Wie erklären Sie das Phänomen von plötzlichen Protesten? Wer hätte vor wenigen Wochen die Massenproteste in der Türkei erwartet, wer hatte die Massenproteste während des arabischen Frühlings auf der Rechnung?

In sozialen Auseinandersetzungen gibt es Schwellenwerte, an denen ein Prozess kippt - aber diese Schwellen sind vorab nicht immer zu benennen. Vor allem in repressiven Regimen überwiegt zunächst einmal die Vorsicht, das Abwarten, das Wegducken. Doch wenn dann das Gefühl aufkommt, dass eine kritische Masse erreicht ist, wenn diejenigen, die sich vorher weggeduckt haben erkennen, dass sie wesentlich zahlreicher sind als sie anfangs dachten, dann schlägt das Geschehen um. Vor diesem Punkt gehen nur wenige Mutige voran, einige andere folgen. Wenn die Bewegung den Anschein vermitteln kann, sie befinde sich im Aufwärtstrend, entsteht ein Sogeffekt, der auch die Zögerlichen mitreißt.

Was treibt eigentlich die Leute auf die Straße? Braucht es als Basis immer unhaltbare wirtschaftliche Lebensumstände, oder können es auch abstraktere Gründe sein, wie der Kampf für demokratische Freiheitsrechte?

Das kann im Grunde alles sein, was als Unrecht empfunden wird: das Leiden der eigenen Person, die Benachteiligung der eigenen Gruppe, aber auch die Benachteiligung einer anderen sozialen Gruppe, die ihre Interessen selber nicht vertreten kann. Im letzten Fall handelt es sich also um ein Mitgefühl unabhängig von der persönlichen Betroffenheit.

Wo liegt beim Thema Massenproteste der Unterschied zwischen einer Autokratie und einer Demokratie?

In einer Autokratie oder gar Diktatur sind die persönlichen Risiken zu protestieren sehr hoch. Deswegen geschieht Protest zunächst einmal in subtilen, fast verdeckten Formen. Das können Anspielungen in Theaterstücken sein, die das Publikum aber dennoch versteht. Oder es wird zu Protestformen gegriffen, die Friedfertigkeit und Deeskalation signalisieren, zum Beispiel eine Gebetsrunde oder eine stumme Mahnwache. Das besondere an autokratischen Systemen ist, dass man zunächst kaum wahrnimmt, in welchem Ausmaß sich Unmut und Empörung aufgestaut haben. Dann plötzlich tritt das, was man vorher nur ahnte, deutlich an die Oberfläche. Eine schweigende Mehrheit wird innerhalb von Tagen plötzlich sichtbar und formuliert offensiv ihre Forderungen. In Demokratien dagegen können diese Prozesse sich über Monate oder Jahre hinziehen, weil der Unmut oft langsam und unspektakulär zunimmt und erst allmählich von der Öffentlichkeit und den politischen Entscheidungsträgern wahrgenommen wird.

Ist es diese Schnelligkeit, der Überraschungsmoment – wir denken nur an den arabischen Frühling –, der Proteste in Autokratien eine solche Wirkung entfalten lässt?  

Ja, natürlich! Die herrschenden Kräfte stehen vor der Entscheidung, entweder mit repressiven Mitteln zu reagieren oder aber abzuwarten, zu taktieren –  vielleicht zu versuchen, die Protestierenden zu spalten. Das ist für die Regime eine unsichere Kalkulation: Manchmal entfaltet brutale Repression die beabsichtigte abschreckende Wirkung. Aber offene, gewaltsame Repression kann dazu führen, dass sich bisher Unbeteiligte mit den Protestierenden solidarisieren und handlungsbereit werden. Dadurch verliert das repressive Regime zusätzlich an Legitimation. 

Der jüngste „Marsch für Gerechtigkeit“ in der Türkei wurde von Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu begonnen, die ägyptischen Muslimbrüder verfügten 2011 über eine tiefe Verwurzelung in der Zivilgesellschaft. Wer kann effektive Proteste organisieren? Ist ein bestimmter Grad an Institutionalisierung notwendig?

Als Auslöser zunächst nicht. Eine einzelne Person, wie der Gemüsehändler Muhammad Bouazizi, [der mit seiner Selbstverbrennung die Proteste 2011 in Tunesien auslöste, Anmerkung der Redaktion], war weder Teil einer organisierten Gruppe, noch konnte er erwarteten, dass seine Tat einen großen Effekt haben würde. Er handelte für sich. Doch sein Tod wurde zum Fanal, zum zündenden Funken. Andererseits gibt es auch sehr ähnliche Fälle, bei denen die Handlung eines Einzelnen durchaus von einer Gruppe koordiniert und publizistisch begleitet wird, wie zum Beispiel die öffentliche Selbstverbrennung eines buddhistischen Mönches während des Vietnamkrieges im Jahr 1963. Dieser Mönch konnte sicher sein, dass seine Tat nicht ungehört verhallen würde, weil er Unterstützer hatte. Wenn größere Gruppen es wagen, gegen einen repressiven Staat vorzugehen, kann das sehr gut vorbereitet und strategisch geplant sein; es kann aber auch aus dem Moment heraus geschehen. Je größer allerdings die protestierende Gruppe, desto geringer sind die Gefahren für unmittelbar Beteiligte und für Unterstützer.

Eine Massendemonstration macht noch keine Politik. Wie sieht das Danach aus? Wie werden plakative Forderungen, wie beispielsweise die im jüngsten türkischen Protestmarsch erhobene nach „Gerechtigkeit“, in reale Politik umgemünzt?

Der kritische Moment, das gilt für die Türkei ebenso wie für andere Fälle, sind die Tage und Wochen nach der Kundgebung. Es kann sein, dass eine Demonstration durchaus wahrgenommen wird, große Zustimmung erhält – aber dann lassen andere Ereignisse die Proteste nach wenigen Wochen verblassen. Für die Teilnehmer und ihre individuelle Biographie hat der Protest möglicherweise noch lange eine Bedeutung. Aber politisch ist es ganz entscheidend, dass aus dieser Situation Strukturen erwachsen, die das Thema am Laufen halten, ohne dass man sozusagen von einem Marsch zum nächsten hasten muss – denn das ist logistisch nicht zu leisten und erhält aufgrund der Wiederholungen nicht mehr die notwendige Aufmerksamkeit. Strategisch wäre es schon vor einem Marsch geboten, sich über das Danach Gedanken zu machen. Es muss im Interesse der Protestierenden sein, ihre Aktion nicht als Donnerschlag verhallen zu lassen, sondern in ein stetiges Feuer zu überführen, das immer wieder mit neuer Nahrung versorgt wird.

Die Fragen stellte Lukas Clemens Böhm.