Viele behaupten, dass die Medien eine treibende Kraft bei der Kampagne zur Absetzung der brasilianischen Präsidentin Dilma Rousseff waren. Stimmt das? Welche Rolle spielten und spielen die Medien in der politischen Krise Brasiliens? Und was sind die Gründe dafür?
Bei dem gesamten Impeachment-Prozess gegen die Präsidentin waren die Medien ein bestimmender Faktor, weil sie sich zur Verteidigung der Wirtschaftskreise und der brasilianischen Rechten aufgeschwungen haben. In der einseitigen Berichterstattung nach der Absetzung ging es zum Beispiel nur um die Wirtschaftsreformen, die der neue Präsident Temer nun einleiten würde.
Das Projekt „Manchometro“ der Universität von Rio (UERJ), das die positive und negative Berichterstattung über die verschiedenen Parteien in den Medien analysiert, hielt fest, dass beispielsweise in der Woche vom 12. bis 19. März, in der es zahlreiche Demonstrationen sowohl für als auch gegen Rousseff gab, vorwiegend negativ über sie berichtet wurde. Der extrem wichtige Fernsehsender Globo brachte permanent Nachrichten über Demonstrationen gegen Rousseff, die er wie ein Volksfest darstellte, während die Aufmärsche zu ihrer Unterstützung gar nicht medial abgedeckt wurden.
Die Art der Berichterstattung erzeugte Verwirrung, da mit falschen Tatsachen, Gerüchten und Anschuldigungen gearbeitet wurde, die so oft wiederholt wurden, dass sie schließlich als Wahrheit haften blieben. Die Wochenzeitung Veja schoss den Vogel beim Geschichtenerfinden ab: Am 24. März brachte sie den Aufmacher, dass Ex-Präsident Lula den „geheimen Plan“ habe, in Italien um politisches Asyl zu bitten, um einer Gefängnisstrafe zu entgehen. „Untermauert“ wurde der Bericht von einem falschen Foto des italienischen Botschafters. Trotz Protesten und Dementis der italienischen Botschaft gab es keinen Widerruf.
Die Medien machten aus dem Vorgehen der Justiz ein Spektakel, zielten nur auf die Korruption der PT und machten Rousseff zur einzigen Verantwortlichen.
Dieses Verhalten der Medien hatte direkte Auswirkungen auf die Krise in Brasilien, da es die Regierung Rousseff als korrupt hinstellte und das politische Projekt Lulas und der Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores, PT) als Betrug. Sämtliche demokratischen und sozialen Errungenschaften der Teilhabe und Gleichheit wurden negiert. Die Medien machten aus dem Vorgehen der Justiz ein Spektakel, zielten nur auf die Korruption der PT und nicht die der anderen Politiker und Parteien und machten Rousseff zur einzigen Verantwortlichen.
Als Resultat dieser „Informationsvermittlung“ weiß die Mehrheit der Bevölkerung gar nicht genau, wessen Rousseff eigentlich beschuldigt wird, und glaubt, das Impeachment-Verfahren hätte mit dem Korruptionsskandal bei Petrobrás zu tun.
Anfänglich war die internationale Berichterstattung derjenigen in Brasilien sehr ähnlich. Mit der Zeit wurde sie aber kritischer und weniger vorurteilsgeprägt. Schlug sich dieser Wandel in Brasilien nieder?
Eins der größten Probleme in Lateinamerika ist die Qualität der Berichterstattung. Abgesehen von den Medien in jedem Land berichten über die jeweiligen Staaten auch noch die Medien, die in der Gruppe der amerikanischen Zeitungen (Grupo de Diarios de las Americas, GDA) und der Interamerikanischen Presse-Gesellschaft (Sociedad Interamericana de Prensa, SIP) zusammengeschlossen sind. Diese Medien vertreten eine rechtsgerichtete, neoliberale und marktorientierte Ideologie. Ihre Militanz hat dazu geführt, dass sie zu politischen Akteuren bzw. einer „Opposition“ zu den progressiven Regierungen in Brasilien heutzutage und Argentinien bis 2015 bzw. einer „Ko-Regierung“ zu den rechtsgerichteten Regierungen in Mexiko, Peru, Kolumbien und Argentinien heute wurden. Dementsprechend vermittelt man eine Sicht von Brasilien, laut der die Politik von Korrupten vereinnahmt wurde, Ex-Präsident Lula und Rousseff Betrüger sind und das große sozialistische Wunder in Brasilien in Wahrheit ein Fiasko ist. Die internationale Presse informiert besser und differenzierter, aber sie hat wenig oder keine lokalen Auswirkungen. Zeitungen wie The Guardian oder The New York Times haben das politische Verfahren in Frage gestellt. The New York Times schreibt, dass die Kongressabgeordneten das Impeachment vorangetrieben hätten, weil Rousseff die Untersuchung der Korruptionsaffäre bei Petrobrás und der von zahlreichen Parlamentariern entgegengenommenen Schmiergelder unterstützte. Diese Einwände der ausländischen Leitmedien werden jedoch in der nationalen brasilianischen Debatte überhaupt nicht zur Kenntnis genommen.
Welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang die sozialen Medien? Sind sie in Brasilien in der Lage, die öffentliche Meinung zu beeinflussen oder ist ihr Einfluss begrenzt auf Gruppen, die eher alle ähnlich denken? Befördern sie die politische Spaltung?
Die sozialen Medien sind in Brasilien sehr dynamisch und produktiv. Ein typisches Beispiel ist Ninja media (Independent Narratives Journalism and Action), ein Netzwerk von Journalisten, die sich für soziale Gerechtigkeit und einen Wandel in Kultur, Politik und Umweltfragen einsetzen. Dieses Netzwerk mit der Perspektive der Jugend hat immer das Projekt von Lula, Rousseff und der PT verteidigt. Hier nennt man Temer einen Putschisten, verabschiedet die Meinungsfreiheit in Brasilien mit den Worten „Tchau, querida!“ und postuliert, dass „der 12. Mai 2016 in die Geschichte eingehen wird als das Datum eines weiteren Staatsstreichs in Brasilien.“
Zeitungen wie The Guardian oder The New York Times haben das politische Verfahren in Frage gestellt.
Diesen und anderen digitalen Netzwerken gelingt es, junge Leute aus den unteren Bevölkerungsschichten anders zu mobilisieren als die Mainstream-Medien. Vielleicht ist aus diesem Grunde wieder sozialer und Straßen-Aktivismus zugunsten Lulas und seiner Regierungspolitik entstanden. Das Problem ist, dass die Mainstream-Medien diese Netzwerke ignorieren, sie nicht als Quellen heranziehen und wenig oder gar nicht über ihre Aktionen informieren. Auf diese Weise entstehen zwei Arten von Politik, die der Jugendlichen in den sozialen Netzwerken, die das „Projekt Lula“ unterstützen, und die der großen Medien, die zu einem marktorientierten Staat zurückkehren möchten, der von den Unternehmern und großen Vermögen Brasiliens geführt wird. Kurz gesagt, die sozialen Netzwerke halten den Dissens unter den Jugendlichen und in den Favelas, den Armenvierteln, lebendig, aber das reicht nicht, ein anderes Denken zu mobilisieren, als das vom Establishment erzeugte.
Was bedeutet das Versagen einer unabhängigen Medienlandschaft für das politische System? Gibt es Chancen auf eine Reform?
In Brasilien gibt es keine Meinungsvielfalt, um sich zu informieren. Die Medien sind stark konzentriert: Das Fernsehen wird dominiert von TV Globo, die gedruckte Presse von Folha de São Paulo und O Estado de São Paulo, bei den Zeitschriften gewinnt Veja. Und diese Medien gehören den drei größten Konzernen (Abril, Globo, Band) und vertreten alle den gleichen redaktionellen Standpunkt: die Verteidigung der Privilegien der Familien, denen Brasilien gehört. Absurderweise postulieren diese Medien, dass die Meinungsfreiheit nur den privaten Medien zusteht und mittels Markt und Privateigentum geregelt werden muss, ohne dass der Staat Einfluss nimmt.
Obwohl Ex-Präsident Lula dem US-Journalisten Gleen Greenwald gegenüber einmal äußerte, dass „hier in Brasilien eigentlich die Medien die Opposition ausüben“, haben Lulas und Rousseffs Regierungen, die in progressiver Weise zahlreiche wirtschaftliche und soziale Bereiche geregelt haben, niemals Hand an die Medien gelegt. Das gegenwärtig gültige Mediengesetz stammt aus den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts und taugt nicht mehr dazu, Meinungsvielfalt, Unabhängigkeit und Informationsvielfalt zu sichern, die das Recht auf Meinungsfreiheit eigentlich bräuchte. Vorerst bleiben sowohl Brasilien als auch Argentinien, Mexiko, Peru und Kolumbien Gefangene ihrer hochkonzentrierten Medien.
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