In Spanien war Carlos Castresana ein Medienstar, in Guatemala wagte sich der prominente Anti-Korruptions-Staatsanwalt selten vor die Tür. Die Morddrohungen, die der Chef der Kommission gegen Straffreiheit (CICIG) erhalten hatte, waren durchaus ernst zu nehmen. 16 Bodyguards bewachten ihn in der Villa hinter großen, mit Stacheldraht verhauenen Mauern in der eleganten 14. Zone der Hauptstadt. Über Castresanas Schreibtisch gingen zwischen 2007 und 2010 die heikelsten Strafprozesse des Landes: die Verfolgung des Expräsidenten Alfonso Portillo ebenso wie die Ermittlungen zum brisanten Mord an Rechtsanwalt Rodrigo Rosenberg. Es war eine  Mammutaufgabe, der sich Castresana stellte: Die paramilitärischen Mafiastrukturen, die sich während des Bürgerkriegs in dem mittelamerikanischen Staat eingenistet hatten, zu zerschlagen. 

 

Langer Anlauf

Das war eigentlich Bestandteil des 1996 geschlossenen Friedensvertrags, aber keiner der nachfolgenden Präsidenten hatte den Mut, die Macht und den Willen, das durchzusetzen. Die Mafia hatte aus der Gewalt inzwischen ein Modell der wirtschaftlichen Akkumulierung und aus dem daraus gewonnenen Geld ein Mittel der politischen Kontrolle gemacht. Sie hatte ihre Tentakel überall: in der Polizei ebenso wie in der Justiz, der Armee, dem Kongress, der Migrations-, Gefängnis- und Zollbehörde. Derart erfolgreich waren diese Netzwerke, dass der Justiz- und Sicherheitsapparat des Landes praktisch lahmgelegt war: Zum Jahrtausendwechsel blieben 98% aller Verbrechen straffrei. Guatemala galt als gescheiterter Staat.

2004 war schon einmal ein Anlauf gescheitert, eine internationale Kommission zur Auflösung dieser Gruppen einzusetzen. Erst der konservative Präsident Oscar Berger unterzeichnete schließlich im Dezember 2006 das Abkommen zur Einrichtung der CICIG mit der UNO, die die Umsetzung der Friedensverträge überwachte und wiederholt die mickrigen Fortschritte und den mangelnden Reformwillen der Elite bemängelt hatte. Unter Berger war die Konjunktur günstig: Nachdem die USA die Karibikroute praktisch blockiert hatten, verwandelte sich Mittelamerika zum Haupt-Umschlagplatz des Kokainhandels. Die Sicherheitslage geriet außer Kontrolle, Gewaltverbrechen und die Mordrate schnellten in die Höhe, die Bevölkerung forderte Ergebnisse. Menschenrechtsorganisationen starteten eine Kampagne und Vizepräsident Eduardo Stein befürwortete das Vorhaben – so war der Grundstein gelegt.

 

Die Elite wehrt sich

Die Aussicht auf die Sonderermittler alarmierte sowohl die Mafia als auch einen Teil der Politiker: Monatelang blockierten die konservativen Parteien FRG des Exdiktators Efraín Ríos Montt, Teile der Patriotischen Partei des aktuellen Präsidenten Otto Pérez und sogar der PAN von Berger die nötige Ratifizierung im Kongress.  In der Presse wurde eine Kampagne gegen die „verfassungswidrige, koloniale Paralleljustiz“ gestartet.  Die vehemente Kritik an der „ausländischen Einmischung“, das Pochen auf eine noch so fragile Souveränität hat in all den Jahren, in denen das Mandat der CICIG immer wieder verlängert wurde, nicht nachgelassen.

Was hat die CICIG bewirkt, dass ihr so viel Widerstand begegnet? „Gemessen an ihrem Mandat nicht viel, aber trotzdem spielt sie eine wichtige Rolle“, resümiert Francisco Jiménez, Experte für Justiz und Sicherheit von „interpeace“. „Bis heute wissen wir nicht, wie viele dieser para-mafiösen Netzwerke es im Staatsapparat gibt und wie sie funktionieren“, kritisiert er. Bei der Ermittlung und Verfolgung herausragender Verbrechen, habe die CICIG zwar Erfolge vorzuweisen, doch noch seien viele Fälle offen. Ihre bloße Existenz habe aber abschreckende Wirkung. Den größten Erfolg sieht Jiménez in der Stärkung der Justiz und Polizei. 

Guatemalas Justiz litt wie fast alle Judikativen Lateinamerikas unter Korruption, Ineffizienz, Politisierung, Unterfinanzierung und völlig defizienten Ermittlungsstrukturen.

Guatemalas Justiz litt wie fast alle Judikativen Lateinamerikas unter Korruption, Ineffizienz, Politisierung, Unterfinanzierung und völlig defizienten Ermittlungsstrukturen. Die meisten Prozesse basierten auf Geständnissen, die oft unter Folter erpresst wurden. Grundlegende wissenschaftliche Methoden wie DNA-Proben, ballistische Expertisen oder die Analyse von Fingerabdrücken kamen selten zur Anwendung. Es gab keine funktionierenden Zeugenschutzprogramme, viele Kommissariate hatten nicht einmal Computer, ausreichend Benzingeld oder einsatzfähige Fahrzeuge. Die Prozesse waren lange und bürokratisch, die Gesetzeslücken eklatant.

Sowohl Castresana als auch seine Nachfolger, der Costaricaner Francesco Dell’Anese (2010-2013) und der Kolumbianer Iván Velásquez, agierten an drei Fronten: dem politischen Lobbying für Gesetzesänderungen, der öffentlichen Aufklärung und der Aufdeckung exemplarischer Fälle. Fast immer schlugen die Fälle hohe Wogen. So fanden sich dank der CICIG gleich zwei Expräsidenten auf der Anklagebank: Alfonso Portillo wegen Korruption und Efraín Ríos Montt wegen Völkermords. Die Prozesse markierten eine Zäsur, bis dato war es undenkbar, derart mächtige Politiker zur Rechenschaft zu ziehen. Bald war klar: Nichts und niemand war von den Ermittlungen sicher, selbst die Berger-Regierung erreichte der lange Arm der CICIG. Sein Innenminister Carlos Vielman, der einst die Einrichtung der CICIG befürwortet hatte, und dessen Polizeichef Erwin Sperisen sitzen heute in Spanien respektive in der Schweiz wegen eines Gefängnismassakers in Haft. Das Gefühl der plötzlichen Verwundbarkeit beunruhigte die politische Elite. Vizepräsident Stein bedauerte, die CICIG habe sich politisiert. „Sie bläst Prozesse ideologisch auf und präsentiert sie als Triumph der Justiz gegen die Unantastbaren; ein Sieg der Armen gegen die reichen Unternehmer.“

Ähnliche Vorwürfe kamen – neben persönlichen Diffamierungen der CICIG-Chefs – immer wieder aufs Tapet. Die CICIG sei Bestandteil einer internationalen linken Verschwörung und habe deshalb den sozialdemokratischen Expräsidenten Alvaro Colom nie angetastet, schrieb der Kolumnist José Daniel Rodríguez in „República“. Colom mit seinen Sozialprogrammen und Steuerreformen war der Lieblingsfeind der Elite, und wäre die CICIG nicht gewesen, hätte ihn vermutlich der Fall Rosenberg das Amt gekostet und Guatemala wäre in eine politische Krise gestürzt. Der Anwalt wurde 2009 ermordet. Posthum wurde ein Video veröffentlicht, in dem Rosenberg den Präsidenten für die Tat verantwortlich machte. Grund seien finstere Machenschaften in der Bank Banrural und der Kaffeevereinigung Anacafé zur Finanzierung der Aktivitäten der First Lady, von denen er Kenntnis gehabt habe. Letztlich stellte sich heraus, dass Rosenberg nach einer unglücklichen Liebesaffäre seine Ermordung selbst in Auftrag gegeben hatte.

 

Was ist erreicht?

In den vergangenen sieben Jahren zerschlug die CICIG Drogenkartelle (Familien Lorenzana und Mendoza), brachte Minister hinter Gitter, verhinderte die Ernennung korrupter Staatsanwälte und Richter, setzte Polizeichefs auf die Anklagebank, modernisierte den Strafprozess, regte ein neues Gesetz über Waffenbesitz, Zeugenschutz und den Kampf gegen das Organisierte Verbrechen an, richtete ein modernes Abhör- und Ermittlungszentrum ein und beförderte die Karriere mutiger Richter und Staatsanwälte wie Claudia Paz und Yasmin Barrios. Die Öffentlichkeit bekam Kenntnis von der Tragweite der Mafianetze, zum Beispiel einem Hinrichtungs- und Entführungskommando, artikuliert zwischen Innenministerium und Polizei. 

Immer wieder waren die Beweise und Ermittlungen der CICIG ein wichtiges Hilfs- und Druckmittel für Bürgerorganisationen bei ihrem Kampf um mehr Rechtsstaatlichkeit. Ein Beispiel ist die Absetzung des Generalstaatsanwalts Conrado Reyes im Jahr 2010. Er war von der CICIG als korrupt und Vertrauensmann der Mafia eingestuft worden; der Kongress und Präsident Colom ernannten ihn trotzdem. Innerhalb weniger Wochen entließ Reyes dutzende fähiger Ermittler und löste funktionierende Strukturen auf, die die CICIG in mühevoller Arbeit aufgebaut hatte.  Schließlich wurde er vom Verfassungsgericht abgesetzt und Colom machte auf internationalen Druck  hin die angesehene Menschenrechtsexpertin Claudia Paz zur Nachfolgerin. Unter ihr stieg die Erfolgsrate rapide an – der Stiftung Mack zufolge sank die Straffreiheit auf 78 Prozent. Einer damaligen Umfrage zufolge unterstützten rund 80% der Befragten die Arbeit der CICIG. Den meisten sei die Tragweite der CICIG aber gar nicht richtig klar, so Jiménez.

Die Öffentlichkeit bekam Kenntnis von der Tragweite der Mafianetze, zum Beispiel einem Hinrichtungs- und Entführungskommando, artikuliert zwischen Innenministerium und Polizei. 

Doch die Kommission musste auch Rückschläge einstecken. Ihrer Wunschkandidatin Paz warf der Kongress so viele Stöcke in die Räder wie möglich. So wurde niemals das Expertenkomitee ernannt, dessen Zustimmung Paz gebraucht hätte, um korrupte Funktionäre zu entlassen. Hunderte standen auf der Liste von Paz, 286 konnten nur suspendiert werden, unter Fortbezahlung ihres Gehalts. Andere waren wegen ihrer gewerkschaftlichen Funktion unantastbar, wie die für Schmuggel und Umweltdelikte zuständigen Staatsanwälte, die beide auffallend ineffizient arbeiteten. Auch die Zusammenarbeit mit dem Innenministerium und der Polizei gestaltete sich schwierig. Zum einen, weil sich dort die Mafia besonders dick eingenistet hatte, zum anderen durch eine ständige Rotation der dortigen Funktionäre.  Die Diskrepanz zwischen den ausländischen Funktionären und den heimischen Richtern und Staatsanwälten war immer wieder ein Problem. Während die CICIG-Mitarbeiter in gepanzerten Limousinen und mit Bodyguards unterwegs waren, wurden die örtlichen Ermittler Opfer von Anschlägen und Morden.

Besonders aber litt die Arbeit der CICIG unter der nachlassenden Unterstützung der Regierung, was sich 2010 im Rücktritt Castresanas erstmals manifestierte. Castresana warf damals im Konflikt um Reyes Präsident Colom vor, seine Verpflichtungen nicht einzuhalten. Weder gäbe es genügend Geld noch den politischen Willen, um die notwendigen Maßnahmen durchzusetzen wie den Bau von Hochsicherheitsgefängnissen, die Verdoppelung der Staatsanwälte, den Kauf von gepanzerten Fahrzeugen und Personenschutz für Richter und Ermittler. Die Spannungen haben sich unter Präsident Pérez noch verschärft, obwohl Castresanas Nachfolger deutlich diplomatischer auftraten.

 

Rechtsstaat auf dem Rückzug

„Der Wendepunkt war der Völkermordprozess gegen Rios Montt 2013“, sagt Jiménez von interpeace. Der Prozess unter den Fittichen der beiden Starjuristinnen, die von der CICIG großgezogen wurden, Richterin Yasmin Barrios und Staatsanwältin Claudia Paz, riss alte Wunden auf und polarisierte das Land. Die Unternehmer, die einst die CICIG als Verbündete im Kampf gegen die Korruption betrachtet hatten, fanden sich im Lager der rechten Kritiker wieder. Die Polarisierung nahm extreme Züge an und ist Jiménez zufolge ein krasser Rückschritt auf dem Weg zu einem Rechtsstaat. Auf Barrios Haus wurden Granaten abgefeuert; Paz‘ Mandat wurde im Mai 2014 vorzeitig beendet, ersetzt wurde sie durch die regierungsnahe, konservative Thelma Aldana. Das war erst der Beginn der Restauration. Der nächste Rückschlag war die Ernennung von 223 neuen Richtern für das Oberste Gericht und die Berufungsgerichte Ende 2014. Die Lobbygruppen im Kongress besetzten alle Stellen mit Personen, die oft weder die professionelle noch die ethische Eignung dafür hatten, wie Bürgerrechtsorganisationen bemängelten.

Im Wahljahr 2015 ging damit eine wichtige Schlacht im Kampf um einen sauberen Justizapparat verloren. Der Auswahlprozess der obersten Richter des Landes ist einer der Knackpunkte des Justizsystems. Alle fünf Jahre wählt der Kongress die Richter aus einer Liste aus, die vom Anwalts-, Richter- und Dozentengremium vorgelegt wird. Wer auf dieser Liste steht, muss nicht Richter sein, nicht einmal Anwalt. Ein Prozess, der laut der CICIG zufolge nicht die dienstliche Eignung prämiert, sondern politisches Wohlverhalten, der intransparent ist und eine unabhängige Justiz verhindert, statt sie zu befördern. Tiefgreifende Reformen seien nötig, so die CICIG in ihrem letzten Rechenschaftsbericht, in dem sie eine öffentliche Debatte darüber mit allen relevanten gesellschaftlichen Sektoren ankündigte. Wenige Tage später musste sie den Vorschlag zurücknehmen. Präsident Pérez habe er missfallen, hieß es aus gut unterrichteten Kreisen. Der Ex-General wünsche keinerlei Bürger-Beteiligung an einer solchen Debatte, zu deren Abhaltung die CICIG nicht befugt sei.

Derzeit steht die erneute Verlängerung des Mandats bis 2017 an, und auf den sozialen Netzwerken läuft bereits die Gegenkampagne unter dem Hashtag FueraCICIG. Präsident Pérez hat angekündigt, seine Entscheidung von der Bilanz einer Expertenkommission abhängig zu machen. Wie deren Urteil ausfällt, wird nach Auffassung von Jiménez vor allem vom Druck der Geberländer abhängen. Denn die guatemaltekische Elite hat gemerkt, dass ein Rechtsstaat unweigerlich mit dem Verlust von Privilegien einhergeht. Entsprechend ist der Kompromiss mit rechtsstaatlichen Reformen in die Ferne gerückt. Und wenn die Arbeit der CICIG eine Zwischenbilanz zulässt, dann die, dass ein Rechtsstaat ohne das Engagement der Bevölkerung und der politischen Elite zwar kurzfristig durch internationale Intervention Fortschritte zeitigt, langfristig aber eine Illusion bleibt.