Die Fragen stellte Nikolaos Gavalakis.

Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin ist bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Welche Auswirkungen hat der vermutliche Abschuss auf Russland?

Wir werden wohl noch eine Weile warten müssen, bis wir erfahren werden, was genau passiert ist. Ob es nun ein Raketenabschuss oder eine Bombe war, ist aber auch ziemlich egal. Denn die absolute Mehrheit der russischen Gesellschaft hält den Absturz für einen Vergeltungsschlag seitens des Kremls. Ich sehe zwei wesentliche Auswirkungen: Die erste ist eine Intensivierung der Repressionswelle, die bereits sehr angezogen hatte nach der Wagner-Revolte im Juni. Man kann natürlich sagen: Russland war schon zuvor massiv von Repression geprägt. Aber es bleibt trotzdem noch Raum zur Ausschaltung von stillen – und auch nicht so stillen – politischen Gegnern. Wir haben eine Welle von repressiven Maßnahmen: Es gibt völlig ohne Not ein neues Urteil gegen Alexej Nawalny, mit einer zusätzlichen Haftstrafe von 19 Jahren. Wir haben die Verhaftung von Igor Girkin, einem ultranationalistischen Blogger, der 2014 für den ersten Durchbruch seitens Russlands in die Ostukraine verantwortlich war. Die Verhaftung des linken Alt-Dissidenten Boris Kagarlitzkij. Und vor ein paar Tagen ist der prominenteste Wahlbeobachter des Landes verhaftet worden, Grigori Melkonjanz, der eigentlich seit langem keine nennenswerte, hörbare Opposition dargestellt hat. Ich glaube, dass das einfach weitergehen wird. Kurzfristig wird der repressive Apparat alles wegbeißen, was aufkommt an vermeintlicher Opposition oder Dissidenz – selbst in den eigenen Reihen. Das ist auch das wirklich Neue – die Repression wendet sich nun gegen einen Insider des Systems, der es wohl gewagt hat, selbst zum Volk zu sprechen, politische Botschaften zu senden, also eine Prärogative von Wladimir Putin zu beanspruchen. Es wird also erstmal noch repressiver, noch aggressiver.

Es wird aufgeräumt, und zwar mit einer Intensität, die auch beinhaltet, dass man politische Gegner über Zentralrussland vom Himmel holt. Das ist eine Hinwendung zu einer derart brutalen und fast theatralischen Gewaltanwendung, die natürlich für die ganze Gesellschaft ein Schock ist. Wenn das die Mittel sind, zu denen der Kreml greift, dann ist es ein neues Kapitel im politischen Denken von Wladimir Putin. Das muss allen zu denken geben, die der Meinung sind, dass es sich weiterhin um eine rationale Staatsspitze handelt, die vielleicht bei einigen Entscheidungen Fehler gemacht hat, die aber grundsätzlich eigentlich durchaus vernünftig ist.

Es wird aufgeräumt, und zwar mit einer Intensität, die auch beinhaltet, dass man politische Gegner über Zentralrussland vom Himmel holt.

Die zweite Auswirkung ist: Durch die Zunahme der Repressionen verliert das Regime mittelfristig eines seiner Legitimationsstandbeine, nämlich den Anschein eines eigentlich durchaus vernünftigen, wohlgesonnenen, vielleicht geopolitisch etwas unglücklich agierenden, aber grundsätzlich normalen Landes. Denn das ist bis dato immer noch das Image nach innen gewesen und das sehe ich gerade ins Schwanken geraten.

Einzelne Mitglieder von Wagner haben eine Reaktion angekündigt. Ist ein weiterer Aufstand zu befürchten?

Das müssen wir abwarten. Mit Prigoschin und dessen Stellvertreter Dmitri Utkin sind die zwei wichtigsten Männer weg. Jetzt kommt es auf die Kommandeure an, die danach kommen. Zum Beispiel Anton Jelisarow, Kampfname „Lotus“, oder Andrej Troschew, Kampfname „Sedoj“, einer von ihnen wäre nun der Nächste in der Kommandoreihenfolge. Ich habe bisher von ihnen nichts vernommen. Für mich ist klar: Wagner als Einheit, als Organisation, ist erledigt. Es wird keine geopolitischen Funktionen mehr übernehmen, auch nicht in Afrika. Man wird sie entweder Rebranden, vielleicht einen Teil der Männer in andere Verwendungen übernehmen, die anfallenden Missionen nun anderen quasi-privaten Firmen übergeben, zum Beispiel „Redut“. Es ist nun auch immer klarer, dass diese Übergangszeit, diese zwei Monate zwischen der Revolte und dem Absturz des Flugzeugs, eine Zeit war, in der die russische Staatsspitze Dinge nochmal analysiert und geordnet hat. Zum einen wurde die Revolte durchleuchtet und nochmal geprüft: Wer steckte da alles mit drin? Zum Beispiel General Sergej Surowikin, der ja gestern seines Amtes als Oberkommandierender der Luft- und Raumstreitkräfte enthoben wurde. Zum anderen hat man sich darauf vorbereitet, Wagner zu neutralisieren, räumlich zu verteilen und zu schauen, wo man noch Nutzen aus der Gruppe ziehen kann.

Wagner als Einheit, als Organisation, ist erledigt.

Wagner ist – Stand jetzt – meines Erachtens als Gesamtorganisation nicht in der Lage zu agieren. Ich würde keinen Putsch, keine Revolte erwarten. Das heißt nicht, dass es nicht vereinzelte Aktionen geben könnte von überzeugten Anhängern. Aber das hat alles nicht mehr die Dimension der Ereignisse von vor zwei Monaten. Wir sehen auch Solidarisierungs-Bewegungen. So wurden etwa die ganze Nacht vor der Wagner-Unternehmenszentrale in Sankt Petersburg, die schon in den vergangenen zwei Monaten geräumt worden ist, Blumen niedergelegt. Denn für viele ist Prigoschin so etwas wie ein patriotischer Robin Hood gewesen, der gegen die Korruption der Eliten angekämpft hat. Diese Blumen wurden am Morgen abgeräumt, aber es werden neue Blumen gebracht. Da gibt es ein emotionales Moment. Wir wissen, dass in Rostow am Don – die Stadt, wo die Revolte vor zwei Monaten mit dem Marsch auf Moskau begonnen hat – die Polizei in Alarmbereitschaft versetzt worden ist, sozusagen in Erwartung von möglichen Kundgebungen, Solidarisierungsaktionen oder eben auch Zorn. Es gab aber nur einen Demonstrierenden, der mit der Symbolik der Wagner-Truppen auf den Hauptplatz der Stadt gekommen ist. Es hält sich alles extremst in Grenzen. Ich erwarte also keinerlei gewaltsame Manifestation der Unzufriedenheit.

Prigoschins Tod, die neue Verurteilung von Nawalny, Drohnenangriffe auf Moskau. Wie fragil ist das russische Machtgefüge?

Neben den genannten sind es noch weitere Faktoren, die die Gesamtbelastung auf das Regime gerade bestimmen, zum Beispiel die wirtschaftliche Lage. Der Rubel schwächelt sehr, zuletzt lag der Wechselkurs gegenüber dem Dollar bei über 100 Rubel. Das ist eine wichtige psychologische Grenze gewesen. Damit werden Teile der Erfolge, die die Zentralbank direkt nach der Invasion erzielt hatte, jetzt wieder zunichtegemacht. Man sieht das auch bei der gegenwärtigen ökonomischen Lage. Man kann sie zwar als positiv darstellen aufgrund des Hochfahrens der rüstungsrelevanten Teile der Ökonomie, aber allen wird immer klarer: In ein oder zwei Jahren droht tatsächlich ein wesentlicher Umbruch in der Wirtschaft. Das sieht man an vielen Faktoren: am Erwartungshorizont der Verbraucher und Konsumenten, an Entscheidungen der Firmen, am Kreditverhalten. Es ist sicherlich eine Zeit der großen Unsicherheit. Die Bürgerinnen und Bürger planen nichts mehr. Sehr lange kann so ein Regime auf diese Weise eigentlich nicht regieren, zumal demnächst Wahlen anstehen: zunächst Regionalwahlen im Herbst und dann nächstes Jahr Präsidialwahlen. In so einer Lage wird das Regime starr und repressiv. Denn jetzt dürfen wirklich keine Fehler mehr gemacht werden.

Das Regime ist sehr bereit, Gewalt anzuwenden.

Und in der Vergangenheit wurden zu viele Fehler gemacht und zugelassen. Bedeutet das im Umkehrschluss, dass das Regime sehr fragil ist? Das würde ich so nicht gleichsetzen. Das Regime ist sehr bereit, Gewalt anzuwenden. Das hat natürlich Kosten und Risiken – und kann auch schiefgehen. Wir sind in einer Lage, in der die Anspannung im System Putin so groß ist, dass jetzt auf geringste Gefahren mit großem Krafteinsatz und mit Gewalt reagiert werden kann, äußerlich, innerlich, ökonomisch, hinsichtlich sozialer Proteste und gegen politische Dissidenten, die man jetzt eben schon mal vorsorglich aufgeräumt hat. Das birgt ein Risiko. Ich sehe keine inhärente Fragilität des Regimes, sondern eine Situation, in der die Nervosität so groß ist, dass leicht Fehler passieren können. Zumal nun auch eigentlich „loyale“ Akteure wie Prigoschin fatale Fehler machen können, wie es ihm mit seiner Revolte passiert ist. Und die Fehleranfälligkeit ist genau das, wo wir draufgucken müssen.

Wie fest sitzt Wladimir Putin im Sattel?

Bezüglich des Initiators des Anschlags kursieren die wildesten Theorien. Ich begebe mich eigentlich ungern in den Bereich von Verschwörungstheorien. Aber alleine die Möglichkeit, dass es gar nicht Putin war, sondern jemand anderes aus dem politischen System oder aus den Machteliten, lässt den Präsidenten natürlich schwach aussehen. Um es auf eine Formel zu bringen: Wenn Putin das gemacht hat, sieht er rachsüchtig und damit schwach aus. Und wenn er es nicht gemacht hat, sondern jemand anderes, sieht er noch schwächer aus. Aggressivität ist in diesem Sinne eben nicht gleichzusetzen mit Stärke. Natürlich bedeutet es kurzfristig Stabilisierung. Aber auf längere Sicht handelt es sich um den Verlust von Ansehen, Zukunftsfähigkeit und auch Vertrauensfähigkeit, weil die Leute in der Elite sich immer stärker sagen werden: Putin ist jetzt 70, wie genau wird er in Zukunft dieses Land regieren? Die Frage stellt sich immer klarer.