In Jordanien wurde am 10. September gewählt. Die Wahlen sind Teil eines längerfristig angelegten politischen Reformprozesses. Ist das Land nach den Wahlen demokratischer? 

Das hängt davon ab, wie man „demokratisch“ definiert. Wenn damit ein größerer Einfluss gesellschaftlicher Gruppen auf die Politik des Landes gemeint ist, trifft das nur bedingt auf die Situation in Jordanien zu. Einerseits folgt der Reformprozess der erklärten Absicht, den Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozess im Parlament gesellschaftlich repräsentativer zu gestalten, indem zukünftig Parteipolitik die parlamentarischen Debatten bestimmen soll. Dies sollte unter anderem über die Reformen des Wahlrechts mit der Einführung einer Zweitstimme für eine Listenwahl gewährleistet werden, bei der 41 von 138 Abgeordneten gewählt werden, die als Kandidaten von Parteien aufgestellt sind. Zugleich ist über eine Liberalisierung des Parteiengesetzes die Gründung von Parteien erleichtert worden, auch wenn diese noch etliche Auflagen vor einer Registrierung erfüllen mussten. 

Damit ist das Parlament von zentralen Fragen der Landespolitik ausgeschlossen worden.

Aber andererseits wurden im Zuge dieser Reformen ein Nationaler Sicherheitsrat und ein Nationaler Politikrat unter der Leitung des Königs gebildet, denen in wesentlichen Bereichen der Außenpolitik, der inneren und äußeren Sicherheit sowie in allen übergreifenden Fragen der nationalen Entwicklung die Entscheidungsbefugnisse der Regierung dauerhaft übertragen wurden und deren Beschlüsse nicht dem normalen Gesetzgebungsverfahren unterstellt sind. Damit ist das Parlament von zentralen Fragen der Landespolitik ausgeschlossen worden.

Ausgehend vom Wahlergebnis, wurde die gesellschaftliche Repräsentativität des Parlaments erhöht?

Ja, wenn man der Logik des Reformansatzes folgt, ist das neue Parlament heute gesellschaftlich repräsentativer, als das bisher der Fall war. Nun sind nach der Wahl 105 der 138 Abgeordneten – also 75 Prozent – entweder über die Landesliste oder über die Wahlkreislisten der Parteien ins Parlament eingezogen. Im vorangegangenen Parlament waren es gerade mal zwölf Abgeordnete – also weniger als zehn Prozent. Auch sind aufgrund der Quotenregelungen, die im Rahmen der Wahlrechtsreform eingeführt wurden, nun 27 Frauen ins Parlament eingezogen, während es zuvor nur 15 waren. Natürlich bedeutet das starke Abschneiden von Parteikandidaten nicht, dass damit das Notabeln-Syndrom, das die bisherigen Parlamente dominiert hat, schlagartig abgeschafft wurde. Denn tatsächlich haben sich einige der Parteien für ihre Wahlkreislisten Notabeln geangelt, um ihre Aussichten zu verbessern. Auch bleibt abzuwarten, wie groß die Fraktionsdisziplin letztendlich sein wird.

Wenn man der Logik des Reformansatzes folgt, ist das neue Parlament heute gesellschaftlich repräsentativer, als das bisher der Fall war.

Allerdings darf eines schon jetzt klar sein: Die stärkste Fraktion wird wohl auch das höchste Maß an Kohäsion nach innen und an gesellschaftlicher Wirksamkeit nach außen an den Tag legen. Es ist nämlich die Islamic Action Front der Muslimbruderschaft, die mit 31 Mandaten auf 22 Prozent der Sitze kommt. Die nächststärkste Partei ist die nationalkonservative Charter Party mit 21 Mandaten oder 15 Prozent. Danach kommt die sozialprogressive Irada-Partei mit 19 Sitzen. Nennenswert ist schließlich noch die National-Islamische Liste mit neun Abgeordneten. Es ist durchaus möglich, dass es zu gelegentlichen oder auch ständigen Blockbildungen im Parlament kommen wird. Am wahrscheinlichsten ist ein Zusammengehen der Abgeordneten der Charter Party mit einer größeren Gruppe der parteilosen Abgeordneten, die immerhin 33 Mandate repräsentiert. Ein solcher Zusammenschluss hätte potenziell 54 Stimmen und damit eine konservative Sperrminorität im Falle weiterer Verfassungsänderungen. Die Jordanische Sozialdemokratische Partei hat übrigens kein Mandat erhalten und die Vorsitzende ist am Tag nach der Bekanntgabe der Wahlergebnisse zurückgetreten.

Wie erklärt sich das starke Abschneiden der Partei der Muslimbruderschaft?

Sie ist landesweit die am besten aufgestellte politische Organisation, mit einer langen Tradition der Basisarbeit in Ortsgruppierungen. Hinzu kommt, dass sie sich jüngst als zentrale und kräftige Stimme in den wöchentlichen Demonstrationen für ein Ende des Gaza-Krieges, die Wahrung der Rechte der Palästinenser und die Beendigung der israelischen Besatzung in Palästina hervorgetan hat. Dabei verfügt sie über große Glaubwürdigkeit in der Bevölkerung, weil diese Forderungen seit jeher einen ihrer politischen Schwerpunkte bilden und sie für sich beansprucht, die Anliegen der palästinensisch-stämmigen Jordanier zu verteidigen. Auch wenn diese Selbstdarstellung bei Weitem nicht bei allen Jordaniern der palästinensischen Diaspora greift, ziehen die Stellungnahmen der Islamic Action Front auch andere Wählerkreise an. Zudem profitiert die Partei davon, dass sie in den städtischen Vororten sowie in den palästinensischen Flüchtlingslagern Jordaniens nahezu unangefochten ist – die anderen Parteien sind dort kaum präsent. Inwieweit hierin die Stärkung der gesellschaftlichen Repräsentativität des Parlaments zu sehen ist, bleibt fraglich. Meinungsumfragen zum Wahlverhalten palästinensisch-stämmiger Jordanier, die die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen, sind nicht öffentlich zugänglich. 

Welche Auswirkung wird dies zukünftig auf die Politik der Regierung haben?

Diese dürften aufgrund der Einschränkungen des Einflusses des Parlaments auf die zentralen Organe der Macht eher gering bleiben. Allerdings muss der vom König zu ernennende Premierminister die Vertrauensfrage im Parlament stellen, und die Abgeordneten können im Laufe der Legislaturperiode einen Misstrauensantrag stellen. Da aber weder der islamische Block – zu dem neben der Islamic Action Front noch die National-Islamische Liste zählt – noch der konservative Block der Charter Party und der parteilosen Abgeordneten über die Mehrheit verfügen, kann keine dieser Kräfte allein bestimmend Einfluss auf die Regierungspolitik nehmen, etwa mittels der Sanktionierung von Regierungsmitgliedern. Anders würde es werden, wenn sich hier eine Art politischer Grundkonsens herausbilden würde und die Regierung eine Sanktionierung durch eine darauf basierende Mehrheit im Parlament berücksichtigen müsste. Dies ist nicht auszuschließen, wäre aber aufgrund der gänzlich unterschiedlichen gesellschaftlichen Basen dieser Gruppierungen eine Überraschung. Der konservative Block vertritt eher die transjordanischen Stammesgemeinschaften, die sich von den palästinensisch-stämmigen Jordaniern abgrenzen. Aber es ist nicht ausgeschlossen und wäre dann letztendlich ein Anzeichen einer Entwicklung hin zu einer stärkeren nationalen Einheit. Deren Fehlen wird oft als Grund für die Rückschläge bei den früheren Versuchen einer demokratischeren Gestaltung von Gesellschaft und Politik gesehen.

Welche Perspektiven ergeben sich nach der Wahl für den Fortschritt des politischen Reformprozesses?

Das Auftreten der Parteien im Parlament und deren Einwirkung auf gesellschaftliche Debatten werden die bisher nur hinter verschlossenen Türen geführten Diskussionen über die Ausrichtung der Reformen nähren und vermutlich in die Öffentlichkeit tragen. Längerfristig, über zwei weitere Legislaturperioden, soll der Einfluss der Parteien im Parlament über die Listenmandate noch ausgeweitet werden. Letztendlich soll am Ende dieses Prozesses eine Regierung gebildet werden, die von einer politischen Mehrheit im Parlament getragen wird. 

Aber schon jetzt kann der konservative Block der transjordanischen Stammesgemeinschaften geltend machen, im Parlament an Einfluss verloren zu haben. Hinzu kommt für sie die Sorge, dass sich dieser Einflussverlust bei einer zukünftigen Mehrheitsregierung auch auf den öffentlichen Dienst ausweitet. Zu dessen Ämtern hatten sie bisher nahezu exklusiven Zugang. Es könnte also sein, dass sie versuchen werden, die zukünftige Vermehrung der Listenmandate zu verhindern. Damit wäre ein Kernelement des Reformprozesses infrage gestellt. Andererseits könnte es zur Bildung des schon erwähnten Grundkonsenses kommen, womit eine wichtige weitere Voraussetzung für den Fortschritt des Prozesses geschaffen werden würde.