwendet ihre Kraft auf ausgefeilte theoretische Analysen der Bedeutung aktueller Ereignisse“. Ihre Anhänger hätten es zugelassen, dass die Kulturpolitik an die Stelle der eigentlichen Politik trete, und sie rückten Seite an Seite mit den Rechten kulturelle Themen ins Zentrum der öffentlichen Debatte.

Eine solche Ausrichtung der politischen Diskussion spiele jedoch den rechten und ihren Stärken in die Hände.

Rorty zeigt Verständnis dafür, dass ein großer Teil der Linken den Glauben an die amerikanischen Institutionen verloren hat. Über den historischen Umgang mit indigenen Völkern und schwarzen Amerikanern und das Verhalten der USA im Vietnamkrieg ist er ebenso entsetzt wie sie.

Doch Selbstverachtung lehnt er als einen „Luxus“ ab, den sich weder Einzelne noch Nationen leisten könnten, und er schlägt vor, sich auf andere Aspekte der amerikanischen Geschichte und des amerikanischen Nationalcharakters zu besinnen. Die Linke von heute könne die soziale Gerechtigkeit wirksamer voranbringen, wenn ihre Anhänger ein historisches Gedächtnis entwickelten, das nicht nur bis in die 1960er Jahre zurückreiche, sondern zu einer mehr als hundert Jahre alten Bewegung, die der menschlichen Freiheit gute Dienste geleistet habe.

Wenn sich mehr Linke als Teil dieser Geschichte mit all ihren Errungenschaften verstünden, würden sie wohl trotzdem beklagen, dass Amerika moralisch nicht lupenrein sei, vielleicht aber eher begreifen, dass kein Land diesem Anspruch je genügen werde und auch kein Land je eine moralisch integre, homogene Linke hervorbringen werde, die sich um soziale Gerechtigkeit kümmere.

Er drängt die Linke, realistischer zu sein, ohne die Augen vor Fanatismus zu verschließen. Im Anschluss an die Sechziger lobte er die Linke dafür, dass sie den Rassismus thematisierte und erkannte, dass Sadismus gegenüber Minderheiten auch abseits wirtschaftlicher Ungleichheit Bestand hätte. Dennoch kritisiert er die Identitätspolitik der Linken, denn sie beschäftige sich „mehr mit dem Stigma als mit dem Geld, mehr mit tiefgreifenden und verborgenen psychosexuellen Motiven als mit prosaischer und offensichtlicher Habsucht“ und verliere so viele der Enteigneten aus dem Blick.

Die Missachtung der Klasse werde einen schrecklichen Gegenschlag provozieren, der am Ende eben den Gruppen schaden werde, denen die Identitätspolitik der Linken eigentlich helfen soll.

In den Universitäten beobachtet er beispielsweise, dass keine Programme für die Durchführung von Studien zu Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit oder Wohnwagensiedlungen aufgelegt werden, weil Arbeitslose, Obdachlose und Bewohner von Wohnwagensiedlungen nicht in die Kategorie des „Anderen“ fielen. Dazu müsse man schon „ein unauslöschliches Stigma tragen, das einen zum Opfer von sozial anerkanntem Sadismus macht“.

Aus Rortys Sicht wird eine Linke, die die Opfer wirtschaftlicher Selbstsucht außer Acht lasse, nicht nur scheitern; die Missachtung der Klasse werde einen schrecklichen Gegenschlag provozieren, der am Ende eben den Gruppen schaden werde, denen die Identitätspolitik der Linken eigentlich helfen soll.

Um solch eine Zukunft zu vermeiden und in der nationalen Politik wettbewerbsfähig zu sein, müsse sich die Linke intensiver mit den Folgen der Globalisierung auseinandersetzen: „Sie würde wesentlich mehr über Geld reden müssen und weniger über Stigmata.“

Seiner Einschätzung nach ist jedoch die Foucaultsche Linke mit ihrer einseitigen Ausrichtung auf eine kosmopolitische Identitätspolitik qua Stigmata der naivere Ansatz für das Ringen um Gerechtigkeit. Sie sei naiv internationalistisch, denn die „kulturelle Linke“ halte offenbar den Nationalstaat für überflüssig und den Versuch, die nationale Politik wiederzubeleben, daher für sinnlos. Dabei, so Rorty, werde »leider übersehen, dass die Regierung unseres Nationalstaats auf absehbare Zukunft die einzige Instanz sein« werde, »die den Grad des Egoismus und Sadismus, unter dem Amerikaner zu leiden« hätten, »wirklich beeinflussen« könne.

Die Linke denke zu abstrakt und müsse endlich damit aufhören, sich immer abstraktere und abfälligere Bezeichnungen für „das System“ auszudenken. Sie müsse endlich inspirierende Bilder ihres Landes entwerfen, damit sie auch Bündnisse außerhalb der Hochschulen schließen könne,  insbesondere mit den Gewerkschaften. Außerhalb der Hochschulen wünschten sich die Amerikaner immer noch Patriotismus und wollten sich als Teil einer Nation fühlen, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehme und die Lebensverhältnisse verbessere.

Nur über eine Sprache der Gemeinsamkeiten lasse sich in landesweiten Wahlen eine Mehrheit mobilisieren.

Doch die kulturelle Linke diskutiere lieber über „das System“ als über spezifische soziale Gegebenheiten und einzelne Veränderungen. Die Sprache dieser Linken sei weiterhin eher revolutionär als „reformistisch und pragmatisch“. Der sorglose Umfang mit Begriffen wie „Spätkapitalismus“ insinuiere, wir könnten nur einfach darauf warten, dass der Kapitalismus zusammenbreche, und müssten uns keine Gedanken machen, wie ohne Märkte Preise festgelegt und Waren vertrieben werden sollten.

Als man den melting pot als Prinzip gegen Rassismus und für Gerechtigkeit aufgab und durch den Multikulturalismus ersetzte, habe man auch die Solidarität zerstört, die für die Schaffung von Gerechtigkeit notwendig wäre, so Rorty.  Wenn die kulturelle Linke ihre Strategie beibehalte und darauf hinwirke, dass die Menschen einander in ihrer Verschiedenheit respektieren, statt diese Verschiedenheit nicht weiter zu beachten, werde sie neue Wege beschreiten müssen, um auf nationaler Ebene noch Gemeinsinn herzustellen. Denn nur über eine Sprache der Gemeinsamkeiten lasse sich in landesweiten Wahlen eine Mehrheit mobilisieren.

Rortys Kritik zielt mit diesem letzten Punkt nicht nur darauf ab, dass mit der derzeitigen Identitätspolitik keine Wahl zu gewinnen ist: Selbst bei einem Sieg würde daraus keine soziale Gerechtigkeit erwachsen.

Was mich heute an Stolz auf unser Land fasziniert, ist nicht, dass die von Rorty kritisierten Merkmale der Linken dermaßen dominant sind, sondern dass sie trotz Barack Obama so dominant sind, der von dieser Linie abwich und gleich zwei Präsidentschaftswahlen für die Demokratische Partei gewann, indem er Richard Rortys Rat zu befolgen schien.

Würden die „kulturelle Linken“ in der Demokratischen Partei jemals eine Kandidatin oder einen Kandidaten unterstützen, der wie Obama Rortys Worte beherzigt, aber ohne den Druck, als erster Schwarzer das Präsidentenamt anzustreben?