Präsident Janukowitsch ist abgesetzt und befindet sich offenbar auf der Flucht. In den deutschen Medien wird dies als Neuanfang in der Ukraine gefeiert. Aber ist das wirklich das Ende der prekären Situation?

Was wir in der Ukraine aktuell erleben ist bisher sicher keine Revolution, sondern ein Elitenwechsel. Die aktuellen Akteure stehen vor riesigen Aufgaben. Wichtig ist, dass die neuen Eliten Vorstellungen haben, die sich von denen der Maidan-Demonstranten durchaus unterscheiden. Doch die Menschen auf dem Maidan werden künftig berücksichtigt werden müssen.

Dabei wird oft vergessen, dass sich die Anhänger von Janukowitsch natürlich nicht in Luft aufgelöst haben.

Zunächst muss es jetzt darum gehen, eine Regierung der Versöhnung und der Einheit zu etablieren. Doch bevor dies geschieht, sehe ich noch erhebliche Hindernisse, die überwunden werden müssen. Dabei wird oft vergessen, dass sich die Anhänger von Janukowitsch natürlich nicht in Luft aufgelöst haben. Nicht von ungefähr hatte er ja in den vergangenen Wahlen mehr als 50 Prozent der Stimmen auf sich vereinen können. Janukowitsch verfügt über große Unterstützung in seinen Hochburgen im Osten des Landes. Obwohl er selbst jetzt untergetaucht zu sein scheint, ist natürlich das Gedankengut seiner „Partei der Regionen“ nach wie vor weit verbreitet. Schätzungen gehen davon aus, dass er nach wie vor auf etwa 30 Prozent Unterstützung zählen könnte. Es muss darum gehen, diese Gruppen miteinander zu versöhnen.

Wie ist das Risiko einer Spaltung des Landes einzuschätzen? Timoschenko erklärte am Wochenende, die Ukraine solle „in kurzer Zeit" EU-Mitglied werden. Das dürfte im Janukowitsch-Lager nicht grade die Wogen glätten.

Timoschenko ist sicher eine Reizfigur. Auch persönlich. Im Westen des Landes wird sie als Lichtfigur wahrgenommen und auch in vielen europäischen Ländern. Doch eines ist klar: Sollte sie in Zukunft eine tragende Rolle spielen, wäre das natürlich kein Zeichen der Versöhnung.

Was die territoriale Integrität der Ukraine angeht, so denke ich, dass der Worst Case einer Spaltung kaum eintreten dürfte. Zu fragen wäre nämlich: Wer hätte ein echtes Interesse daran? Russland eigentlich nicht. Abgesehen davon, dass eine Spaltung des Landes gegen die KSZE-Schlussakte verstoßen würde und gegen die Prinzipien der OSZE, die Moskau bislang stets hochgehalten hat, ist auch fraglich, ob es sich wirtschaftlich rechnen würde. Ökonomische Bedenken existieren jedoch nicht nur in Russland, sondern auch in der Ost-Ukraine. Hier sollte man sich durchaus mal in die Gemütslage der ukrainischen Oligarchen hineinversetzen. Haben diese tatsächlich ein Interesse daran, sich von der ersten Reihe in der Ukraine nach einer Abspaltung ins 17. Glied der russischen Oligarchen-Hierarchie einzureihen? So sehen sie die Lage eher pragmatisch und bleiben bei einer Unterstützung der Integrität des Landes.

Eine wirkliche Gefahr sehen wir eigentlich aktuell nur auf der Krim. Dort ist bekanntlich die russische Schwarzmeerflotte mitsamt Familien stationiert und die Bevölkerungsstruktur bis zu 90 Prozent russischsprachig. Hier wird aktuell nicht zuletzt von den Medien auch bewusst Angst geschürt, dass es hier zu einer Art Machtübernahme durch die Westukraine kommen könnte, die den Lebensstil der Bevölkerung auf der Krim verändern würde.

Vor dem Hintergrund der regionalen Unterschiede: Wie hat die Opposition auf den Übergang reagiert? Sie sprach ja bis zuletzt alles andere als mit einer einheitlichen Stimme…

Die Opposition auf dem Maidan hat deutlich gemacht, dass sie mit den Protesten weitermachen wird. Das Ziel der Demonstranten auf dem Maidan war schließlich nicht der Siegeszug von Timoschenko, sondern ein Ende der Korruption und eine Politik der Verantwortung. Nun sehen die Protestierenden natürlich auch, dass sich Timoschenko in ihrer Regierungszeit auch nicht gerade durch Volksnähe ausgezeichnet hat. Die Demonstranten wollen deswegen die Regierung zwingen, so schnell wie möglich ein EU-Abkommen zu unterschreiben. Sie haben weiterhin zu Massendemos aufgerufen und wollen bleiben, zumindest bis zum 25. Mai – dem Datum der angesetzten Neuwahlen.

In der Konsequenz entsteht so eine schwierige Situation. Wir werden in den kommenden Wochen eine Doppelstruktur erleben. Auf der einen Seite die Politik in Kiew, und auf der anderen Seite den Versuch der Demonstranten, auf dem Maidan weiterhin Druck zu machen. Allerdings müsste sich die Übergangsregierung schon sehr große Mühe geben, alles falsch zu machen, wenn innerhalb von drei Monaten der Druck im Land wieder so anwachsen sollte wie in den vergangenen Wochen. Unwahrscheinlich erscheint mir daher, dass es weiterhin in der Fläche des Landes zu vergleichbar großen Demonstrationen kommen wird.

Die Ukraine steht kurz vor dem Staatsbankrott. Hilfzahlungen in Höhe von 35 Milliarden US-Dollar stehen im Raum. Sind diese Zahlen realistisch?

Klar ist zumindest, dass sich die Wirtschaftslage seit Oktober rapide verschlechtert hat. Wir erinnern uns: Die offizielle Begründung der Regierung Janukowitsch, das EU Assoziierungsabkommens nicht zu unterschreiben, war der Hinweis, sich die Unterschrift zum aktuellen Zeitpunkt ökonomisch nicht leisten zu können. Die geforderten Konditionalitäten wären der Ukraine schlicht zu teuer gekommen. Seitdem jedoch ist die wirtschaftliche Talfahrt des Landes weitergegangen. Standard & Poor's haben die Kreditwürdigkeit des Landes zurückgestuft und die Währung hat in den vergangenen Monaten 20 Prozent Verluste gegenüber dem Dollar und dem Euro hingelegt.

Vor diesem Hintergrund, sollte die EU erwägen, zumindest für den Anschub der Unterstützung auf eine knallharte Konditionierung zu verzichten.

Vor diesem Hintergrund hat die neue Regierung zwei Optionen: Die eine wäre sicherlich, erneut Russland um Unterstützung zu ersuchen. Doch natürlich ist das unrealistisch. Wirtschaftliche Unterstützung aus der EU ist die zweite Möglichkeit. Doch die ist bislang bekanntlich nur für den Preis erheblicher Auflagen zu haben. Das Problem ist: Diese Auflagen haben es in sich. Im Wesentlichen würde deren Umsetzung einer allumfassenden Austeritätspolitik entsprechen. Die Annäherung an die EU wäre erkauft durch höhere Preise, die Deckelung von Pensionen, usw. Die Umsetzung solcher unpopulärer Maßnahmen wäre eine enorme Bürde für jede Regierung. Vor diesem Hintergrund, sollte die EU erwägen, zumindest für den Anschub der Unterstützung auf eine knallharte Konditionierung zu verzichten.

Stichwort Russland: Wie wird die Entwicklung in Moskau betrachtet?

Die russische Politik hat bislang relativ entspannt auf den Wandel in der Ukraine reagiert – von Äußerungen des russischen Außenministers Lawrow einmal abgesehen. Russland wird sich arrangieren. Dazu trägt auch bei, dass die Akteure Timoschenko oder auch Klitschko den Russen seit einer guten Dekade bestens bekannt sind. Schließlich hat Timoschenko den für Moskau vorteilhaften Gasdeal mit Russland in ihrer Amtszeit unterschrieben. Putin sagte einmal halb im Scherz, Julia Timoschenko sei der einzige wirkliche Mann in der ukrainischen Politik. Und für Putin ist das ein Kompliment. Sofern es in der Ukraine nicht zu einer tatsächlichen Revolution der Maidan-Demonstranten kommt, wird sich Russland mit dem Elitenwechsel in Kiew daher durchaus arrangieren können.