Die Fragen stellte Alexander Isele.

Drei Jahre nach dem Putsch hat die Junta in Myanmar es nicht geschafft, ihre Macht zu festigen. Wie ist im Augenblick die Lage im Land?

Der Bürgerkrieg wird mit sehr brachialen Methoden geführt. Jeden Tag sterben Menschen auf beiden Seiten. In den drei Jahren seit dem Staatsstreich hat die Lage sich jedoch von Grund auf gewandelt. Der Krieg ist an einem Point of no Return angelangt und für das myanmarische Militär inzwischen nicht mehr zu gewinnen. Das ist sehr überraschend. Seit dem Putsch am 1. Februar 2021 konnte die Widerstandskoalition nach einer ersten Pattsituation sukzessive an Boden gewinnen und ist mittlerweile dabei, den Bürgerkrieg für sich zu entscheiden. Nicht im Sturm, sondern in einem zermürbenden, brutalen, qualvollen und tragischen Krieg.

Wer gehört alles zur Widerstandskoalition?  

Die Widerstandskoalition stützt sich auf verschiedene Säulen. Da sind zunächst die Armeen der verschiedenen ethnischen Gruppen. Diese sogenannten ethnischen bewaffneten Gruppen (Ethnic Armed Organizations, EAOs) kämpfen schon seit Jahrzehnten gegen das myanmarische Militär. Meistens ist es der Armee gelungen, sie in Schach zu halten. Myanmar ist ein Vielvölkerstaat. Rund 40 Prozent der Bevölkerung gehören unterschiedlichen Ethnien an, die in den jeweiligen Grenzgebieten zu Indien, China, Laos und Thailand leben: die Chin, Kachin, Shan, Karenni, Karen, Mon und Rakhine und unzählige weitere Ethnien. Viele von ihnen haben ihre eigenen bewaffneten Gruppierungen. Eine Besonderheit dieses Bürgerkriegs ist, dass auch viele Birmanen (Bamar), die in Myanmar mit ungefähr 60 Prozent die Bevölkerungsmehrheit stellen, den Kampf gegen das Militär aufgenommen haben. Das Land ist also in seiner Opposition und Verachtung gegenüber der Junta weitgehend geeint. Das macht den entscheidenden Unterschied.

Das ist eine landesweite Revolte.

Viele junge Birmanen und junge Angehörige der ethnischen Minderheiten zogen in den Kampf – Männer und Frauen in ihren Zwanzigern, aber auch Teenager. Sie sind in der Zeit der Öffnung des Landes aufgewachsen, nach über 50 Jahren Militärdiktatur. In den zehn Jahren zwischen 2011 und 2021 eröffneten sich für sie Möglichkeiten und Chancen, die ihre Großeltern nie hatten – und sie wollten auf keinen Fall in die finsteren Zeiten der Junta-Herrschaft zurück. Viele engagierten sich in der Bewegung des zivilen Ungehorsams (Civil Disobedient Movement) und versuchten, mit Streiks die Militärdiktatur lahmzulegen. Das brutale und blutige Durchgreifen der Armee schweißte die Mehrheit der Bevölkerung im Land zusammen. Im ersten halben Jahr nach dem Putsch formierten sich die sogenannten Volksverteidigungskräfte (People Defense Forces, PDF). In ihren Reihen kämpfen viele der erwähnten jungen Männer und Frauen in kleinen Gruppen gegen das Militär. Sie sind in kleinen Einheiten organisiert und operieren in verschiedenen Städten und Dörfern im Land. Sie arbeiten mit Guerillataktiken, greifen aus dem Hinterhalt Gruppen von Soldaten an und bringen deren Waffen an sich. Das ist eine landesweite Revolte.

Kooperieren die ethnischen bewaffneten Gruppen und die Volksverteidigungskräfte miteinander?

Manche Mitglieder der Volksverteidigungskräfte werden von EAOs ausgebildet, und es gibt ein gewisses Maß an Zusammenarbeit unter der Federführung der zivilen Regierung der Nationalen Einheit, die den Widerstand koordiniert und der einige Mitglieder der letzten demokratisch gewählten Regierung angehören. Die Volksverteidigungskräfte operieren wie Guerillatrupps, und ihre Aktionen werden vom Militär mit brutalen Angriffen auf Dörfer beantwortet, zum Teil mit Bombardierungen aus der Luft. Die EAOs sind eher mit Milizen vergleichbar oder sogar mit kleinen konventionellen Armeen, die das Militär mit den Methoden bekämpfen, die sie schon seit Jahrzehnten anwenden: Sie attackieren Armeeposten oder auch ganze Militärbasen.

Immer mehr Gebiete in ganz Myanmar sind inzwischen von der Junta-Herrschaft befreit.

Im vergangenen Oktober gab es einen wichtigen Wendepunkt: Die Three Brotherhood Alliance – bestehend aus den drei EAOs Myanmar National Democratic Alliance Army, Ta’ang National Liberation Army und Arakan Army – startete einen abgestimmten Angriff im Bundesstaat Shan, der im Norden des Landes an der Grenze zu China liegt. Sie brachten rund zwei Dutzend Städte und Hunderte Militärposten unter ihre Kontrolle. Das ermutigte andere EAOs, ebenfalls in die Offensive zu gehen. Inzwischen wurden weitere Städte von Widerstandskräften eingenommen und weitere Militärstellungen erobert. Immer mehr Gebiete in ganz Myanmar sind inzwischen von der Junta-Herrschaft befreit.

Wie reagiert das Militär?

Die Stimmung in der Armee ist am Boden. Die Soldaten werden permanent aus dem Hinterhalt unter Feuer genommen – sei es von den EAOs oder von Guerillaeinheiten der Volksverteidigungskräfte. Die Armee schrumpft Tag für Tag. Viele werden getötet, manche desertieren und laufen zum Gegner über. Es finden sich kaum neue Rekruten. Der Führungsstab der Junta ist durch EU und USA international isoliert, und der Verbündete Russland ist mit dem Krieg gegen die Ukraine ausgelastet und daher auch keine große Hilfe. Vor allem aber kommt China der Junta nicht zu Hilfe, weil diese nichts gegen die Cyber-Betrugszentren unternimmt, die sich an der Grenze zu China etabliert haben und von dort aus mit ihren Online-Betrügereien viele chinesische Staatsbürger ausnehmen. Für die Operation der Three Brotherhood Alliance im Oktober signalisierte China sogar grünes Licht. Die Junta in Myanmar ist also extrem isoliert und kann diesen Krieg nicht gewinnen.

Was wird nach der Junta kommen?

Das ist die alles entscheidende Frage, die niemand beantworten kann. Klar ist, dass der Putsch gerade dabei ist, zu scheitern, und dass die Widerstandsbewegung sich auf der Siegerstraße befindet, auch wenn niemand prognostizieren kann, wie lange der Krieg sich noch hinziehen wird. Aber was danach kommt? Ist eine praktikable Lösung für ein System in Sicht, in dem die Macht geteilt wird? Die Widerstandskräfte müssen eine tragfähige Alternative entwickeln, und die Regierung der Nationalen Einheit muss eine Zukunftsperspektive präsentieren. Nach eigener Aussage will sie eine föderal-demokratische Union aufbauen, eine demokratische Ordnung mit einer föderalen Regierung und einer gewissen Autonomie für die verschiedenen ethnischen Bundesstaaten, aus denen Myanmar unter anderem besteht. Der Weg dorthin wird allerdings sehr steinig sein. Die Suche nach einem solchen Kompromiss ist ein hartes Stück Arbeit, das überhaupt erst einmal ernsthaft in Angriff genommen werden muss.

Im schlimmsten Fall kommt es in Myanmar zu Fragmentierung und Balkanisierung.

Im schlimmsten Fall kommt es in Myanmar zu Fragmentierung und Balkanisierung, aus der es kein Zurück mehr gibt. Dann würden einzelne Bundesstaaten mit verschiedenen ethnischen Armeen ihr jeweils eigenes Gebiet kontrollieren, ihre eigenen Steuern erheben, illegalen Handel treiben – was einige EAOs schon seit Jahrzehnten tun. Die Zentralmacht würde ihren Einfluss verlieren und wäre nicht mehr imstande, das Land zusammenzuhalten. Myanmar würde möglicherweise zum Brennpunkt der länderübergreifenden Kriminalität, mit Drogenherstellung, Menschenhandel mit Frauen, Kindern und Arbeitskräften und anderem mehr.

Wie würde ein positives Szenario aussehen?

Eine positive Entwicklung würde bedeuten, dass die Macht in irgendeiner Weise geteilt wird wie nach 2011. Damals fungierte Ex-GeneralThein Sein, also ein Vertreter des Militärs, bis 2016 als Präsident. Er holte sich Technokraten an die Seite und leitete Reformen ein, realisierte Entwicklungsprojekte, holte ausländische Investitionen ins Land und öffnete Myanmar außenpolitisch. Es konnten zivile Strukturen entstehen. 2015 gewannen Aung San Suu Kyi und ihre Nationale Liga für Demokratie die Wahlen und regierten bis zum Putsch. Heute gibt es auf der Seite des Militärs niemanden, der glaubwürdig und konsensfähig genug wäre, um am Übergang zu einer föderalen und demokratischen Ordnung mitzuwirken. Ob Aung San Suu Kyi nach dem Bürgerkrieg noch einmal eine Rolle spielen kann, ist ebenfalls zweifelhaft.

Wie sollte die internationale Gemeinschaft sich einbringen?

Die internationale Gemeinschaft sollte mäßigend und unterstützend wirken, damit die Menschen in Myanmar ihre Probleme untereinander regeln können. Eine besondere Funktion hat dabei die ASEAN, auch wenn die Erfolgsbilanz des Staatenbundes dürftig ausfällt. Nach dem Putsch hat sie im April 2021 den „Fünf-Punkte-Konsens“ aufgestellt, der von der Junta ignoriert wurde, und danach die Hände in den Schoß gelegt. Trotzdem: Die ASEAN ist der einzige wichtige Verbund in Südostasien, dem neben Myanmars unmittelbarem Nachbarn Thailand auch Länder wie Indonesien, Malaysia und Singapur angehören, die bereit sind, sich zu engagieren.

Auch der internationalen Gemeinschaft insgesamt, zum Beispiel Deutschland, der EU, Großbritannien und den USA, kommt eine Rolle zu. Realistisch betrachtet, gibt es auf der Welt lauter Krisenherde und Spannungsgebiete: Russlands Krieg gegen die Ukraine, Hamas und Israel, der Machtkampf zwischen USA und China. Dennoch sollte die internationale Gemeinschaft sich aus eigenem Interesse um Myanmar kümmern, damit es nicht zur Brutstätte einer transnationalen Kriminalität wird, die früher oder später vor ihrer eigenen Haustür landet. Sie können Myanmar gemeinsam mit China in die Pflicht nehmen, für das die Turbulenzen in seinem Nachbarland dramatische Auswirkungen haben. China bangt um seine Investitionen – unter anderem eine Pipeline und Infrastrukturvorhaben im Rahmen des China-Myanmar-Wirtschaftskorridors, der Teil der Neuen Seidenstraßeninitiative ist. China ist auf Stabilität in Myanmar angewiesen und könnte für die internationale Gemeinschaft ein Partner sein, der die Situation entschärft und eine vermittelnde, moderierende Rolle übernimmt. Doch wie der zermürbende Bürgerkrieg ausgeht und was danach kommt, wird sich letztlich in Myanmar entscheiden.

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld