Lateinamerika ist in den letzten Jahren nach rechts gerückt. Dabei regierte zu Beginn der Nullerjahre vorwiegend die Linke zwischen Zentralamerika und Feuerland. In Mexiko ist es genau umgekehrt. Das Land wird seit Jahrzehnten von Neoliberalen und Konservativen regiert und ausgerechnet jetzt hat Andrés Manuel Lopez Obrador, kurz AMLO, einen Erdrutschsieg errungen. Hat AMLO das Zeug zum Hoffnungsträger des linken Lagers weit über Mexikos Grenzen hinaus?
AMLO hat die Stimmen derjenigen gewonnen, die sich einen Wandel in Politik und Wirtschaft wünschen. Mit 53% der Stimmen und einer absoluten Mehrheit im Kongress ist sein Sieg vom Juli nicht nur erstaunlich eindeutig. Er ist ein Symbol für die Hoffnung auf Veränderung. In Lateinamerika werden derzeit rechtsextreme Politiker über den Urnengang zu Präsidenten, wie jüngst in Brasilien geschehen. Die Zerfallserscheinungen der lateinamerikanischen Demokratien sind erheblich. Angesichts dieser Ausgangslage hat das progressive Lager, das ja sehr divers und fragmentiert ist, natürlich Hoffnung, dass unter der Regierung AMLO Kernpunkte einer progressiven Agenda umgesetzt werden.
Was wären denn Kernpunkte einer solchen progressiven Agenda in Mexiko?
Da wären die Bekämpfung der Armut und Unsicherheit mit möglichst innovativen Reformkonzepten, die Schaffung von Arbeitsplätzen, die qualitativ hochwertig sind, mehr und bessere Bildung, die Verbesserung der Menschenrechtslage. Ob diese Wünsche erfüllt werden, ist heute reine Spekulation. Aus seiner Zeit als Bürgermeister der Megastadt Mexiko ist López Obrador bekannt für die Umsetzung großer Infrastrukturprojekte. Auch jetzt plant er mit dem „tren maya“ große öffentliche Investitionen für die unterentwickeltere südwestliche Region Mexikos. Das soll Beschäftigung und Entwicklung fördern. Ob das Projekt sozial und ökologisch nachhaltig ist, lässt sich noch nicht sagen. Solche Projekte dienen daher nur sehr bedingt als Ausgangspunkt für neue Ideen linker Politik im 21. Jahrhundert.
Wird AMLO sich in der Außenpolitik als linker Gegenentwurf zum Rechtsnationalismus in der Region positionieren?
AMLO ist bisher nicht bekannt als Politiker, der sich über die Belange Mexikos hinaus im besonderen Maße für regionale oder globale Fragen interessiert. Für ihn hat die mexikanische Innenpolitik Priorität. Wie er und seine Regierung auf globaler Bühne agieren und welche vermittelnden Impulse für Frieden und Sicherheit sie setzen werden, das ist noch nicht sehr klar. Aber: Die Regierungen der beiden größten Länder des amerikanischen Kontinents setzen auf Konfrontation und Gewalteskalation, Unsicherheit und Gewalt greifen in der Region weiter um sich, autoritäre Tendenzen steigen, politische und humanitäre Krisen häufen sich, im Falle Venezuelas haben sie sich zu einer Massenflucht entwickelt – angesichts dieser politischen Konjunktur bräuchte die Region dringend ein außenpolitisches Gegengewicht, das sich vermittelnd für Menschenrechte, Demokratie und Humanität und multilaterale Lösungen einsetzt. Mexiko könnte eine solche Stimme gegen zukünftige ultrarechte Allianzen um Bolsonaro und Trump sein. Die Besetzung des neuen außenpolitischen Teams macht jedenfalls Hoffnung.
AMLO gilt als Linkspopulist. Haben derzeit in Lateinamerika wie in anderen Teilen der Welt nur Populisten Erfolgschancen?
Lateinamerika hat eine lange Tradition sogenannter populistischer Präsidenten oder Präsidentinnen. Das gilt sowohl im konservativen Lager mit Fujimori und Uribe als auch in linken Kreisen mit Chávez beispielsweise. Dazu zählt auch der mexikanische Präsident Lázaro Cárdenas, der 1938 die Ölindustrie verstaatlichte und Agrarreformen durchführte. Der Sieg von AMLO ist allerdings aus dem spezifisch mexikanischen Kontext zu erklären. Seit 2000 hat sich unter den Präsidentschaften von Fox, Calderón und Peña Nieto die Gewalt vervielfacht. Das gilt sowohl für die Alltagskriminalität als auch für die organisierte Kriminalität. Die Menschenrechtssituation hat sich erheblich verschlechtert. Das Wirtschaftswachstum ist trotz der Potentiale der mexikanischen Industrie, Wissenschaft und des Marktes zu niedrig, um Arbeitsplätze zu schaffen. Hinzu kommen die niedrige Qualität vieler existierender Arbeitsplätze, die soziale Ungleichheit, die Einkommensschere und die Armut. Eine Mehrheit der mexikanischen Gesellschaft hat sich daher entschieden, es mit einem anderen Kandidaten zu versuchen, der nicht aus den Parteien PRI oder PAN kommt. Zwar ist AMLO seit vielen Jahren in der Politik. Da er seit 2006 kein offizielles Amt bekleidete, wurde er aber nicht als Kandidat des Establishments wahrgenommen. Sein normaler, zumindest nicht luxuriöser Lebensstil unterstützt dieses Image.
Es scheint, als hätten derzeit nur Politiker Chancen an den lateinamerikanischen Wahlurnen, die das Establishment direkt angreifen.
Korruption, Seilschaften oder Privilegien für einen geschlossenen Kreis der politischen und wirtschaftlichen Elite höhlen die demokratischen Systeme aus. Das ist in Lateinamerika insgesamt Realität. Entsprechend ist die Hoffnung der Mexikanerinnen und Mexikaner zu verstehen, auf einen Mann zu setzen, der verspricht, sich für die Belange der Ärmeren und Marginalisierten einzusetzen und der Korruption zu trotzen. Dieses Verlangen existiert logischerweise auch in anderen Ländern der Region. Daher bekommen in letzter Zeit politische „Außenseiter“ wie Komödianten, Unternehmer, Sänger und Journalisten eine größere Chance. Einen Automatismus für den Erfolg von Populisten bedeutet es nicht. Gegenbeispiele wie die Präsidentschaftswahlen in Costa Rica zu Beginn des Jahres zeigen das.
Richtig ist aber, dass in Lateinamerika die Wahrnehmung wächst, dass die politischen Repräsentanten nur für einige wenige regieren. Die traditionelle politische Klasse stößt auf starke Ablehnung. Im Jahr 2017 hatte die Akzeptanz der Demokratie in ganz Lateinamerika mit 48 Prozent den schlechtesten Indikator seit 2001. In Mexiko meinten 2017 nur noch 37,7 Prozent der Bevölkerung, dass die Demokratie die bevorzugte Regierungsform sei. 38,4% der Befragten meinten sogar, dass es für „normale“ Menschen egal sei, ob man in einer demokratischen oder nicht demokratischen Gesellschaft leben würde. Nur 12 Jahre zuvor, 2006, erreichten die Zustimmungswerte für die Demokratie noch 54 Prozent in Mexiko.
Das Verhältnis zwischen den Mexiko und den USA ist wegen der Auseinandersetzungen über Migration und Handel angespannt. Müssen wir eine Dauerfehde zwischen Trump und AMLO erwarten?
Der Start zwischen AMLO und Trump war doch erstaunlich positiv. Das Verhältnis zwischen beiden Ländern ist seit Trumps Amtsantritt aufgrund seiner rhetorischen Angriffe denkbar schlecht. Dennoch verhandelt Mexiko mit den USA. AMLO vermeidet in letzter Zeit, so scheint es, Provokationen, obwohl er mit Anti-Trump-Rhetorik zu Hause punkten kann. Doch Mexiko ist auf seinen großen Nachbarn angewiesen, insbesondere wirtschaftlich. Daher auch das Interesse noch vor dem Amtsantritt von AMLO ein Handelsabkommen unter Dach und Fach zu kriegen. Aber auch die USA sind wirtschaftlich auf Mexiko angewiesen: Die Exporte nach Mexiko sind höher, als die nach Brasilien, Russland, Indien und China zusammen. Das US-Mexiko-Kanada-Abkommen (statt NAFTA, jetzt USMCA) soll am 30. November unterzeichnet werden. Dies zeigt doch, dass die Zeichen auf Kooperation stehen, nicht auf Dauerfehde. Aus Trumpscher Sicht kommt AMLO sicher zugute, dass er so eindeutig gewonnen hat. Trump mag Gewinner.
Aber gleichzeitig bannen sich doch gerade neue Auseinandersetzungen um den Umgang mit Migranten aus Zentralamerika an der Grenze zwischen den USA und Mexiko an. Ist hier eine konstruktive Lösung zu erwarten?
Die zentralamerikanischen Migrantinnen und Migranten, die nun an der mexikanischen Nordgrenze festsitzen, haben Gespräche zwischen beiden Ländern über das weitere gemeinsame Vorgehen beschleunigt. Aktuell wird wohl über eine Art Marshall-Plan verhandelt. Dabei geht es um eine Art Drittlandvereinbarung: Mexiko nimmt die zentralamerikanischen Flüchtlinge auf, während das Asylverfahren geprüft wird, bekommt dann aber im Gegenzug von den USA Mittel und private Investitionen für die wirtschaftliche Entwicklung an Mexikos Südgrenze. Ansätze der triangularen Kooperation gab es schon in der jüngeren Vergangenheit. Der Handlungsdruck ist mit der zunehmenden Migration aus dem nördlichen Zentralamerika gestiegen.
Da AMLO selbst wenig Erfahrung mit den US-mexikanischen Beziehungen hat, ist vielleicht eher AMLO das Überraschungsmoment in der Politik zwischen den beiden Ländern, nicht mehr Trump.
Die Fragen stellte Claudia Detsch.