Afrika, so ist jüngst immer häufiger zu lesen, sei der Kontinent der Zukunft. Während früher nur von Krieg und Krisen die Rede war, hört man neuerdings auch von rasantem wirtschaftlichen Aufstieg. Kritiker dieser Aufstiegshymen werfen ein, in absoluten Zahlen sei die Wirtschaftsleistung immer noch gering. Zudem seien die positiven makroökonomischen Daten vor allem der intensivierten Ausbeutung weiterer Rohstoffvorkommen zu verdanken, in erster Linie Erdöl und Erdgas. Dem wiederum wird entgegengehalten, dass auch die afrikanische Mittelschicht wachse, und zwar in einem schier atemberaubenden Tempo. Sie gilt als Indikator und Motor des Fortschritts zugleich. Aber ob die Mittelschicht wirklich Fortschritt bringt, darf bezweifelt werden. Außerdem ist schwer zu definieren, wer ihr angehört.
Die beiden am häufigsten zitierten Studien zum Wachstum der afrikanischen Mittelschicht kommen von einem Beratungsunternehmen und einer Bank. Das US-amerikanische Beratungsunternehmen Deloitte nannte seine entsprechende Studie 2013 „The Rise and Rise of the African Middle Class“, auf Deutsch etwa: „Vom unaufhaltsamen Aufstieg der afrikanischen Mittelklasse.“
Deloitte ist einer der vier größten Konzerne der globalen Prüfungs- und Beratungsbranche. Wohl auch deshalb erregte die Studie größte Aufmerksamkeit, vor allem bei Unternehmen. Denn die verbinden mit dem Gedanken an eine wachsende Mittelschicht die Hoffnung auf mehr gut situierte Konsumenten, und damit auf mehr Umsatz und Profit in Afrika. In der Studie von Deloitte heißt es unter anderem, die afrikanische Mittelschicht habe sich in den vergangenen dreißig Jahren verdreifacht. Halte die gegenwärtige Tendenz an, würden 2060 1,1 Milliarden Afrikaner zur Mittelschicht gehören. Das entspräche 42 Prozent der Bevölkerung. Die zweite viel zitierte Untersuchung stammt von der Afrikanischen Entwicklungsbank. Darin hieß es schon 2011, in den vergangenen drei Jahrzehnten sei der Anteil der Mittelschicht in afrikanischen Ländern jährlich um gut drei Prozent gestiegen. Am stärksten soll deren Anteil in Kenia zugenommen haben: In der größten Volkswirtschaft Ostafrikas habe er sich im vergangenen Jahrzehnt sogar verdoppelt.
Wie wird die Mittelschicht definiert?
Die Frage ist aber, wie die Mittelschicht definiert wird. Die einschlägigen Untersuchungen orientieren sich dafür nicht am Einkommen, sondern an den Ausgaben. Der oft zitierten Definition der Afrikanischen Entwicklungsbank zufolge gehört zur afrikanischen Mittelschicht, wer am Tag zwischen zwei und zwanzig Dollar ausgibt. Sich an den Ausgaben zu orientieren ist legitim, da es keine allgemein gültige Definition gibt. Auffällig ist es trotzdem. In Deutschland orientieren sich entsprechende Untersuchungen eher an den zu versteuernden Bruttoeinkommen und setzen das Einkommen einer Familie oder eines Haushalts in Verhältnis zum Durchschnittseinkommen. Viele Sozialwissenschaftler nehmen in ihre Untersuchungen noch den Bildungsstand hinzu und kommen so zur Definition einer soziokulturellen Mittelschicht.
Der oft zitierten Definition der Afrikanischen Entwicklungsbank zufolge gehört zur afrikanischen Mittelschicht, wer am Tag zwischen zwei und zwanzig Dollar ausgibt.
In Afrika haben die meisten Menschen bis heute keinen regulären Job, eine Orientierung am Bruttoeinkommen ist also nicht machbar. Noch nicht einmal in Kenia, wo die Mittelschicht ja angeblich besonders schnell wächst. Selbst dort ist aber die Zahl der formellen Arbeitsverhältnisse 2013 nur um 100.000 gestiegen, auf jetzt gut zwei Millionen, heißt es bei dem bundesseigenen Außenwirtschaftsinstitut German Trade & Invest. Bei rund 17 Millionen Erwerbstätigen, gezählt vom amtlichen Kenianischen Statistikbüros (KNBS), ist der Anteil formeller Arbeitsverhältnisse also immer noch verschwindend gering.
Die meisten Menschen verdienen ihren Lebensunterhalt selbstständig, und zwar überwiegend im informellen Sektor – also außerhalb aller sozialen Sicherungssysteme. Die erfolgreicheren sind vielleicht KFZ-Mechaniker ohne registrierte Werkstatt, die weniger erfolgreichen fliegende Händler und wühlen sich mit lebenden Welpen oder jungen Kaninchen, mit aufblasbaren Plastikflugzeugen, Bananen oder Gemüse durch die Staus der großen Städte, um hier und da etwas Umsatz zu machen.
Diese Mittelschichtsmitglieder leben immer noch in einer prekären Situation. Wird jemand krank, muss sich die Familie verschulden und fällt in die Armut zurück. Auch andere Wechselfälle des Lebens können rasch in ein Leben unterhalb des Existenzminimums zurückführen. Die Gruppe am unteren Rand der afrikanischen Mittelschicht wird deshalb auch „floating class“ genannt – „die umhertreibende Klasse“, weil sie mal diesseits, mal jenseits der Armutsgrenze lebt. 60 Prozent der afrikanischen Mittelschicht gehören zu dieser „floating class“, schätzt die Afrikanische Entwicklungsbank.
Das Phänomen ist also etwas anders, als meistens dargestellt. Dabei verändert in vielen afrikanischen Ländern zurzeit durchaus etwas: Immer mehr Menschen befreien sich aus der Armut und steigen in die Mittelschicht auf. Deren Anteil an den Gesellschaften ist aber in absoluten Zahlen immer noch klein. Und er steht in keinem Verhältnis zu den optimistischen Einschätzungen der Beratungsfirmen. Die wollen womöglich vor allem potentiellen Investoren Mut machen, ihr Geld nach Afrika zu tragen.
Völlig unbewiesen ist auch die zweite, häufig wiederholte Hoffnung, dass die neue Mittelklasse politische Stabilität und gesellschaftlichen Fortschritt nach Afrika bringe. Dafür müssten sich deren Mitglieder für ihre Gesellschaft politisch und vielleicht auch wirtschaftlich engagieren. Aktuelle Untersuchungen verweisen aber eher auf das Gegenteil, nämlich darauf, dass die Aufsteiger vor allem eigennützig handeln. Oftmals herrsche eine so genannte „NIMBY“-Einstellung vor, also die Haltung: „Not in My Backyard“. Soll heißen: Die jeweiligen Gruppenmitglieder wollen ihr Gruppeninteresse vor dem Einfluss von Reformen auf jeden Fall bewahren, selbst wenn sie die entsprechenden Reformideen grundsätzlich vielleicht sogar unterstützenswert finden. Der Afrikanist Henning Melber bezeichnet den „Hype um die Mittelklasse" deshalb als Gaukelei. Die ganze Diskussion solle letztlich davon ablenken, die eigentlichen Herausforderungen in Angriff zu nehmen. Und das ist in erster Linie immer noch die Armut der Bevölkerungsmehrheit.
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Volker Seitz, Botschafter a.D./Buchautor