Für den 1. Oktober hat die katalanische Regierung einseitig ein Referendum über die Unabhängigkeit der Region von Spanien angesetzt. Das Verfassungsgericht hat dies jüngst untersagt, und die Zentralregierung hat katalanische Regierungsangestellte, die mit der Organisation des Referendums befasst waren, festnehmen lassen. Wie konnte die Situation so eskalieren?

Das katalanische Verlangen nach mehr Autonomie oder gar Selbstbestimmung reicht weit zurück. Vor allem in den Jahrzehnten der Franco-Diktatur wurden die Kultur und eigene Sprache der Katalanen unterdrückt. Seit dem demokratischen Neubeginn 1976 regelt die Verfassung von 1978 das Zusammenspiel von Zentrale und den sogenannten Autonomen Gemeinschaften. Dem Baskenland (und Navarra) wurde bereits in dieser Verfassung ein Sonderstatus, basierend auf historischen Rechten eingeräumt. Er erstreckt sich besonders auf die Steuerautonomie: Das Baskenland zahlt beispielsweise nicht in den spanischen Finanzausgleich ein. Aufgrund der Terrorjahre wurde dieser Sonderstatus lange Jahre nicht in Frage gestellt.

Leider hat man es verpasst, für Katalonien etwas Ähnliches zustandezubringen. Katalonien hatte in den achtziger und neunziger Jahre einen Sonderstatus und verfügte über weitreichende Kompetenzen unter anderem im kulturellen, sprachlichen und bildungspolitischen Bereich, bis hin zu einer eigenen Polizei. Dieser Sonderstatus wurde aber durch die schrittweise Übertragung dieser Kompetenzen auch auf andere Autonome Gemeinschaften seit dem Jahr 2000 ausgeglichen. Seitdem versucht Katalonien, wieder einen eigenen Status zu erhalten, zunächst ab 2004 mit der Debatte zum neuen Autonomiestatut, dann 2012 durch die Forderung der Regierung Mas nach einem Fiskalpakt ähnlich dem des Baskenlandes.

Die 7,5-Millionen-Region gehört zum dynamischsten Teil Spaniens. Während das Baskenland 6 Prozent des Spanischen Bruttoinlandsprodukts ausmacht, erwirtschaftet Katalonien 20 Prozent. Ein Ausstieg Kataloniens aus dem Finanzausgleich hätte dementsprechend große Auswirkungen auf die anderen Autonomen Gemeinschaften, vor allem auf Andalusien.

In den vergangenen Jahren konnte die Unabhängigkeitsbewegung geschickt Fragen der eigenen kulturellen Identität mit der katalanischen wirtschaftlichen Situation und den Transfers in den spanischen Haushalt verknüpfen.

Den Wunsch nach Unabhängigkeit pflegte bis vor Jahren immer eine Minderheit. Wie konnte die Bewegung zu einer Größe heranwachsen, die Hunderttausende auf die Straße bringt?

Bis 2004 befürworteten ungefähr 15 Prozent der Bevölkerung die Unabhängigkeit. Diese Zahl erhöhte sich besonders seit Beginn der Wirtschaftskrise bis 2014 dramatisch. Laut Daten der katalanischen Regierung gehen die Zahlen der Unterstützer allerdings seit Ende 2014 wieder zurück.

Fast war man 2006 unter dem sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Zapatero in Verhandlungen schon zu einem neuen Status für die nördliche Region gekommen. Die damalige Verfassungsklage der konservativen Partido Popular (PP) und das Urteil des Verfassungsgerichts wurden in Katalonien als Ohrfeige wahrgenommen. Der folgende Regierungswechsel mit absoluter Mehrheit der Konservativen und die wirtschaftlichen Krisenjahre verschlechterten die Situation. Seitdem gerieten die konservative Regierung in Madrid unter Premier Rajoy und die von der katalanischen (konservativen) Unabhängigkeitspartei CiU (Convergència i Unió) geführte Regionalregierung zusehends aneinander.

Die stoische Gesprächsverweigerung von Rajoy steht dem katalanischen, steuerlich motivierten Regionalegoismus in nichts nach.

Die stoische Gesprächsverweigerung von Rajoy steht dabei dem katalanischen, steuerlich motivierten Regionalegoismus in nichts nach. Seit den letzten Regionalwahlen und einem ersten Referendumsversuch im November 2014 gibt es zudem eine Allianz der von links bis rechts reichenden separatistischen Kräfte, die zunehmend radikalisiert von nichts anderem zusammengehalten wird als dem Wunsch nach mehr Unabhängigkeit. Vor allem die linksradikale CUP (Candidatura d’Unitat Popular), die die parlamentarische Mehrheit der Regierungskolition sichert, treibt die eher sozialdemokratische aber nationalistische ERC (Esquerra Republicana de Catalunya) und den konservativen Koalitionspartner vor sich her. Für die Systemgegner der CUP ist das „faschistoide“ Madrid Gegner Nummer eins. Beseelt sind sie vom (vermeintlich) linken Traum einer unabhängigen Republik Katalonien – die endlich den Nährboden für sozialen Fortschritt böte, der als Teil Gesamtspaniens nicht möglich sei.

Mit einem Gemisch aus (verständlicher) Enttäuschung über Madrid und hauseigenem Dauerdruck und Wettbewerb – wer steht treu zum Unabhängigkeitsbegehren – hat sich das Feuer des Separatismus Monat für Monat und Jahr für Jahr weiter ausgebreitet. „Die Geister, die ich rief“ – selbst den moderaten Kräften der Regierungskoalition entglitten dabei Stück für Stück die Zügel. Dies gilt auch für das Referendumsgesetz des katalanischen Regionalparlaments von Anfang September: Ohne Mindestbeteiligung soll schon bei einfacher Mehrheit für die Unabhängigkeit der Loslösungsprozess ins Werk gesetzt werden.

Die Art und Weise, in der die separatistischen Koalitionspartner die Gesetzesvorlage durch das Parlament gepeitscht haben, spottet jeglicher demokratischer Gepflogenheiten. Die Rechte der Oppositionsparteien, und damit der katalanischen Gegner eines Unabhängigkeitsreferendums, blieben auf der Strecke. Der Druck auf Zivilbevölkerung, Beamte und politische Opposition hat sich seitdem weiter erhöht. Besonders sozialistische Bürgermeister werden gezwungen, für das illegale Referendum Wahllokale zur Verfügung zu stellen. Die öffentlich-rechtlichen Medien haben sich in den letzten Jahren zu einem Propagandainstrument der Unabhängigkeitsbewegung entwickelt, und Oppositionelle haben kaum Gelegenheit, ihre Gegenposition zu artikulieren.

Die öffentlich-rechtlichen Medien haben sich in den letzten Jahren zu einem Propagandainstrument der Unabhängigkeitsbewegung entwickelt.

Obwohl das Separatistenbündnis Junts pel Sí und die CUP zusammen nur 48 Prozent der Stimmen auf sich vereint, hat es aufgrund des Wahlsystems eine Mehrheit der Sitze. Profitiert hat die Regierungskoalition lange Zeit auch von der Uneinigkeit und Unklarheit der Oppositionsparteien, die zwar auch für mehr (finanzielle) Autonomie eintreten, indes im spanischen Verbund bleiben möchten. Allen voran hat Podemos hier eine unklare, wankelmütige Rolle gespielt: Sie haben zum einen die leere Worthülse des „Rechts auf Entscheidung“ verteidigt (es bleibt offen, wer entscheiden darf, worüber und wie oft), aber zum andern die Unabhängigkeit Kataloniens abgelehnt.

Inwiefern schadet die Situation eigentlich der konservativen Regierung in Madrid? Wird sie mitverantwortlich gemacht oder schließen sich hinter ihr – anlässlich des bedrohlichen Szenarios – die Reihen?

Die PP sieht sich als wahrer Sachwalter der spanischen Einheit und möchte damit sowohl parteiintern, bis hin zu ihrem Flügel ganz rechtsaussen, der sich immer auf das Franco-Erbe beruft, als auch bei den Wählern punkten. Das katalanische Unabhängigkeitsbestreben ist in den anderen Regionen Spaniens alles andere als populär. Aus beiden Ansinnen heraus hat sie sich jahrelang einer Lösung verweigert.

Gibt es noch Wege der Deeskalation? Zum Beispiel, indem die Regierung in Madrid Katalonien und anderen Regionen des Landes mehr Eigenständigkeit zugesteht?

Endlich zeigt sich bei der konservativen Minderheitsregierung Bewegung. Sie ist jetzt auf die sozialdemokratische PSOE zugegangen und hat mit ihr eine Kommission vorgeschlagen, in der alle politischen Kräfte aus Madrid und Katalonien zusammenkommen sollen, um eine Lösung für den zukünftigen Status der Region zu finden. Die PSOE hatte unter ihrem alten und neuen Generalsekretär Pedro Sánchez vorgeschlagen, dass zudem die Verfassung ergänzt werden solle. Dabei würde Spanien dann als „Nation von Nationen“ firmieren. Zudem möchte die PSOE-Führung neue föderale Strukturen ins Leben rufen, die den föderalen Flickenteppich des Landes neu strukturieren und auch für einen durchschaubareren Finanzausgleich zwischen den einzelnen Regionen sorgen sollen.

Das Gesprächsangebot gilt ab dem 2. Oktober – an der Ablehnung des einseitig angekündigten Referendums hat sich damit nichts verändert. Es ist unklar, ob der katalanische Regionalpräsident darauf eingehen wird. Der radikale Separatistenflügel der Regierungsparteien mobilisiert jedenfalls die Straße – ein Entgegenkommen von Carles Puigdemont dürfte zumindest die CUP mit dem Entzug der parlamentarischen Unterstützung quittieren. Ein Einlenken bleibt also mit dem Risiko eines Prestige- oder sogar Machtverlusts behaftet. Alles spricht somit dafür, dass beide Seiten bis zum 1. Oktober weiterhin auf Konfrontationskurs bleiben werden.

Alles spricht somit dafür, dass beide Seiten bis zum 1. Oktober weiterhin auf Konfrontationskurs bleiben werden.

Ebenso klar ist, dass die spanische Seite ein Ja zur Loslösung nicht akzeptieren wird. Mit dem Verfassungegerichtsbeschluss im Rücken ist von der Annulierung des Referendums über weitere Verhaftungen bis zur Absetzung der Regionalregierung, der Auflösung des Parlaments und der Anberaumung von Neuwahlen alles denkbar. Zu hoffen ist, dass es danach über eine Mischung aus Gesprächsangebot und Amnestie endlich zu einer gemeinsamen Lösungssuche kommt.

Was indes bleibt: Die katalanische Gesellschaft ist tief gespalten, wie auch immer es in den nächsten Tagen weitergeht. Der gesellschaftliche Schaden, den die Polarisierung der Debatte ausgelöst hat, wird auf Jahre hinaus das Land, die Gesellschaft, die Familien und Freunde spalten.

Neben Katalonien machte lange das Baskenland mit seiner Unabhängigkeitsbewegung auf sich aufmerksam, die auch von Terror begleitet wurde. Hat die Entwicklung in Katalonien Auswirkungen auf andere Regionen in Spanien?

Die baskische Regionalregierung hat das jüngste Vorgehen Madrids (Verhaftungen und die Konfiszierung von wahlrelevantem Material) zwar kritisiert, die Frage einer Unabhängigkeit des Baskenlandes ist aber seit langem kein Thema mehr. Im Gegenteil spielt man geschickt auf der Klaviatur der gesamtspanischen Politik und Institutionen: Als die konservative Minderheitsregierung in Madrid die notwendigen Stimmen für den Haushalt 2017 sammelte, ließ sich die im Baskenland regierende und als Regionalpartei auch im nationalen Parlament vertretene Baskische Nationalistische Partei ihr Entgegenkommen mit diversen Infrastrukturversprechen für die Region gut bezahlen.

Trotzdem kann die Situation im Baskenland schnell kippen. Sollte die linke, nach Unabhängigkeit strebende Bewegung Sortu Anhänger gewinnen, wird auch die konservative PNV wieder stärker auf nationalistische Töne setzen. In diesen Tagen hat die PNV bereits ihre Stimme zum neuen Haushalt 2018 der Zentralregierung verweigert. 

Der bestehende Konflikt wird natürlich auch das zukünftige Verhältnis Kataloniens zu den anderen Autonomen Gemeinschaften prägen. Darüber hinaus wird jedes Zugeständnis der Zentralregierung für Katalonien Begehrlichkeiten in den anderen Autonomen Gemeinschaften wecken.