In den letzten Wochen haben mehrere Massenproteste gezeigt, dass viele Menschen in Hongkong auch 17 Jahre nach der Rückgabe der einstigen Kronkolonie in China ganz anders denken, als es die Regierung in Peking gern hätte. Besonders junge Menschen haben sich an diesen Protesten beteiligt, von denen viele den Souveränitätswechsel der Stadt 1997 noch nicht bewusst miterlebt hatten. Umso ernüchternder muss es für Chinas Machthaber sein, dass ihr Nationalismus bei dieser Jugend kaum verfängt. Vielmehr mischt sich diese jetzt selbstbewusst mit eigenen Peking-kritischen Vorstellungen in die Debatte um Hongkongs politische Zukunft ein.


Am 4. Juni, dem 25. Jahrestag der gewaltsamen Niederschlagung der chinesischen Demokratiebewegung, erinnerten in Hongkong nach Veranstalterangaben 180.000 Menschen an das in China offiziell totgeschwiegene Pekinger Massaker von 1989. Anders als von der chinesischen Regierung erhofft schwinden in Hongkong die Teilnehmerzahlen an dieser jährlichen Gedenkveranstaltung nicht. Sie steigen vielmehr seit einiger Zeit wieder an.


In der letzten Juni-Woche stimmten knapp 800.000 Hongkonger in einem von Peking als „illegal“ bezeichneten informellen Referendum für die direkte Nominierung des nächsten Hongkonger Regierungschefs und damit gegen eine von Peking gesteuerte Vorauswahl durch ein handverlesenes Gremium. An dieser Nominierungspraxis will Chinas Regierung unbedingt festhalten. Doch würde dies die von Peking ab 2017 versprochene Direktwahl des Hongkonger Regierungschefs durch die Bevölkerung zu einer Farce machen. Am 1. Juli, dem Jahrestag und offiziellen Feiertag der Wiedervereinigung Hongkongs mit China, protestierten zehntausende Menschen in einem bis zu achtstündigen Marsch gegen Pekings Hongkong-Politik. Nach Veranstalterangaben waren es 510.000 Demonstranten, nach unabhängigen Berechnungen maximal 172.000. Doch zweifellos war es ein beeindruckendes Signal aus dieser stark „kommerzialisierten“ Stadt. Bereits 2003 hatten 500.000 Demonstranten die Regierung in Peking gezwungen, auf ein umstrittenes Anti-Subversionsgesetz für Hongkong zu verzichten. Damals führte der Protest auch zum Rücktritt des Peking-nahen Regierungschefs der Stadt.
 

Zunehmende Abwehrreflexe

Chinas Einfluss in der Finanz- und Dienstleistungsmetropole mit 7,2 Millionen Einwohnern ist in den letzten Jahren stetig gewachsen. Doch angesichts der vergrößerten Abhängigkeiten Hongkongs vom Festland nehmen die Abwehrreflexe in der Stadt zu. Prassen neureiche Chinesen und selbstherrliche Kader mit Korruptions-, Schwarz- und Fluchtgeldern in der Stadt und treiben die ohnehin astronomischen Wohnungspreise noch höher oder machen Millionen chinesischer Touristen mangels Vertrauen in heimische Lebensmittelkontrollen Hongkongs Milchpulver zur Mangelware, reagieren Teile der Bevölkerung inzwischen gereizt. Manchmal kommt es gar zu rassistischen Ausfällen, die in sozialen Netzwerken zu einem bizarren „Kampf der Kulturen“ führen.


Viele Hongkonger wehren sich gegen die Vereinnahmung und Bevormundung durch China. Sie bestehen auf weitgehender Eigenständigkeit, einem eigenen politischen Weg sowie der Einhaltung chinesischer Versprechen einer schrittweisen Demokratisierung des kolonialen politischen Systems der Stadt. Hongkong wurde nach der von Deng Xiaoping verfassten Formel „ein Land – zwei Systeme“ für fünfzig Jahre Autonomie zugesagt. Das betrifft vor allem die Beibehaltung seines kapitalistischen Wirtschaftssystems. Mit Hongkongs neoliberalem Kapitalismus hat Chinas Kommunistische Partei auch keine Probleme. Die Volksrepublik hat in den letzten Jahrzehnten selbst viel davon übernommen. Abgesehen davon befeuern Kapital und Knowhow aus Hongkong schon seit 1979 den südchinesischen Wirtschaftsboom. Und umgekehrt nutzen Chinas Staatskonzerne längst Hongkongs Börse gern als Schritt zur eigenen Globalisierung.


Viel problematischer sind hingegen die politischen Differenzen. China reagierte empört, als Großbritannien unter seinem letzten Gouverneur Chris Patten ab 1992 noch eine Demokratisierung der Stadt durchführte, wovon London selbst 150 Jahre lang nichts wissen wollte. Peking machte diese Reformen nach 1997 in Hongkong rückgängig, versprach aber ein Festhalten an bisherigen Freiheiten. Dies ist für Peking wichtig, da Hongkong als Modell für Chinas Wiedervereinigung mit Taiwan gelten soll.
 

Aufgeklärte Mittelschicht

Doch Chinas Regierung hat die Rechnung ohne Hongkongs politisch längst erwachte Bevölkerung gemacht. Bei ihr handelt es sich längst nicht mehr um unmündige koloniale Objekte, die nur auf die „Befreiung“ aus Peking warteten, sondern um gebildete und aufgeklärte Subjekte einer global orientierten Mittelschicht. Diese ist längst nicht mehr bereit, alles stillschweigend zu akzeptieren, was über ihre Köpfe entschieden wird. Seit einigen Jahren schon verläuft der Konflikt um Hongkongs politische Zukunft nicht mehr zwischen London und Peking, sondern zwischen Hongkongs Demokratiebewegung und dem wieder zunehmend autoritär auftretenden chinesischen Regime. Während die einstige Kolonialmacht zur Pekinger Politik schweigt, kämpfen die Hongkonger selbstbewusst für die Durchsetzung ihrer eigenen Vorstellungen und demokratischen Rechte.


In der Volksrepublik wurde unter Partei- und Staatschef Xi Jinping die neue Propagandalosung vom „chinesischen Traum“ ausgegeben. Die Pekinger Regierung versteht darunter eine „Renaissance“ des Reichs der Mitte, die sich vor allem an nationaler Stärke unter der Alleinherrschaft der Kommunistischen Partei festmacht. Viele Hongkonger träumen dagegen von der demokratischen Selbstbestimmung ihrer Stadt, deren politische Erfahrungen vielleicht eines Tages auch China nutzen könnten. Als die Volksrepublik sich in den 1980er Jahren zu reformieren und öffnen begann, reduzierte dies für viele Hongkonger die Angst vor dem sich abzeichnenden Souveränitätswechsel. Umso größer war der Schock im Juni 1989, als Panzer in Peking den demokratischen Traum beendeten.


Die Hongkonger haben inzwischen gelernt, mit den neuen Herren aus Peking zu leben.


Für Hongkong war das ein Trauma. Nirgendwo sonst war und ist das Echo auf die Pekinger Ereignisse so stark wie in dieser südchinesischen Stadt. Die Hongkonger haben inzwischen gelernt, mit den neuen Herren aus Peking zu leben. Trotzdem treten sie immer wieder mutig für ihre Rechte und eigenen Vorstellungen ein. Zugleich wird in der Stadt selbst leidenschaftlich über mögliche Wege gestritten, wobei sich oft Gegner und Freunde Pekings unversöhnlich gegenüberstehen und eine tiefe Spaltung sichtbar wird.
 

Forderung nach „patriotischer“ Justiz

Unter Partei- und Staatschef Xi Jinping tritt China inzwischen international selbstbewusster und gegenüber seinen Nachbarn in Ost- und Südostasien, mit denen es um mehrere Inselgruppen streitet, auch wesentlich aggressiver auf. Auch gegenüber Hongkong hat sich der Ton verschärft. Das zeigt das am 10. Juni vom Staatsrat (Kabinett) veröffentlichte „Weißbuch“, das die jüngsten Massenproteste anfachte. Das Papier stellt die zugesagte Autonomie der Stadt nicht als rechtsverbindlich dar, sondern als (jederzeit zu beendende) Gnade der chinesischen Regierung. Eine der größten Hongkonger Errungenschaften, die Unabhängigkeit der Justiz, wird mit dem Hinweis demontiert, dass künftig auch Juristen „patriotisch“ sein müssen. Das ist ein parteichinesischer Ausdruck dafür, dass Hongkongs Richter künftig Vorgaben aus Peking folgen sollen – ein Frontalangriff auf den Rechtsstaat.


Pekings autoritärer „chinesischer Traum“ von nationaler Größe und Renaissance ist nicht kompatibel mit dem Traum vieler Hongkonger von weiterer Demokratisierung ihrer Stadt.


Im Lichte dieses Pekinger Papiers, des ersten chinesischen Weißbuchs zu Hongkong überhaupt, erscheinen die früheren Autonomie- und Demokratieversprechen als taktische Winkelzüge zur Beschwichtigung der Stadt und internationalen Gemeinschaft und nicht als vorsichtig-smarte Schritte im eigenen Interesse einer sich weiter reformierenden Volksrepublik. Das Papier gleicht – jenseits kosmetischer Zugeständnisse – einer Absage an demokratische Reformen in Hongkong wie auch innerhalb der Volksrepublik. Zugleich zeigt es Hongkongs Bevölkerung, dass sie froh sein kann, wenn bisherige Errungenschaften überhaupt weiter bestehen können.
Pekings autoritärer „chinesischer Traum“ von nationaler Größe und Renaissance ist nicht kompatibel mit dem Traum vieler Hongkonger von weiterer Demokratisierung ihrer Stadt. Beharrt Peking auf seiner Politik, bedeutet das nicht nur unruhige Zeiten für Hongkong, sondern auch ein Glaubwürdigkeits- und Imageproblem für China. Pure Machtpolitik hätte dann die weise und vorausschauende Politik Deng Xiaopings gegenüber Hongkong, Macao und Taiwan nicht nur ersetzt, sondern auch als rein taktisches Manöver entlarvt.