Lesen Sie dieses Interview auch auf Russisch.
Das Interview führte Claudia Detsch.
Ein Protest-Tanz geht derzeit um die Welt, mit dem gegen Gewalt an Frauen protestiert wird. Ursprünglich stammt dieser Tanz aus Chile. Welche Absichten verfolgen die Aktivistinnen?
Seit einigen Wochen sorgt in Chile die feministische Bewegung „LaTesis“ mit dem Hashtag #UnVioladorEnTuCamino („Ein Vergewaltiger auf deinem Weg“) und der dazugehörigen beeindruckenden Performance für Aufregung. Nach Santiago, Mexiko und La Paz tanzen Tausende von Frauen nun auch in Madrid, Paris, Melbourne und Neu-Delhi. Denn die Message ist universal – Gewalt gegen Frauen ist eine Verletzung ihrer Menschenrechte!
Welche Nachricht wollen die Organisatorinnen mit ihrer Aktion aussenden?
Die chilenischen Aktivistinnen wollen mit dem Protest-Tanz in einer machistisch-patriarchalen Gesellschaft klarstellen, dass die Opfer sexueller Gewalt keine Schuld an dem Leid haben, das sie erleben. Der Refrain lautet „Es war nicht meine Schuld, egal wo ich war, egal welche Kleidung ich trug“. In Chile ist es bei Vergewaltigungsfällen und Frauenmorden üblich, dass die Medien, aber auch staatliche Institutionen wie Richter und Polizisten sich in erster Linie zum angeblichen Fehlverhalten der betroffenen Frau äußern: „Der Rock war zu kurz“, „die Disko ist nichts für junge Frauen“, „sie hat ihn eifersüchtig gemacht“; „er tötete aus Liebe“…. Dies sind Aussagen, die man stets hört und liest. Die Opfer werden so verantwortlich gemacht und es wird suggeriert, dass die Vergewaltiger und Mörder nur eine Teilschuld haben. Diesen üblichen Macho-Diskurs will das feministische Kollektiv mit der Performance ändern und den betroffenen Frauen ihre Schuldgefühle und ihre Scham nehmen.
Stehen diese Aktionen in Zusammenhang mit der andauernden Welle sozialer Proteste, die Chile bereits seit Ende Oktober erschüttert?
Ja, eindeutig! Seit Ausbruch der Proteste ist es zu einer Welle an Gewalt in Chile gekommen. Innerhalb von 50 Tagen sind mehr als 20 000 Menschen verhaftet worden. 28 Tote, 15 000 Verletzte, 200 Erblindete, 350 Gefolterte – das ist die erschreckende Bilanz der internationalen Menschenrechtsbeobachter von Human Rights Watch. Den Feministinnen ist es wichtig, dabei das Ausmaß der sexuellen Gewalt, die von Seiten des Staates ausgeht, sichtbar zu machen. Viele Demonstrantinnen wurden in den vergangenen Wochen in Polizeigewahrsam sexuell belästigt, vergewaltigt oder gefoltert. 75 Frauen haben es mittlerweile gewagt, diese Fälle anzuzeigen. In 350 Fällen wird das unmenschliche Handeln derzeit noch geprüft. Mehrere der Betroffenen sind minderjährige Mädchen. Die Polizei gilt für viele nicht als „Freund und Helfer“, sondern als „Vergewaltiger und Peiniger“.
Anders als in der Vergangenheit nehmen die Chileninnen in der Performance kein Blatt mehr vor dem Mund, wer die Vergewaltiger sind. Sie brechen das Schweigen. Die Polizisten und die Soldaten werden direkt als Täter und die Richter und der Präsident als deren Unterstützer genannt.
In Lateinamerika werden Morde an Frauen und Mädchen wegen ihres Geschlechts als femicidio bezeichnet. Wie groß ist das Ausmaß an Gewalt?
Das Ausmaß der Gewalt gegen Frauen ist enorm. Laut den Vereinten Nationen (UN Women) sind unter den 25 Ländern mit der weltweit höchsten Femizidrate 14 in Lateinamerika und der Karibik. Jeden Tag werden rund 12 Frauen auf dem Subkontinent ermordet. 2019 wurden in Chile bislang 56 Frauen getötet. In Mexiko sind es bis zum heutigen Tage 1199 Frauen. Das sind Statistiken, die betroffen machen. Meist sind die Mörder aber nicht staatliche Akteure, sondern Partner und Ex-Ehemänner.
Der femicidio ist dabei die brutalste Form der Gewalt. Viele Frauen haben langes Leid hinter sich, bevor ihnen das Leben genommen wird. Vergewaltigungen, sexuelle Belästigung, psychische sowie physische Gewalt sind noch viel weiter verbreitete Phänomene der Menschenrechtsverletzungen, denen Frauen in Lateinamerika ausgesetzt sind und die meist einem Mord vorausgehen. Die UN schätzt, dass 60 Prozent im Laufe ihres Lebens mindestens einmal Opfer einer dieser genannten Gewalttaten werden. In Deutschland sind es 25 Prozent.
Welche konkreten Forderungen erheben die Initiatorinnen?
Die Feministinnen fordern nicht weniger als eine Aufarbeitung der gesellschaftlichen und demokratischen Defizite Chiles. Demokratiedefizite sind für sie neben der Polizeigewalt fehlende gesetzliche Regelungen und eine verharmlosende Rechtsprechung. Die Straffreiheit von Frauenmördern und Vergewaltigern ist hoch. In Chile kam es im vergangenen Jahr nur in 8 Prozent der Fälle, die vor Gericht landeten, zu einer Verurteilung. In Zentralamerika ist die Straffreiheit übrigens noch höher. Daher bezeichnen die Frauen auch die Präsidenten, die für diese staatlichen Institutionen die Verantwortung inne haben, als (Mit-)Täter.
Ein gesellschaftliches Defizit ist für die Aktivistinnen eine Macho-Kultur, in der sexistische Kommentare, Belästigungen und Gewalt gegen Frauen stillschweigend hingenommen werden. Ein zentrales Problem ist weiterhin, dass Frauen in Politik, Wirtschaft und Kultur nach wie vor unterrepräsentiert sind. Häufig fehlt daher der „Genderblick“. Die Macht haben weiterhin die Männer. Dies macht ein Umdenken hin zu einer gleichberechtigteren Gesellschaft zu einer großen Herausforderung.
Aber die feministische Stimme ist in Chile nicht mehr zu überhören: Bereits 2018 haben landesweit Studentinnen Universitäten besetzt, um auf die sexuelle Gewalt und Belästigung in Bildungseinrichtungen aufmerksam zu machen. Ihnen ist es zu verdanken, dass viele junge Frauen nun aussprechen, was sie erleben. Zahlreiche angeklagte Rektoren und Professoren mussten seitdem den Hut nehmen und ihren Arbeitsplatz räumen. Die aktuelle Tanz-Performance ist ein weiterer Schritt der darauf abzielt, die lateinamerikanische Macho-Kultur, die noch immer stark auf die „Ehre“ des Mannes fokussiert ist, grundlegend zu hinterfragen.
Was ist das größere Problem – fehlende gesetzliche Regelungen, eine verharmlosende Rechtsprechung oder die Macho-Kultur?
Ich denke, verheerend ist genau der Cocktail, der aus diesen drei Zutaten entsteht. Als weitere Zutat kommt übrigens noch das derzeitige Erstarken rechtskonservativer Kirchen und Parteien sowie des Militärs in Lateinamerika und der Karibik hinzu. Diese Akteure versuchen heute gemeinsam, das traditionelle Familien- und Geschlechterbild zu verteidigen. Dem Feminismus wird vorgeworfen, er wolle die „natürlichen“ und „gottgegebenen“ gesellschaftlichen Rollen von Mann und Frau zerstören und würde damit die „soziale Moral“ auflösen. Es wird regelrecht Panik gegen feministische Bewegungen erzeugt.
In Lateinamerika scheint die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Hassverbrechen gegenüber Frauen sehr viel intensiver zu sein als beispielsweise in Deutschland. Ist bei uns das Problem schlicht kleiner?
122 Frauen sind in Deutschland 2018 ermordet worden. Auf 100 000 Frauen umgerechnet gibt es damit in Deutschland und in Chile ungefähr gleich viel dokumentierte Frauenmorde. Auch Deutschland hat damit ein gravierendes Problem. Es sind so viele – ein Opfer jeden dritten Tag –, dass man denken würde, es gebe in der Öffentlichkeit ein Verlangen danach, die Ursachen und Umstände dieser Taten zu begreifen, um sie künftig verhindern zu können. Gibt es aber kaum. Die ZEIT hat recherchiert, dass über Frauenmorde oft nur in der Lokal- oder Boulevardzeitung berichtet wird. Die Morde passieren meist im familiären Umfeld und werden damit als ein familiäres und nicht gesamtgesellschaftliches Problem wahrgenommen. Außer wenn die Tat von einem nicht-deutschen Ehemann begangen wird.
In der chilenischen Performance wird die Vorstellung vom „Feind“ außerhalb der eigenen vier Wände angeprangert. Es scheint einfacher, den Täter zu benennen, wenn man ihn nicht liebt oder geliebt hat.
Eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Frauenmorden und Hassverbrechen ist aber auch in Deutschland dringend notwendig. Letzte Woche wurde die Performance der chilenischen Feministinnen übrigens gleich mehrmals auf den Straßen Berlins getanzt.