Parlamentssitzung im Unterhaus von Myanmar (Birma): In der Hauptstadt Naypyidaw ergreift eine Abgeordnete aus dem Mon-Staat südlich von Yangon mutig das Wort. Sie kritisiert, dass in ihrem Wahlkreis das Militär Menschen von ihrem Land vertrieben habe. Bis heute hätten sie keine Gerechtigkeit erfahren. Solche Kritik am mächtigen Militär war bis vor kurzem tabu. Schon das Parlament als solches ist neu. Es wurde erstmals im November 2010 gewählt, begleitet vom Boykott der Nationalen Liga für Demokratie (NLD) von Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi. In der Versammlung stellt das Militär ein Viertel der Abgeordneten direkt, die meisten anderen sind militärfreundlich.

Nicht zuletzt wegen der politischen und wirtschaftlichen Öffnung sowie des Rohstoffreichtums nimmt die Konkurrenz um Land zu.

Der Abgeordneten erwidert ein Brigadegeneral aus der uniformierten Fraktion. Die Aneignung des Landes durch das Militär sei rechtens gewesen, erklärt er, das Militär habe streng nach Gesetz gehandelt. Das sieht in der Tat nur private Nutzungs-, aber keine Eigentumsrechte jenseits des Staates vor, was Vertreibungen erleichtert. „Landgrabbing“ ist heute in Myanmar ein großes Problem. Nicht zuletzt wegen der politischen und wirtschaftlichen Öffnung sowie des Rohstoffreichtums nimmt die Konkurrenz um Land zu. Betroffene haben wenig Möglichkeiten, ihre Vertreibung zu verhindern.

Der Fortschritt besteht vor allem darin, dass solche Fälle jetzt erstmals von Abgeordneten, die ihren Job als Volksvertreter ernst nehmen, thematisiert werden können. Doch ohne Folgen: Der Kritik der Abgeordneten und der Entgegnung des Generals folgt keine Debatte, kein Nachhaken, keine Abstimmung.

Einige hundert Kilometer südlich ist in der Metropole Yangon (Rangun) eine weitere Neuerung zu bestaunen. Hier campieren fünfzig ältere Menschen seit März schräg gegenüber dem Rathaus auf dem Bürgersteig. Sie protestieren dagegen, dass 1991 das Militär ihr Land weggenommen habe. „Wir wollen unser Land zurück oder eine angemessene Entschädigung“, sagt eine 76-Jährige mit rotem Proteststirnband.

 

Ungläubige Blicke auf Demonstranten

Zuerst zelteten sie direkt vor dem Rathaus. Von dort wurden sie eines Nachts vertrieben, danach wurde der Fußweg, auf dem sie campiert hatten, „umgebaut“. 150 Meter entfernt duldet man sie seitdem. Jeden Nachmittag ziehen sie in einem Protestzug um die auf einer Verkehrsinsel gelegene Sule-Pagode, einem Wahrzeichen im Zentrum. Uniformierte Polizei ist nicht zu sehen, Passanten schauen trotzdem ungläubig.

„Wir sind schon zum Haus von Aung San Suu Kyi gezogen“, sagt die 76-jährige Demonstrantin. Doch die habe sie nicht empfangen. Auch seien sie bereits beim Parlament gewesen. Vergeblich. Und eine Klage vor Gericht? „Das ist doch aussichtslos, das Militär ist viel zu mächtig.“

Die neue Demonstrationsfreiheit wie die Redefreiheit im neuen Parlament sind große Fortschritte. Doch gibt es auch bedenkliche Rückschritte. So verurteilten im August zwei Yangoner Bezirksgerichte den Führer des Protestcamps beim Rathaus zu je vier Monaten Haft – wegen Verstoßes gegen das Versammlungsverbot. Er hatte bei den Prozessen, die eine Zeitung als Schnellgerichte beschrieb, nicht einmal einen Anwalt.

 

Gefühl der Ohnmacht

Im September wurde der Führer einer Oppositionsgruppe, der wiederholt ohne Genehmigung in mehreren Stadtteilen Yangons gegen Landvertreibungen protestiert hatte, laut einem Medienbericht zu einer kumulierten Haftstrafe von elf Jahren und vier Monaten verurteilt. Amnesty International sprach von einer „Farce“. Der Aktivist hatte schon unter der Junta im Gefängnis gesessen. 2011 wurde er begnadigt, 2013 wegen eines weiteren Protests erneut verurteilt, dann wieder amnestiert. Ein Fall absurder Willkür.

Die vielen Landkonflikte sind symptomatisch für die Übergangssituation in Myanmar. Die Bevölkerung und ihre Vertreter können die Probleme inzwischen ansprechen, oft auch protestieren, die liberalisierten Medien können dann darüber berichten. Doch an den Strukturen hat sich grundsätzlich noch nichts geändert. Die Menschen fühlen sich weiter ohnmächtig, weil sie weder vor Gericht eine Chance haben noch Gesetze entscheidend mitprägen können.

Myanmar durchlebt eine Transformation, bei der die Machtfrage letztlich noch nicht beantwortet ist. Noch hat die herrschende Gruppe aus früheren und amtierenden Militärs getreu ihrem Ziel einer „kontrollierten Demokratie“ alles unter Kontrolle. Die Reformen gehen nur genau so weit, wie sie es für richtig halten. Die Dynamik des Reformprozesses ist bisher nicht so groß, dass die Herrschenden nachgeben müssten. Sollte die Kontrolle doch noch verloren gehen, erlaubt die Verfassung die Rückkehr zur Diktatur.

Dabei gibt es zwischen den führenden Köpfen des Regimes manche Differenzen. Auch scheint der frühere Juntachef Than Shwe noch Einfluss zu haben, doch zugleich haben die „alten Spezis“ des Regimes längst ihre Fühler zur Opposition ausgestreckt. Doch diese bleibt erschreckend schwach, schlecht organisiert und wenig vertrauenswürdig.

 

Aung San Suu Kyi bietet keine Lösungen an

Oppositionsführerin Aung San Suu Kyi scheint vor allem damit beschäftigt, Präsidentin zu werden. Sie genießt hohen Respekt in weiten Teilen der Bevölkerung und hat das Amt nach Meinung vieler verdient. Das heißt aber nicht, dass die Ikone des antidiktatorischen Widerstands damit auch automatisch eine gute Präsidentin wäre. Sie verspricht bisher nur ein Allheilmittel namens Demokratie. Lösungen für die alltäglichen Probleme der Menschen wie etwa die vielen Landkonflikte hat sie nicht, Erfahrung im Regieren natürlich auch nicht. Ihre NLD ist überaltert und schwach, was nach Jahren der Repression auch nicht verwundert.

Aung San Suu Kyi kann bei den nächsten Wahlen 2015 nicht Präsidentin werden. Artikel 59 f der Verfassung verbietet allen die Kandidatur, deren Ehepartner oder Kinder ausländische Staatsbürger sind. Ihre beiden Söhne sind Briten. Zwar scheiterte an diesem Paragraphen schon die Kandidatur eines Generals. Doch natürlich zielt dieser Passus auf die „Lady“, wie Aung San Suu Kyi im Volksmund genannt wird.

Da das Verfassungsreformkomitee des Parlaments bereits für die Beibehaltung von Paragraph 59 f gestimmt hat, wird sich Aung San Suu Kyi 2015 wohl mit einem anderen Posten zufrieden geben müssen. Vielleicht kann sie Parlamentspräsidentin werden unter einem Staatspräsidenten aus der Riege der mächtigen Ex-Militärs. Sie wäre zu einem Deal mit diesen gezwungen. Etwas derartiges hat sie bereits versucht  einzufädeln, als sie vorschlug, Staatspräsident Thein Sein, Parlamentspräsident Shwe Mann und den Chef der Streitkräfte zu einem Vierergipfel zu treffen. Doch der kam nicht zustande; mutmaßlich, weil Ex-Juntachef Than Shwe dagegen war.

Das Vierertreffen stieß auch auf Vorbehalte der ethnischen Minderheiten und ihrer bewaffneten Gruppen. Die fühlten sich ausgegrenzt. Sie verhandeln mit Regierung und Militär über ein Friedensabkommen und trauen der jetzigen Regierung mehr als Aung San Suu Kyi. Diese hat so wenig eine Politik zu den Minderheiten wie zu den Landkonflikten zu bieten. Schon in den letzten zwei Jahrzehnten hatte die Lady kein wirkliches Interesse an einem Bündnis mit den Minderheiten gezeigt. Diese nehmen sie als Vertreterin des birmanischen Nationalismus wahr. Schon 1990 hatte sie die Minderheiten verärgert, als die NLD ohne jede Absprache in deren Regionen direkt gegen deren Parteien antrat.

 

Streit um Wahlrechtsreform

Einig sind sich Minderheiten und Aung San Suu Kyis NLD bei der Ablehnung des Verhältniswahlrechts. Das wollen die jetzige Regierung und die frühere Junta- und heutige Regierungspartei USDP einführen mit dem Ziel einer Schwächung der NLD. Das Verhältniswahlrecht wäre zwar eigentlich demokratischer als das bisherige Mehrheitswahlrecht, weil dann kleinere Parteien ein proportionales Gewicht hätten. Doch da es die Zahl der Mandate der NLD nach deren mutmaßlichem Sieg verringern würde, läuft die NLD dagegen Sturm. Auch die ethnischen Gruppen fürchten Verluste in den von ihnen kontrollierten Gebieten, wo sie bisher meist alle Sitze bekommen.

 

Ringen um die künftige Rolle des Militärs

Entscheidender als die Abschaffung des Verfassungsparagrafen 59 f oder des Verhältniswahlrechts ist die künftige Rolle des Militärs in der Politik. Bisher sichert Verfassungsartikel 436 den Uniformierten ein Viertel der Parlamentssitze und damit eine Sperrminorität gegen Verfassungsänderungen. Der Artikel ist äußerst umstritten, seine Reform ein Anliegen aller Demokraten. Präsident Thein Sein erklärte kürzlich in einem Interview, der Anteil des Militärs würde sukzessive reduziert – aber nur, wenn die Transformation in Sinne der Generäle verlaufe.

Aung San Suu Kyi könnte auch versuchen, einen Vertrauten zum Präsidenten zu machen, der für sie die Stellung hält, bis für sie die rechtlichen Hindernisse beseitigt sind. Eine solche Person ist jedoch nicht zu sehen, wie es ohnehin das Problem der NLD ist, dass die Lady keinen anerkannten Stellvertreter hat. Nach ihr kommt lange Zeit niemand. 

Die westlichen Staaten, allen voran die USA, buhlen um strategischen Einfluss in Myanmar mit dem Ziel, Chinas Hegemonie dort zu schwächen.

Aung San Suu Kyis heutige Schwäche ergibt sich auch daraus, dass die westlichen Staaten nicht mit neuen Sanktionen drohen wollen, sollte die Lady weiter so ausgebremst werden. Die westlichen Staaten, allen voran die USA, buhlen um strategischen Einfluss in Myanmar mit dem Ziel, Chinas Hegemonie dort zu schwächen. Die unbeliebte und kaum effektive Sanktionspolitik zugunsten der demokratischen Opposition war gestern. Heute drängen westliche Staaten Aung San Suu Kyi stärker zu Kompromissen mit den jetzigen Machthabern. „Haben die USA Suu Kyi vergessen?“, fragte kürzlich die frühere Exilzeitschrift The Irrawaddy.

US-Präsident Barack Obama nannte die Transformation Myanmars gar einen Erfolg seiner Außenpolitik. Da er kaum außenpolitische Erfolge vorzuweisen hat, ist schwer vorstellbar, dass er gegenüber Myanmar zu einem neuen Kurswechsel bereit ist. Deshalb sind heute in Myanmar die Lady wie die westlichen Staaten in einer schwächeren Position als früher. Es gibt deshalb für die herrschenden Militärs und Ex-Militärs eigentlich keinen Grund, die Kontrolle aus der Hand zu geben. Die Landkonflikte und Vertreibungen dürften weitergehen. Abgesehen davon haben in solchen Fällen an einer wirklichen Mitsprache der lokalen Bevölkerung ausländische Investoren und damit ihre Repräsentanten in den Botschaften ohnehin kein Interesse.