Die Fragen stellte Alena Bieling.

Sie wurden kürzlich mit dem Menschenrechtspreis 2023 der Friedrich-Ebert-Stiftung ausgezeichnet, der Ihr unermüdliches Engagement für die Menschenrechte in Afghanistan würdigt. Wie sieht denn derzeit die Lebenssituation der Menschen im Lande aus?

Wenn wir uns die Lage in Afghanistan ansehen, müssen wie als Erstes feststellen, dass Frauen im ganzen Land systematisch ihrer Grundrechte beraubt werden. Mädchen wird das Recht auf den Besuch einer weiterführenden Schule verwehrt, Frauen dürfen nicht studieren und sind mit Ausnahme von Gesundheit und Bildung von den meisten Arbeitsbereichen ausgeschlossen. Frauen dürfen nicht für NGOs und die Vereinten Nationen arbeiten, und so ist Afghanistan das einzige Land der Welt, in dem Mädchen nicht zur Schule gehen können. Der UNO war nach eigener Aussage noch nie zuvor untersagt worden, Frauen einzustellen. Afghanische Aktivistinnen und Aktivisten bezeichnen die Situation als „Geschlechterapartheid“, denn Frauenrechte werden nur auf Grundlage des Geschlechts flächendeckend und systematisch verletzt.

Doch die gesamte Menschenrechtslage gibt Anlass zu größter Sorge. Die Taliban haben die meisten Gesetze abgeschafft, ohne neue einzuführen. Dadurch hat sich ein Zustand der Rechtlosigkeit eingestellt, in dem Willkürentscheidungen von Taliban-Richtern faktisch Gesetz werden. Menschen haben dadurch kaum noch Zugang zur Justiz, besonders Frauen, die vollständig aus dem Rechtssystem ausgeschlossen wurden. Auch die Gesetze zum Schutz von Frauen und Kindern wurden abgeschafft, ebenso wie andere Gesetze zur Wahrung der internationalen Menschenrechte, zum Beispiel die Gesetzgebung gegen Folter. Da außerdem Mechanismen für den Rechtsbehelf fehlen, haben Opfer von Rechtsverstößen durch die Taliban keine Anlaufstelle.

Sie konzentrieren sich in Ihrer Arbeit auf demokratische Entwicklung, Interessenvertretung und die Rechte der Frauen in Afghanistan. Welches sind aus Ihrer Sicht die größten Herausforderungen, vor denen Ihr Land heute steht?

Die afghanische Zivilgesellschaft wird massiv unterdrückt, die Medien unterliegen der Zensur. Es gibt keinerlei Spielraum für Aktivismus, die Förderung der Demokratie oder für andere Formen des zivilen Widerstands gegen die Taliban. Wer protestiert, wird brutal unterdrückt, schikaniert und inhaftiert, und auch die jeweilige Familie gerät ins Visier. Wer die Menschenrechtsverletzungen in Afghanistan dokumentieren will, stößt auf massive Schwierigkeiten, weil die Taliban die Informationen unter Verschluss halten. Afghanische Frauen können sich überhaupt nicht für Menschenrechte einsetzen, weil sie das Haus nur in Begleitung eines männlichen Vormunds verlassen dürfen. Ich würde daher sagen, in Afghanistan werden Menschenrechtsverfechter derzeit behandelt wie Kriminelle und setzen sogar ihr Leben aufs Spiel.

Wie hat sich Ihrer Erfahrung nach die Situation gegenüber den vergangenen Jahrzehnten verändert? Welches sind die größten Unterschiede zum Afghanistan vor 35 Jahren?

Seit mehr als vier Jahrzehnten herrscht Krieg, deshalb sind Instabilität und Gewalt leider schon so alt wie ich – und älter. Besonders in den zwei Jahrzehnten nach der internationalen Intervention in Afghanistan waren innere Konflikte und Korruption ein großes Thema. Das hatte schwere Folgen für das Land: Es gab mehrere Migrationswellen, Fachkräfte sind abgewandert, und das Land war außerstande, seine Institutionen kontinuierlich weiterzuentwickeln. Dennoch blieb vor der Machtübernahme der Taliban zumindest ein kleiner Spielraum für Verbesserungen, unter anderem in Sachen Rechtsstaat und in den Institutionen, aber auch für die Ausbildung neuer Generationen afghanischer Frauen und Mädchen und für den Wiederaufbau des Landes. Diese Bemühungen wurden durch den Krieg der Taliban gegen Regierung und internationale Streitkräfte unterbrochen.

Die jetzige Situation ist ein massiver Rückschritt, und es wird lange dauern, das Zerstörte wieder aufzubauen.

Die jetzige Situation ist ein massiver Rückschritt, und es wird lange dauern, das Zerstörte wieder aufzubauen, insbesondere was die Bildung der Mädchen angeht. Denn jeder verlorene Tag ist ein Tag, den man sich nicht mehr zurückholen kann. Und den Mädchen wird Bildung schon seit über zwei Jahren vorenthalten. Wir sind ein armes Land, das sich schon sehr lange im Krieg befindet. Ich fürchte, die Armut wird sich fortsetzen und noch verschlimmern, wenn Frauen weiter vollständig von Bildung und Arbeit ausgeschlossen werden. Und wenn die Taliban diese diskriminierende Politik beibehalten, werden sie Konflikte weiter anheizen. In puncto Gewalt wirkt die Lage derzeit etwas ruhiger, aber die Zukunft sieht sehr düster aus.

Was können die Europäische Union und andere internationale Akteure tun, um die Lebenssituation der Menschen und Frauen vor Ort zu verbessern?

Zunächst kann sich die internationale Gemeinschaft auf eine gemeinsame Position für den Umgang mit den Taliban einigen und Prioritäten setzen. Denn die Taliban führen lieber bilaterale Gespräche mit einzelnen Ländern als mit einem Block von Staaten, der mehr Druck ausüben kann. Für manche Länder stehen die Menschenrechtslage, langfristiger Frieden und Gerechtigkeit an erster Stelle. Anderen dagegen geht es ausschließlich um „Terrorismusbekämpfung“ ohne eine echte langfristige Perspektive.

Internationale Akteure können zudem die humanitäre Hilfe aufrechterhalten und ausweiten. Die Lage in Afghanistan ist schrecklich, der Bedarf riesig. Man muss auch die Aufsicht über die Verteilung der Hilfsgüter verbessern, denn es steht zu befürchten, dass manches umgeleitet, zweckentfremdet oder verschwendet wird. Und dann gibt es natürlich noch das Problem mit der Ausreise gefährdeter Personen aus Afghanistan. Viele der angekündigten Rettungspläne kommen nicht schnell oder effizient genug voran, und zahlreiche schutzbedürftige Menschen fallen gar nicht in den Geltungsbereich dieser Programme. Weil wir Menschenrechtsaktivisten keine anderen Möglichkeiten bieten, ihre Arbeit fortzusetzen, setzen wir sie der Gefahr aus, dass die Taliban sie zum Schweigen bringen.

Sollten Regierungen in Ihren Augen überhaupt mit den Taliban kooperieren?

Damit humanitäre Organisationen weiter Hilfe leisten können, müssen gewisse Beziehungen zu den Taliban aufrechterhalten werden. Wenn man die Taliban isolieren will, sollte man verhindern, dass dabei auch das afghanische Volk isoliert wird. Deshalb wäre es aus meiner Sicht gut, Beziehungen auf Prinzipien zu gründen, auf gemeinsamen Werten, für die sich die betreffenden Länder einsetzen. Wir müssen uns fragen: Wollen wir, dass die Taliban Frauen und Mädchen diskriminieren? Wollen das China, Pakistan oder Deutschland? Die nächste Frage ist daher, wie unsere Zusammenarbeit aussehen könnte, um das Problem anzugehen. Wenn sich aber China nur für die Terrorismusbekämpfung interessiert und Deutschland nur für die Senkung der Flüchtlingszahlen und Pakistan nur für Wirtschaft und Handel – und wenn für alle drei die Frauen- und Mädchenrechte nur an zweiter oder dritter Stelle stehen –, dann wird es schwierig, überhaupt Einfluss oder Druck auszuüben.

Welche Lehren kann der Globale Norden aus den Ereignissen in Afghanistan ziehen?

Eine der zentralen Erkenntnisse sollte es meines Erachtens sein, dass man wirklich sämtliche Möglichkeiten ausschöpft, bevor man militärisch eingreift. Und wenn die internationale Gemeinschaft dann doch militärisch interveniert, muss sie die Prinzipien und Werte wahren, wegen derer sie nach eigener Aussage da ist. Wer Menschenrechtsverstöße bekämpft, darf nicht selbst welche begehen. Genau das aber ist in Afghanistan passiert. Es herrschte eine Kultur der Straflosigkeit; Anschuldigungen wegen Übergriffen der afghanischen Armee und der internationalen Streitkräfte wurden nicht ernsthaft untersucht. Es wurden schwere Korruptionsvorwürfe erhoben, wiederum nicht nur gegen Afghanen, sondern auch gegen amerikanische Vertragsfirmen.

Wer Menschenrechtsverstöße bekämpft, darf nicht selbst welche begehen.

Wenn man solche Dinge schwelen lässt, können sie ein Regierungssystem zum Einsturz bringen. Nur weil man es mit sogenannten Terroristen zu tun hat, darf man noch lange nicht tun, was man will – die eigenen Handlungen holen einen wieder ein. Eine zweite Lektion ist die Art und Weise, wie in Afghanistan alles zu Ende ging: dass nicht berücksichtigt wurde, wie sich die getroffenen Entscheidungen auf 30 Millionen Afghaninnen und Afghanen auswirken würden. Sehr enttäuschend war, dass die USA den sogenannten Friedensprozess führten und die Europäer ihnen im Grunde einfach folgten. Nachdem sich Europa mehr als 20 Jahre lang in Afghanistan engagiert hatte, legte es noch nicht einmal einen scharfen Einspruch ein. Also, ja, man kann, glaube ich, einige Lehren daraus ziehen.

Angesichts der aktuellen Kriege weltweit gerät Afghanistan in Vergessenheit. Was möchten Sie der Welt zur dortigen Situation mitteilen?

Die Welt muss erkennen, dass sich die Vorgänge in Afghanistan nur als Geschlechterapartheid beschreiben lassen. Es findet eine massive und systematische Ausgrenzung und Demütigung von Frauen statt, Frauen gelten als minderwertige Bürger zweiter Klasse. Dieses Ausmaß an Menschenrechtsverletzungen kann keine Gesellschaft dieser Welt gutheißen – und dient auch nicht der internationalen Sicherheit. Deshalb gilt es, genau zu beobachten, was in Afghanistan geschieht, und sich bei den Regierungen der Welt dafür einzusetzen, dass sie mehr tun, enger zusammenarbeiten und die Probleme wirklich vorrangig angehen. Ich weiß, es gibt im Moment viele dringliche Probleme, die Aufmerksamkeit und Ressourcen binden. Aber wir sind durchaus in der Lage, uns mit mehr als einer Krise gleichzeitig zu befassen.

Man darf auch nicht vergessen, dass sich in Afghanistan Menschen gegen die Ungerechtigkeiten zur Wehr setzen, insbesondere Frauen. Wir hören, dass Frauen an Sitzblockaden teilnehmen oder sich zu Hause treffen, um zu protestieren, dass sie Lesekreise gründen oder heimlich Mädchen unterrichten. Frauen versuchen, mit eigenen Unternehmungen ihre Familien zu ernähren, sie widersetzen sich den Maßnahmen der Taliban auf jede erdenkliche Weise, um in der Öffentlichkeit präsent zu sein. Man muss anerkennen, dass viele Afghaninnen und Afghanen für sich die Hoffnung auf eine bessere Zukunft noch nicht aufgegeben haben. Die Botschaft kann daher nur lauten, dass auch wir auf keinen Fall lockerlassen dürfen.

Aus dem Englischen von Anne Emmert