Was ist verwerflicher? Ein Premierminister, der mutmaßliche Korruptionsgelder in Höhe von umgerechnet 630 Millionen Euro auf seinem Privatkonto hat? Ein Regierungschef, der sich diese Summe aus einem hoch verschuldeten staatlichen Investitionsfonds auf sein Konto überweisen lässt? Oder ein Premier, der diese undeklarierte Summe von ungenannten ausländischen Gönnern vor einer wichtigen Wahl überwiesen bekommt?

Für Malaysias Regierung und der ihr unterstehenden Antikorruptionsbehörde ist der Fall klar: Die 630 Millionen stammten von Unterstützern Najib Razaks aus dem Nahen Osten und seien damit kein Problem. Der Premier habe die Gelder für seine Partei nur treuhänderisch verwaltet.

Diese Version gilt als unverfänglichste Variante und damit als offizieller Beweis, dass Najib weder korrupt ist noch staatliche Gelder veruntreut hat. Denn ursprünglich war vermutet worden, die Gelder kämen vom Staatsfonds „1 Malaysia Development Berhad“ (1MDB). Diesen hatte Najib 2009 eingerichtet, noch heute führt er dessen Aufsichtsrat. Doch statt damit wie angekündigt die malaysische Wirtschaft anzukurbeln, steht der Fonds nach fragwürdigen Deals mit inzwischen 11,1 Milliarden US-Dollar in den roten Zahlen.

Najib stand bereits zu seiner Zeit als Verteidigungsminister im Rahmen eines Rüstungsdeals unter Korruptionsverdacht, weshalb es jetzt besonders wichtig war, ihm eine reine Weste zu attestieren. Deshalb gelten die angeblich nahöstlichen Spender jetzt für die Regierung als Beweis, dass der Premier zu Unrecht kritisiert wurde. Vielmehr hätten sich seine Gegner gegen ihn verschworen und wollten nur Schlechtes für Malaysia. Nach malaysischen Gesetzen habe der Premier mit der Annahme der Spenden nichts Verbotenes getan.

Dabei sind weder Najibs angebliche ausländische Unterstützer noch ihre Motive bisher bekannt. Bisher wussten selbst hohe Mandatsträger von Najibs Partei nicht, dass er hundertfache Millionendollarbeträge treuhänderisch für sie verwaltet. Auch ihnen gegenüber ist Najib nicht bereit, die angeblichen Spender zu benennen.

Ihm die ungenannten ausländischen Finanziers offiziell durchgehen zu lassen, ist umso erstaunlicher in einem Land, das sonst sehr starke antikoloniale Reflexe kennt. Stets warnen Regierungspolitiker nicht nur vor ausländischem Einfluss, sondern machen auch immer wieder mit dem Verweis auf angebliche ausländische Verschwörungen Politik.

 

Abenteuerliche Begründungen

Najib verlangte jetzt auch selbst, dass sich „Weiße“ aus Malaysias Politik heraushalten. Damit spielte er auf die britische Journalistin Clare Rewcastle-Brown an, auf deren Recherchen im von ihr publizierten Webportal Sarawak Report die Enthüllungen des Skandals Anfang Juli zurückgingen.

Gefolgsleute Najibs lieferten derweil abenteuerliche Begründungen für seine Annahme ausländischer Gelder. So sagte einer, sie seien nötig gewesen, um vor den letzten Wahlen eine „jüdische Bedrohung“ abzuwehren. Ein anderer deklarierte die Gelder zur Dankesgabe für Malaysias Rolle in der Bekämpfung des Terrorismus.

Das multikulturelle Malaysia mit seinen heute 30 Millionen Einwohnern galt lange als Erfolgsmodell für wirtschaftliche Entwicklung und die Vereinbarkeit eines gemäßigten Islam mit einer demokratischen Ordnung. Najib selbst bemühte sich zu Beginn seiner Amtszeit 2009 sogar um das Image eines Reformers.

Doch wäre Malaysia eine funktionierende Demokratie, hätte Najib längst zurücktreten müssen. Vor allem hätte er offenlegen müssen, von wem das undeklarierte Geld kam – erst dann ließe sich beurteilen, was die Intention hinter dieser Zahlung war. Wohl niemand dürfte eine solche Summe „spenden“, ohne sich davon eigene Vorteile zu versprechen. In einer funktionierenden Demokratie würde es entsprechende Beschränkungen und Transparenzregeln für Partei- und Wahlkampfspenden geben.

 

Keine unabhängigen staatlichen Institutionen

In einer funktionierenden Demokratie hätte das Parlament nach Bekanntwerden des Falles über einen Misstrauensantrag der Opposition entschieden oder wenigstens einen Untersuchungsausschuss eingerichtet, würden Staatsanwälte unabhängig ermitteln und Journalisten weitere Details recherchieren. Sie würden dem Bedürfnis nach Transparenz zur Geltung verhelfen und so die staatlichen Gewalten ergänzen und zugleich kontrollieren.

Doch für Malaysia, das seit seiner Unabhängigkeit 1957 nur von der Partei United Malay National Organisation (UMNO) geführte Regierungen kennt, gilt dies nicht. Hier hat die oft arrogant und selbstherrlich auftretende UMNO inzwischen die staatlichen Institutionen weitgehend unter ihrer Kontrolle. Diese können damit nicht mehr unabhängig agieren. So wurde der ermittelnde Generalstaatsanwalt plötzlich aus gesundheitlichen Gründen in den Ruhestand versetzt. Mitglieder einer Untersuchungskommission wurden auf höhere Posten weggelobt. Zwei Medien, die sich in der Berichterstattung des Falles besonders engagierten, wurde die Lizenz entzogen.

Auf Clare Rewcastle-Brown vom Sarawak Report aus London, die den Skandal zusammen mit dem Wallstreet Journal aufgedeckt hatte, wurde ein Haftbefehl ausgestellt. Als Interpol sich weigerte, diesen anzuerkennen, erhielt die Britin in Malaysia Einreiseverbot. Und im Rahmen einer Kabinettsumbildung wurde auch der stellvertretende Premierminister geschasst. Er hatte Najib nahegelegt, noch ein paar Fragen zu beantworten. Dieser erklärte ungeniert, Loyalität sei für ihn am wichtigsten.

„Dies sind keine Handlungen einer Regierung, die die Korruption bekämpft“, kritisierte José Ugaz, der peruanische Vorsitzende von Transparency International Anfang September im malaysischen Putrajaya. Bei dem Kongress der Internationalen Antikorruptionsorganisation hatte Najib eigentlich eine Rede halten sollen, sagte aber aus Furcht vor Protesten ab. Ugaz forderte Najib unmissverständlich auf, die Herkunft der Gelder zu erklären, und verlangte eine unabhängige Untersuchung.

 

Gelb ist die Farbe des Protests

Mit großer Empörung hat Malaysias Zivilgesellschaft auf den Skandal reagiert. Am 29. und 30. August – und damit unmittelbar vor dem Nationalfeiertag – demonstrierten in Kuala Lumpur in einem 34-stündigen Protest-Marathon mehrere zehntausend Menschen. Ihre Zahl schwankt je nach Quelle – die Polizei spricht von 25.000, die Veranstalter von 200.000. Nicht nur die Proteste selbst wurden verboten, sondern auch gelbe T-shirts. Gelb ist die Farbe des Oppositionsbündnisses „Bersih“ (Sauber), dessen vierte Großdemo („Bersih 4.0“) dies seit 2007 war.

„Wir wollen nicht nur den Rücktritt des Premierministers, sondern eine Reform der Institutionen“, erklärte Bersih-Sprecherin Maria Chin Abdullah. Malaysias „Unabhängigkeit ist bedeutungslos, wenn wir einen Führer haben, der das Tragen von Bersih-T-Shirts für illegal erklärt“. Trotz des Verbots tauchten die Demonstranten das Zentrum der Hauptstadt in Gelb. Der Protest blieb friedlich, was bei früheren Großdemonstrationen der Opposition nicht selbstverständlich war. Denn oft hatte die Polizei versucht, die illegalisierten Proteste gewaltsam aufzulösen und Teilnehmer festzunehmen. Doch jetzt ließ die Polizei die Demonstranten gewähren, umgekehrt blieben diese friedlich und diszipliniert.

 

Ex-Premier Mahathir mischt sich ein

Prominentester und zugleich einer der fragwürdigsten Teilnehmer des Massenprotestes war Ex-Premierminister Mahathir Mohammad. Er war 22 Jahre lang Premier gewesen und gilt als der autoritäre Führer von Malaysias wirtschaftlichem Aufstieg und seiner Modernisierung. Der 90-Jährige hatte als einer der ersten Najibs Rücktritt gefordert und schaute zweimal mit seiner Frau bei der Demonstration vorbei. Dabei forderte er die Demonstranten zu einem Sturz mittels „People's Power“ auf.

Dieser Begriff, auch als „People Power“ bekannt, wurde im benachbarten Philippinen für die friedliche städtische Massenbewegung geprägt, die 1986 den langjährigen Diktator Ferdinand Marcos stürzte. Najibs unbeliebte Frau Rosmah Mansor, die als „First Lady of shopping“ für luxuriöse Einkaufstouren bekannt ist, wird längst mit Marcos' so ehrgeiziger wie Luxus-liebender Frau Imelda verglichen.

Mahathir hat seit seinem Rücktritt 2003 schon mehrfach versucht, Malaysias Politik durch Kritik an seinen Nachfolgern zu beeinflussen. Was ihn außer einem persönlichen Zerwürfnis mit Najib dazu trieb, sich diesem öffentlich frontal entgegenzustellen, ist nicht klar. Manche vermuten, er wolle seinen Sohn Mukhriz Mahathir, den gegenwärtigen Ministerpräsidenten des nordwestlichen Bundesstaates Kedah, zum Premierminister machen.

Mahathir hat Malaysias politisches System, das durch die uneingeschränkte Vorherrschaft der UMNO über staatliche Institutionen, den verbreiteten Nepotismus wie die Bevorzugung ethnischer Malaien gekennzeichnet ist, selbst entscheidend geprägt. Das Verbot oppositioneller Proteste, die Einschüchterung kritischer Medien und das Entlassen von Ministern, die sich eine eigene unabhängige Haltung zutrauen, waren auch Kennzeichen von Mahathirs autoritärem Führungsstil.

So feuerte er während der Asienkrise 1998 seinen Stellvertreter und Finanzminister Anwar Ibrahim und brachte ihn mittels einer fingierten Anklage wegen Sodomie für Jahre hinter Gitter. Anwar wurde nach seiner Freilassung 2007 Oppositionsführer. Nachdem er Najib politisch gefährlich wurde, musste Anwar nach einem erneut fingierten Sodomie-Verfahren im März 2015 für fünf weitere Jahre ins Gefängnis.

 

Gespaltene Opposition

Seitdem ist Malaysias Opposition nicht nur kopflos, sondern seit Juni auch wieder gespalten. Da zerbrach das breite Oppositionsbündnis aufgrund unüberbrückbarer Gegensätze zwischen malaiischen Islamisten und hauptsächlich chinesisch-stämmigen Liberalen. Dabei hatte das Bündnis bei den letzten Wahlen 2013 bereits mehr Stimmen bekommen als die von der UMNO geführte Nationale Front (Barisan National – BN) und nur aufgrund des Mehrheitswahlrechts weniger Parlamentssitze erhalten. Erst 2008 hatte die von UMNO geführte BN erstmals seit 1969 ihre Zweidrittelmehrheit eingebüßt.

Die Islamisten blieben jetzt dem Massenprotest fern, es dominierten also chinesisch- und indischstämmige Malaysier, der Anteil der ethnischen Malaien wurde auf nur 20 bis 30 Prozent geschätzt. Im Gegensatz dazu hatten bei früheren Großdemonstrationen die Malaien dominiert. Das lässt darauf schließen, dass Najib immer noch viele Malaien hinter sich hat, und diese zugleich Angst vor den Reformen haben, wie sie die liberale Opposition fordert. Viele Malaien fürchten, ihre bisher von der UMNO garantierten Privilegien in Form positiver Diskriminierung („affirmative action“) zu verlieren.

Malaysia steckt in seiner größten politischen Krise seit Jahren. Als Folge des Skandals hat der Kurs des malaysischen Ringgit stark nachgegeben, auch der Börsenkurs ist auf ein Mehrjahrestief gefallen. Doch solange Najib weiter die UMNO kontrolliert und diese die staatlichen Institutionen, ist sein Sturz unwahrscheinlich.

Die nächsten Wahlen stehen erst 2018 an. Nur wenn sich bis dahin die wirtschaftliche Lage weiter verschlechtern und in Teilen der UMNO die Einsicht durchsetzen sollte, dass die Partei unter Najibs fortgesetzter Führung erstmals die Macht verlieren könnte, ist eine innerparteiliche Revolte oder ein Misstrauensantrag im Parlament nicht auszuschließen.

 

Najibs Anhänger mobilisieren für den 10. Oktober

Doch zunächst rufen Najibs Anhänger zu Kundgebungen zu seiner Unterstützung auf. Eine erste soll bereits am 16. September stattfinden, eine Großdemonstration ist für den 10. Oktober geplant. Die Teilnehmerzahlen und vor allem die Art, wie sie erreicht wird, dürfte ein wichtiger Indikator für Najibs wirklichen Rückhalt sein.

Es ist zunächst mit einem verschärften und hässlicher werdenden Machtkampf und wachsenden Wirtschaftsproblemen zu rechnen. Ethnische Spannungen dürften zunehmen und Malaysias Ethnien könnten gegeneinander ausgespielt werden. Es könnte zu politischer Gewalt und vermehrter staatlicher Repression kommen.

Nach 58 Jahren UMNO-Herrschaft ist ein Machtwechsel überfällig. Er wäre für Malaysias Demokratie ein Fortschritt, wenn auch kein Allheilmittel. Das jahrzehntelange Machtmonopol der UMNO hat auch zu Defiziten und Spaltungen der Opposition beigetragen. Doch während diese heute nur bedingt regierungsfähig ist, bietet eine fortgesetzte Regierung Najibs wie der UMNO keine demokratischen Entwicklungsperspektiven. Kommen Najib und die UMNO ungeschoren davon, dürften ihr Unrechtsbewusstsein weiter ab- und ihre Arroganz zunehmen. Malaysia hat Besseres verdient.