Die Fragen stellte Linn Jansen.

Wladimir Putin hat 2001 eine Rede im Bundestag gehalten, in der es um die Integration Russlands in Europa und um Partnerschaft ging. Seit letztem Februar führt er einen brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Wie konnte sich das Blatt so wenden?

Ich finde es nicht angemessen, dass immer noch so viel Bezug auf diese Rede genommen wird. Die Position, die Putin damals darlegte, hatte schon ein paar Jahre später nichts mehr mit der faktischen russischen Außenpolitik zu tun. Die Rede wurde außerdem in einem ganz anderen historischen Kontext gehalten. Wenn man sie genauer anschaut, sieht man, dass bestimmte Dinge damals schon angelegt waren: zum Beispiel eine sehr große Distanz zu den USA. Auch der Versuch, Deutschland klarzumachen, dass die Zukunft Europas eher bei Russland als bei den USA liege. Diese anti-transatlantische Haltung kommt in dieser Rede ganz klar zum Vorschein. Das ist ein Aspekt, der in unserem Diskurs und in der kollektiven Erinnerung völlig untergegangen ist. In meinem Buch beschreibe ich eine kontinuierliche Verschärfung dessen, was ich als russischen Chauvinismus bezeichne, in drei Säulen: erstens, ein aggressiver Nationalismus und Imperialismus in der russischen Politik; zweitens, Sexismus und ein extremes Patriarchat; und drittens, Autokratie. Diese drei Trends haben sich in den letzten 23 Jahren kontinuierlich und immer drastischer verschärft. Sie haben sehr viel zum Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine 2014 und zur Vollinvasion am 24. Februar 2022 beigetragen.

An welchen Stellen beobachten Sie diese drei Säulen in Russland konkret?

Nationalismus und Imperialismus äußern sich vor allem in der Außenpolitik, insbesondere im Verhältnis zu den Nachbarstaaten. Die russische politische Elite ist von der Vorstellung besessen, dass Russland als Großmacht in einer multipolaren Welt den Anspruch auf eine regionale Einflusssphäre hat, in der es die Regeln bestimmt und durchsetzt. In dieser Einflusssphäre ist die Großmacht der einzige Akteur mit einem wirklichen Anspruch auf vollständige Souveränität. Das ist eine Haltung, die bereits in den 90er Jahren existierte, aber in den 2000er Jahren mit dem Putin-Regime politikbestimmend wurde. Wachsenden Sexismus mache ich unter anderem an einer kontinuierlichen Verschlechterung im Bereich der Frauenrechte sowie einer immer stärker diskriminierenden Politik gegenüber LGBTQI-Personen fest. Das passiert sowohl auf gesellschaftlicher Ebene als auch auf der politischen und rechtlichen Ebene.

Frauen und marginalisierte Gruppen kommen im Entscheidungsprozess so gut wie nicht vor.

Die systematische Festschreibung dieser Diskriminierung im russischen „Rechtssystem“ durch repressive Gesetzgebung, die immer systematischer dazu genutzt wird, feministischen und LGBTQI-Aktivismus aus der politischen und gesellschaftlichen Sphäre zu verdrängen, ist ein Beispiel. Das russische Regime ist schon in den 2000er Jahren zu einer sehr pro-natalistischen Politik übergegangen, weil das aus der Sicht dieses sehr sexistischen und patriarchalen Regimes der vermeintlich einzige Weg war, die demografischen Probleme zu lösen, die Russland vor dem Hintergrund der Transformationskrise der 90er Jahre hatte. Dieser Trend hin zu den sogenannten traditionellen Werten hat sich 2011/12 nach der Rückkehr Putins in den Kreml massiv verschärft. Die russische Politik ist extrem von Männern dominiert. Frauen und marginalisierte Gruppen kommen im Entscheidungsprozess so gut wie nicht vor. Die Autokratisierung ist die Säule in dieser chauvinistischen Trias, die sich zwangsläufig aus den anderen beiden ergibt. Denn Nationalismus und Sexismus – beziehungsweise das Patriarchat – sind in sich autokratisch. Wenn gesellschaftliche und private Beziehungen so strukturiert sind, dann ist es fast zwangsläufig, dass auch politische Beziehungen und ein politisches System starke autokratische Tendenzen aufweisen. Nationalismus und Imperialismus, Sexismus und Autokratie sind aufs engste miteinander verbunden, sie bedingen und verstärken sich gegenseitig. Sie produzieren Gewalt – nach innen und nach außen.

Rechtspopulistische europäische Parteien wie der Rassemblement National oder die AfD pflegen seit Jahren enge Beziehungen mit dem Kreml. Kann der russische Chauvinismus durch diese Parteien auch in Europa andocken?

Ja, rechtspopulistische und rechtsextremistische Kräfte in liberalen Demokratien schaffen durch ihre ideologischen Überschneidungen mit dem russischen Chauvinismus Andock-Punkte und sind Einfallstore für russische Politik. Diese ist in sich extrem illiberal und anti-europäisch. Sie richtet sich gegen die Europäische Union als Verkörperung liberaler Ordnung und Werte. Es handelt sich um eine systemische Bedrohung, auf die auch systemisch reagiert werden muss. Die rechtspopulistischen politischen Kräfte sind Kanäle für den russischen Chauvinismus, um liberale Demokratien sowie die Europäische Union zu unterminieren. Die Probleme und Krisen der liberalen Demokratien sind natürlich nicht von Russland oder anderen der EU nicht freundlich gesinnten Akteuren verursacht worden. Aber diese Akteure nutzen diese Krisen, um Liberalismus und Demokratie, der sie als Gefahr für sich selbst empfinden, zu schwächen.

Russland nutzt für seine Propaganda Medien, die sich direkt an internationales und vor allem europäisches Publikum richten. Welche Rolle spielt das in der Wahrnehmung des Krieges in der Ukraine für die europäische Sicht?

Diese russischen Auslands-Propagandamedien spielen eine große Rolle und letztendlich – das haben russische Propagandistinnen und Propagandisten wie Margarita Simonjan immer wieder sehr offen gesagt – sind sie eine Kriegswaffe. Entsprechend hat Russland ab den 2000er Jahren immer gezielter und intensiver in diese Medien – Russia Today, Ruptly oder Sputnik – investiert. Über diese Medien werden zwei Dinge getan: Es wird russische Propaganda gestreut und es wird Desinformation betrieben. Zum einen um die russischen Propaganda-Narrative, zum Beispiel über den Krieg gegen die Ukraine, zu transportieren. Aber auch um Wahrheit und Objektivität völlig zu relativieren. Ein sehr plastisches Beispiel war der Abschuss von MH17, dem malaysischen Passagierflugzeug über dem Donbass mit fast 300 Opfern, bei dem man beobachten konnte, wie die russischen Propagandamedien innerhalb von kürzester Zeit Dutzende von unterschiedlichen Versionen dieses Ereignisses in die Welt gesetzt haben.

Man muss diese Auslands-Propagandamedien wirklich knallhart als Waffe im russischen hybriden und Informationskrieg sehen.

Ziel dieser Strategie ist es, eine totale Verwirrung, eine völlige Relativierung und Infragestellung jeder Form von Wahrheit zu erreichen. Das ist zum Teil auch durchaus erfolgreich. Manche europäische Gesellschaften sind dafür empfänglicher als andere. In Polen beispielswiese werden sie damit wesentlich weniger Erfolg haben als – bedauerlicherweise – in Deutschland und anderen westeuropäischen Gesellschaften. Grund ist auch hier, dass es Anknüpfungspunkte mit rechtsradikalen und rechtsextremistischen politischen Strömungen gibt. Russlands Propaganda wird aufgenommen, weitergetragen, und so kann sie durchaus Teilerfolge für sich verbuchen. Die Online-Medien und das Internet als Kommunikationsraum sind auch deshalb so wichtig, weil die EU nach dem Beginn der Vollinvasion russische Propagandamedien verboten hat. Sie sind aber über das Internet problemlos weiter zugänglich. Und damit sind sie eben wirkmächtig, ebenso wie russische Bots und Trolls in den sozialen Netzwerken. Man muss diese Auslands-Propagandamedien wirklich knallhart als Waffe im russischen hybriden und Informationskrieg sehen.

Sollte Russland den Krieg gegen die Ukraine verlieren, was würde mit dem Chauvinismus in Russland passieren?

Ich komme leider zu der nicht sehr optimistischen Schlussfolgerung, dass der Chauvinismus selbst im wenig wahrscheinlichen Falle einer demokratischen Transition weiter eine Rolle in der russischen Politik spielen würde. Auch in der Gesellschaft, weil er in den politischen Haltungen, Wahrnehmungen und Identitäten verankert ist. Man muss davon ausgehen – so wie das auch in den 90er Jahren der Fall war –, dass genau diese Haltungen auch über einen demokratischen Regimewechsel hinaus wirksam bleiben würden. Ich sehe einen sehr starken Zusammenhang zwischen der Entwicklung der russischen Politik und dem Krieg gegen die Ukraine. Putin hat mit seiner Entscheidung zur Vollinvasion die Zukunft seines eigenen Regimes an den Ausgang dieses Krieges gebunden. Und je näher Russland an eine tatsächliche Niederlage in diesem Krieg kommt, desto gefährlicher wäre das für sein Regime.

Im Buch identifiziere ich drei Szenarien für die Zukunft Russlands. Erstens, Regime-Kontinuität: Solange dieses Regime an der Macht ist, können wir nicht erwarten, dass sich generell an der russischen Politik sowie insbesondere an der aggressiven und auf Vernichtung ausgerichteten Politik gegenüber der Ukraine irgendetwas ändert. Das zweite Szenario ist ein Regime-Kollaps, der zum Beispiel eintreten könnte, wenn die Ukraine signifikante militärische Erfolge erringen könnte, wie zum Beispiel einen Durchbruch bis zum Asowschen Meer oder eine Rückeroberung der Krim. Ein solcher Schlag könnte zu großer innenpolitischer Instabilität und möglicherweise zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen in Russland führen. Wir haben einen kurzen Eindruck davon in den knapp 24 Stunden der Prigoschin-Meuterei bekommen. Aber auch im dritten Szenario, einer demokratischen Transition müsste man davon ausgehen, dass es, so wie die politische Elite und die Gesellschaft aufgestellt sind, weiterhin bedeutende chauvinistische Player in Russland geben würde. Der Chauvinismus wird also bleiben, egal wie das Land sich entwickelt, was aber nicht bedeutet, dass er im Falle einer demokratischen Transition nicht schrumpfen könnte.

Ist die feministische Außenpolitik, die Deutschland betreibt, die richtige Antwort auf die chauvinistische Politik Russlands?

Ich glaube, dass dieser Krieg die deutsche Politik fundamental verändert hat. Schon der ganze Komplex Waffenlieferungen wäre bis zum Abend des 23. Februar letzten Jahres einfach nicht denkbar gewesen. Die feministische Außenpolitik ist eine wichtige Antwort auf die chauvinistische Aggression Russlands. Das fängt damit an, dass eine feministische Perspektive überhaupt erst sichtbar macht, wie grundlegend Sexismus in das politische und gesellschaftliche System Russlands eingelagert ist. Dass die extrem patriarchalen Strukturen und Hypermaskulinität ganz wichtige Säulen dieses Regimes, seiner Legitimationsproduktion und seiner Gewalttätigkeit sind. Und dass Sexismus Teil der Aggression ist. Die feministische Perspektive und der Blick auf Geschlechter, gerade auch auf private Beziehungen, sind immens wichtig zur Früherkennung struktureller Gewalt und ihrer möglichen Auswirkungen, innen- wie außenpolitisch. Denn wenn auf der privaten Ebene viel Gewalt herrscht, dann kann man davon ausgehen, dass sich das auf anderen Ebenen fortsetzt.

Ungleich vermachtete Strukturen müssen neu reflektiert und verändert werden.

Feministische Politik kann auch einen wichtigen Beitrag dazu leisten, zukünftig in der Ukraine nachhaltigen Frieden zu schaffen: Politisch, gesellschaftlich, wirtschaftlich. Dazu zählt die Inklusion von Frauen und marginalisierten Gruppen in den politischen Prozess sowie die Beteiligung der gesamten Gesellschaft am Wiederaufbau. Dafür ist die feministische Perspektive essentiell. Sie muss aus meiner Sicht ein integraler Bestandteil von Politik sein. Ungleich vermachtete Strukturen müssen neu reflektiert und verändert werden, damit sie nicht wieder zu Gewalt führen. Das muss in der Umsetzung noch ausbuchstabiert werden. Das beginnt gerade erst, aber ich bin froh, dass diese Perspektive jetzt an Gewicht gewinnt.