Mit seiner ersten offiziellen Auslandsreise als neues afghanisches Staatsoberhaupt Ende Oktober hat Präsident Ashraf Ghani Amadzai ein Zeichen gesetzt. Denn er reiste nicht etwa nach Washington zur bisherigen „Schutzmacht“, obwohl die USA zunächst Afghanistans Hauptsponsor bleiben. Mit seinem Trip nach Peking trägt Ghani vielmehr den Machtverschiebungen Rechnung, die derzeit in und um Afghanistan stattfinden: Die USA und die Nato ziehen bis Jahresende ihre Kampftruppen von dort ab und werden auch ihre sonstige Hilfe reduzieren. Es drohen ein militärisches Vakuum und eine Wirtschaftskrise.

Ghanis verstärkte Bemühungen um das boomende Nachbarland China, die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt, sind deshalb sinnvoll. Abgesehen davon ist es für ein Afghanistan, das einmal auf eigenen Beinen stehen will, längst überfällig, seine Außenbeziehungen stärker zu diversifizieren und in Kooperation mit unterschiedlichsten Partnern wirtschaftliche Alternativen zum dominierenden Drogensektor zu entwickeln.

Nach bisheriger chinesischer Lesart ist der Konflikt am Hindukusch vor allem ein Problem der USA und des „Westens“, denen Peking misstraut und strategische Absichten über Afghanistan hinaus unterstellt.

Schon Ghanis Vorgänger Hamid Karsai hatte im September 2012 mit Peking eine „strategische Partnerschaft“ vereinbart. Zwar beinhaltete sie chinesische Ausbildungs- und Ausrüstungshilfe für die afghanische Polizei, war aber längst noch keine endgültige Abkehr von Chinas bis dahin weitgehend passiver Politik gegenüber Afghanistan. Denn nach bisheriger chinesischer Lesart ist der Konflikt am Hindukusch vor allem ein Problem der USA und des „Westens“, denen Peking misstraut und strategische Absichten über Afghanistan hinaus unterstellt.

Trotzdem hatten sich schon in den letzten Jahren chinesische Staatskonzerne am Hindukusch stark engagiert. So schloss die China Metallurgical Group (MCC) bereits 2007 einen Dreimilliarden-Dollar-Vertrag zur Erschließung und Ausbeutung der Kupfermine Mes Aynak in der an Kabul angrenzenden Provinz Logar. Und 2011 vereinbarte Chinas größte Ölgesellschaft, die China National Petroleum Corporation (CNPC), eine Ölförderung im nordafghanischen Amu-Darja-Becken. Afghanistan hat sehr große Vorkommen an verschiedenen Erzen und seltenen Erden sowie geringere an Öl und Gas. Diese Ressourcen sind aber wegen der jahrzehntelangen gewaltsamen Konflikte kaum erschlossen. Ihr Gesamtvorkommen wird auf eine bis drei Billionen Dollar geschätzt.

Im Fall Mes Aynak schien es zunächst gar so auszusehen, als würde ausgerechnet das US-Militär indirekt die Milliardeninvestitionen des Rivalen China vor den Taliban schützen. Die Volksrepublik hat nie eigene Soldaten nach Afghanistan geschickt und sich auch nicht an der internationalen Sicherheitstruppe ISAF beteiligt. China ist zwar an der Stabilität seines Nachbarn Afghanistan interessiert, aber nicht an einem durchschlagenden Erfolg der dortigen US-Intervention.

 

Vorwurf der Trittbrettfahrerei

Umgekehrt bekam die Aussicht auf einen verlustreichen US-Militäreinsatz, um ausgerechnet Chinas großen Rohstoffhunger zu stillen und seinen Staatskonzernen zu Profiten zu verhelfen, für viele Amerikaner einen unangenehmen Beigeschmack. Peking musste sich deshalb den Vorwurf der Trittbrettfahrerei anhören.

Der militärische Erfolg der Amerikaner und ihrer Verbündeten samt der afghanischen Streitkräfte im Kampf gegen die Taliban blieb bekanntlich aus. Die Taliban sind heute stärker denn je seit ihrer Niederlage 2001. Nach Überfällen der Taliban musste schließlich auch MCC seine chinesischen Ingenieure und Arbeiter aus Aynak abziehen. Seitdem liegt das Milliardengeschäft brach. Doch mit dem Abzug der US- und Nato-Kampftruppen ergeben sich jetzt neue Perspektiven.

Dabei hätten sich eigentlich schon bisher die Aktivitäten der USA und Chinas gut ergänzen können. Militärische Sicherheit und wirtschaftliche Entwicklung gehören bekanntlich zusammen. Ohne Schaffung von Arbeitsplätzen und Steuereinnahmen kann keine Sicherheit entstehen. Umgekehrt ist ein Mindestmaß an Sicherheit Grundvoraussetzung für wirtschaftliche Investitionen. US-Konzernen schien damals trotz der Anwesenheit des US-Militärs das Geschäft in Aynak nicht attraktiv genug. Stärkste Wettbewerber der Chinesen waren damals Kanadier. Das Geschäft war intransparent, die Verträge sind bis heute geheim.

 

Mythos Seidenstraße

Der frühere Weltbankmitarbeiter Ashraf Ghani warb im Präsidentschaftswahlkampf mit der Wiederbelebung der legendären Seidenstraße. Damit verbunden sind Visionen von Afghanistan als potentiellem Marktplatz an den sich dort kreuzenden transkontinentalen Handelsrouten. Auch in China wird in letzter Zeit verstärkt von einer Wiederbelebung der Seidenstraße in unterschiedlicher Form gesprochen. China betont gegenüber Afghanistan vor allem seine kommerziellen Interessen, wohl auch in Abgrenzung zu den westlichen Staaten unterstellten unlauteren Machtansprüchen. Zugleich spricht sich Chinas Führung, wie jetzt auch wieder bei Ghanis Besuch, deutlich für einen innerafghanischen Friedensprozess ohne Einmischung von außen aus.

Dabei hat China am Hindukusch nicht nur handelspolitische Rohstoff-, sondern auch vitale Sicherheitsinteressen. Peking möchte verhindern, dass der Widerstand militanter Uiguren in seiner Westprovinz Xinjiang von islamistischen Kämpfern aus Afghanistan unterstützt wird. Nach Meinung vieler westlicher Beobachter sind Chinas wachsende Probleme mit der muslimischen Minderheit der Uiguren, die zum Teil für ein unabhängiges Ostturkestan kämpfen, von Pekings kompromissloser Politik hausgemacht. Doch hat es in letzter Zeit auch verstärkt terroristische Anschläge mutmaßlicher Uiguren gegeben. Bereits mehrere hundert Tote gab es dabei seit 2008. Jede Regierung müsste hier aktiv werden.

Für die Eskalation der Gewalt macht Peking das „East Turkestan Islamic Movement“ (ETIM) verantwortlich. Auch die USA stufen dieses als Terrororganisation ein. Die Gruppe soll Verbindungen zu zentralasiatischen Dschihadisten wie zum Terrornetzwerk al-Qaida haben und Kämpfer im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet ausbilden. Ghani versprach jetzt in Peking, China beim Kampf gegen ETIM zu unterstützen. Wie, blieb dabei offen.

China will verhindern, dass erneut militante Uiguren in Afghanistan Unterschlupf und Unterstützung finden.

Bekanntlich saßen in dem umstrittenen US-Gefangenenlager Guantanamo auch ein gutes Dutzend Uiguren, die mutmaßlich auf Seiten der Taliban gekämpft hatten. China will verhindern, dass erneut militante Uiguren in Afghanistan Unterschlupf und Unterstützung finden. Die chinesische Regierung soll deshalb sogar schon Kontakte mit den Taliban aufgenommen haben. Denn Peking hält deren künftige Beteiligung an der Macht in Kabul für möglich.

Umgekehrt ist Chinas Regierung von Pakistans Umgang mit dortigen militanten Islamisten ernüchtert. Zwar geht von Chinas wichtigstem Partner in der Region noch keine direkte Gefahr für Pekings Herrschaft über Xinjiang aus. Doch fühlt sich China zunehmend unwohl bei der fortgesetzten Instrumentalisierung militanter Islamisten durch den pakistanischen Geheimdienst zu außenpolitischen Zwecken (Kaschmir, Afghanistan). Während diese Gruppen längst auch Pakistan destabilisieren, könnten sie eines Tages für China ebenfalls zum Problem werden. Peking hat jedoch feststellen müssen, dass in dieser Hinsicht sein Einfluss auf Islamabad begrenzt ist. Trotzdem erhofft sich die Regierung in Kabul von ihrer Annäherung an China einen stärkeren Einfluss Pekings auf Pakistans Afghanistan-Politik im afghanischen Sinn. Diesbezügliche Zusagen bekam Ashraf Ghani in Peking allerdings nicht zu hören.

Ein weiteres Interesse Chinas gilt der Bekämpfung der Drogenproduktion in Afghanistan, die sich auch auf die Volksrepublik auswirkt. Denn vom Hindukusch soll bereits rund ein Viertel des in China gehandelten Heroins stammen.

Ghani bekam jetzt von Peking Hilfszusagen im Umfang von umgerechnet 327 Millionen US-Dollar bis 2017 sowie Ausbildungszusagen und Stipendien. Das ist zwar finanziell wenig im Vergleich zu den Milliarden, die Washington im gleichen Zeitraum zahlen wird und auch im Vergleich etwa zur Hilfe aus Berlin, die bis 2016 auf jährlich 430 Millionen Euro festgelegt ist. Doch China zahlt mit seinen neuen Zusagen weit mehr, als es dies seit 2001 mit umgerechnet 250 Millionen Dollar getan hat. Und im Anschluss an Ghanis Staatsbesuch führte China mit dem Außenministertreffen im Rahmen des so genannten Istanbul-Prozesses der Nachbarstaaten Afghanistan erstmals eine internationale Konferenz zu dem Thema durch. Auch dies zeugt von Chinas deutlich verstärkten Bemühungen.

 

Kein Ausbau der Landverbindung

Trotzdem bremste Peking den erwartungsvollen Ghani auch. So drängte dieser vergeblich auf den Bau einer guten Straßenverbindung durch den Wakhan-Korridor, den schmalen Gebirgsstreifen, der die abgelegene nordafghanische Provinz Badakhschan und den Südwesten von Chinas Xinjiang-Provinz verbindet. An einer solchen Straße zeigt Peking bisher kein Interesse. Womöglich überwiegt die Furcht vor einem Einsickern islamistischer Kämpfer und Flüchtlinge entlang dieser Strecke gegenüber dem wirtschaftlichen Vorteil einer direkten Landverbindung.

Peking will am Hindukusch auch weiter keine Führungsrolle übernehmen, erst recht nicht militärisch. Nachdem im letzten Jahrhundert nacheinander Großbritannien, die UdSSR sowie die USA und die Nato Afghanistan nicht in ihrem Sinn unterwerfen und befrieden konnten, ist China sicher auch gut beraten, dort keine militärische Rolle zu suchen. Dies würde auch im krassen Gegensatz zu Pekings bisheriger Außenpolitik der Zurückhaltung stehen.

Dabei wird Chinas größeres, wenn auch vorsichtiges Engagement am Hindukusch von der Regierung in Washington ausdrücklich begrüßt, zumindest offiziell. Das dürfte auch starke innenpolitische Gründe haben. Denn die Obama-Regierung muss bei ihrem Truppenabzug vom Hindukusch dem Eindruck entgegenwirken, sie hinterlasse in Afghanistan ein Machtvakuum und unverantwortliche Instabilität.

Dabei könnte der künftige Umgang mit Afghanistan ein Beispiel für eine konstruktive und vertrauensbildende Zusammenarbeit zwischen China und den USA werden. Doch dazu müssten beiden Seiten auch der jeweils anderen dort einen Erfolg gönnen. Noch sieht es allerdings so wenig nach Erfolgen aus wie danach, dass China und die USA aufgrund ihrer sonstigen strategischen Rivalität diese dem jeweils anderen auch wirklich gönnen würden.