Wie ist aktuell die Lage in Bangkok?
In Bangkok demonstrieren seit einigen Wochen sowohl die Gelb- als auch die Rothemden. Auslöser war ein umstrittenes Amnestiegesetz, das einerseits all diejenigen aus den Gefängnissen holen sollte, die in die politischen Konflikte der letzten neun Jahre involviert waren, andererseits aber auch dem durch einen Putsch aus dem Land vertriebenen ehemaligen Premierminister Thaksin Shinawatra die Rückkehr ermöglichen sollte. Das empörte sowohl die Rothemden, die die Befehlshaber des Crackdowns von 2010 hinter Gitter sehen wollen, als auch die gelben Mittelschichten Bangkoks, die darin einen weiteren Versuch erblickten, Korruption straffrei zu stellen.
Nachdem der Senat das umstrittene Amnestiegesetz, und das Verfassungsgericht sich angemaßt hat, eine vom Parlament beschlossene Verfassungsänderung zu kippen sind eigentlich alle unmittelbaren Forderungen der Demonstranten erfüllt. Dennoch kamen am Sonntag um die 150.000 gelbe Demonstranten zusammen, um nun den Sturz der Regierung zu fordern. Aufgestachelt wird die Menge von der Demokratischen Partei (DP), die sich einen Aufschwung in der Wählergunst erhofft. Weil sie aber notorisch nicht in der Lage ist, freie Wahlen zu gewinnen fordert sie nun auf diesem Wege die „Ausrottung des Thaksin Regimes“. Der selbsternannte „Mobführer“ Suthep – ein Strippenzieher der DP, der 2010 persönlich den Crackdown gegen die roten Demonstranten befehligte, die 90 Tote und 2500 Verletzte fordert, ruft nun zum Systemwechsel zu einer „echten Monarchie“ auf. Was er damit meint ist die Einschränkung der Wahldemokratie durch eine stärkere Rolle des Königs. Am Montag stürmten etwa 30 000 Demonstranten die Finanz- und Außenministerien.
Wie bereits bei vergangenen Protesten versuchten die Demonstranten in der vergangenen Nacht, die Polizei zu übermäßigem Gewalteinsatz zu provozieren, um die Armee zum Eingreifen „zur Beendigung der Blutvergießens“ zu bewegen
Ein deutscher Journalist wurde nach Aufforderung eines DP-Parlamentariers krankenhausreif geschlagen. Wie bereits bei vergangenen Protesten versuchten die Demonstranten in der vergangenen Nacht, die Polizei zu übermäßigem Gewalteinsatz zu provozieren, um die Armee zum Eingreifen „zur Beendigung der Blutvergießens“ zu bewegen. Thailand erlebt also eine weitere Runde im politischen Konflikt, der das Land seit dem Sturz des Premierministers Thaksin durch einen Militärputsch 2006 lähmt.
Was steht hinter den Protesten? Die Protestakteure scheinen ja alles andere als homogen zu sein…
Der politische Konflikt ist vielschichtig und vereint Akteure in Allianzen, die auf den ersten Blick überraschen. Den traditionellen Eliten geht es um die Sicherung bzw. Neuverteilung von Macht und Privilegien im Falle der bevorstehenden Thronfolge. Der Bangkoker Mittelschicht geht es dagegen um die Einhegung der endemischen Korruption und Vetternwirtschaft. Den neuen Mittelschichten in den nördlichen und nordöstlichen Provinzen geht es grundsätzlich um demokratische Teilhabe und Anerkennung als gleichwertige Bürger.
Die Konfliktlinie geht quer durch alle gesellschaftlichen Schichten, Institutionen, sogar Familien. In der „roten“ Allianz ist es den kapitalistischen Tycoonen um die Shinawatra Familie gelungen, die aufstrebenden Mittelschichten der nördlichen und nordöstlichen Provinzen durch Sozialpolitiken an sich zu binden. Nach zweimaligen Verboten hat sich die Regierungspartei Phüa Thai als Führerin im „roten“ Block etabliert. Die gegenwärtigen Proteste sind auch als Versuch der alten Democrat Party zu deuten, ihre geschwächte Position im zerfallenden gelben Lager zu stärken. Das gelbe Lager war in den letzten Jahren auf eine Handvoll Ultra-Royalisten und faschistoide Gruppierungen geschrumpft. Ziel der Democrats ist es, die alte Allianz mit konservativen Eliten, Mittelschichten aus dem Süden und Bangkok, Akademikern, der Justiz, Militärs und Bürokraten zu erneuern. Beide Parteien sind weniger Programmparteien als Personalwahlvereine. Dennoch ist ein echter Wettbewerb um Wählerstimmen zwischen den beiden ideologischen Lagern entbrannt, der den Wahlmechanismus fest im Kern des politischen System etabliert und mitunter progressive Politiken hervorbringt.
Diese Polarisierung verhindert eine echte Demokratisierung, indem sie prodemokratische Kräfte spaltet
Die gegenwärtige Zuspitzung festigt die politischen Lager wieder, nachdem sich immer tiefere Risse in den Blöcken gezeigt hatten. Diese Polarisierung verhindert eine echte Demokratisierung, indem sie prodemokratische Kräfte spaltet und die Instrumentalisierung durch Politikunternehmer ermöglicht.
Worum es wirklich geht ist die Neuverfassung des Landes. Es ringen feudal gesinnte und kapitalistische Eliten um die Neuaustarierung des Gesellschaftsvertrages. Bisher ist keine Seite bereit, die notwendigen Kompromisse einzugehen, um den Konflikt zu deeskalieren. Für die "rote" Mehrheit sind Checks and Balances, die den alten Eliten der Netzwerkmonarchie aus Palast, Militär, Bürokratie und dem alten Feudaladel die Angst vor der Mehrheitsdemokratie nehmen könnten, eine Zumutung. Die "gelbe" Minderheit fühlt sich von der Mehrheit bedroht, und setzt immer wieder dazu an, politische und soziale Grundrechte der Bürger zu suspendieren. Beide Eliten haben noch nicht begriffen, dass Autorität künftig der permanenten Legitimierung durch die Mittelschichten bedarf. Sowohl elektorale wie paternalistische Legitimität wird daher immer wieder von Korruption und politischen Ränkespielen untergraben.
Sind die Vergleiche mit den Protestbewegungen in Brasilien und Israel statthaft?
Vergleiche mit Transformationskonflikten in anderen Ländern, etwa der Türkei, den Philippinen oder Venezuela sind strukturell möglich, wenn es um die Auseinandersetzung zwischen städtischen Eliten und städtischen Mittelschichten und den aufstrebenden Mehrheiten in den Peripherien geht, die von cleveren Politikunternehmern als Machtbasis entdeckt wurden. Die konkrete Ausformung der Konfliktlinien und die symbolischen Kristallisationspunkte sind jedoch in Thailand sehr verschieden.
Ausländische Beobachter missverstehen die Rhetorik und Symboliken oft, weil sie im thailändischen Kontext ganz andere Bedeutungszuschreibungen haben
Ausländische Beobachter missverstehen die Rhetorik und Symboliken oft, weil sie im thailändischen Kontext ganz andere Bedeutungszuschreibungen haben. So wird etwa in Thailand die „V for Vendetta“ Maske, die im Westen für progressive Bewegungen steht und historisch an den Versuch eines Umsturzes einer Monarchie erinnert, von den faschistoiden Ultra-Royalisten verwendet. Die konservative Oberschicht spricht dagegen gerne von Rechtsstaatlichkeit, meint aber damit oft die Aushebelung der Mehrheitsherrschaft. Die unterschiedliche Kodierung vereinfacht nicht gerade eine korrekte Wahrnehmung. Zudem ist auch die Expat- und internationale Expertengemeinde entlang der rot-gelben Linie polarisiert.
Was ist für die kommenden Wochen zu erwarten?
Am 5. Dezember hat der König Geburtstag. Allgemein wird erwartet, dass der Showndown bis dahin vorüber sein muss. Viele Beobachter erwarten zudem, dass die Rädelsführer der Protestanten Blutvergießen provozieren könnten, um so die Armee zum Eingreifen zu bewegen. Andere halten das aufgrund der in den letzten Monaten getroffenen Arrangements zwischen Thaksin und seinen Gegnern für unwahrscheinlich. Ähnlich wurde auch die relative Zurückhaltung des Verfassungsgerichts gewertet, das dieses Mal im Gegensatz zu 2008 auf die Auflösung der Regierungspartei verzichtet hatte.
Die große Zahl der Demonstranten hat jedoch viele überrascht. Das könnte ein Zeichen dafür sein, dass die Dinge in Bewegung sind. Die Besetzung der Ministerien bringt die Regierung weiter in Bedrängnis, untergräbt jedoch auch die Legitimität der Protestierenden, die eigentlich Gewaltlosigkeit gelobt hatten. Unklar ist, ob die Mittelschicht diese Eskalation, nachdem ihre Kernforderungen ja bereits erfüllt waren, mittragen wird.
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