Das für viele unerwartete Votum der Briten für einen Brexit war für die krisengebeutelte Europäische Union sicher der schwerste Schock im Jahr 2016. Er traf sie in einem Moment starker innen- und sicherheitspolitischer Verunsicherung. Die offiziellen Austrittsverhandlungen haben noch nicht begonnen, aber in den sieben Monaten seit der Entscheidung ist deutlich geworden, dass der Prozess äußerst kompliziert und in seiner Länge kaum vorhersehbar sein wird. Klar ist aber jetzt schon, dass die Trennung in den verschiedenen Politikfeldern unterschiedlich schwierig werden wird.

Was Europas Sicherheit und Verteidigung angeht, verlässt mit Großbritannien ein sicherheits- und verteidigungspolitischer Hauptakteur und Blockierer die Union.

Was Europas Sicherheit und Verteidigung angeht, verlässt mit Großbritannien ein sicherheits- und verteidigungspolitischer Hauptakteur und Blockierer die Union. Die EU verliert knapp ein Viertel ihrer gesamten Verteidigungsausgaben, ein Mitglied mit ständigem Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, eine Atommacht und das neben Frankreich professionellste, am besten ausgerüstete und einsatzerprobteste Militär.

Dabei waren die Briten gemeinsam mit den Franzosen 1998 die Wegbereiter der „Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ (GSVP). Geprägt von den Erfahrungen der Balkan-Kriege, die die strategische Abhängigkeit von den USA einmal mehr deutlich gemacht hatten, unternahmen die Regierungen von Tony Blair und Jacques Chirac im Abkommen von St. Malo einen Anlauf zur Schaffung autonomer europäischer militärischer Fähigkeiten. Auf britischer Seite erlahmte der anfängliche Schwung jedoch schnell. Dies lag vor allem an einem Zerwürfnis zwischen Großbritannien auf der einen und Deutschland und Frankreich auf der anderen Seite. Grund war die Beteiligung an der amerikanischen Intervention im Irak im Jahr 2003 und die Reaktion auf die seinerzeit neu formulierte amerikanische Sicherheitsstrategie (National Security Strategy – NSS). Europa zeigte sich sowohl im Hinblick auf die NSS als auch auf die im Zuge des Irak-Krieges gebildete „Koalition der Willingen“ tief gespalten und nicht gemeinsam handlungsfähig. Spätestens da wandten sich die Briten von der GSVP ab. Für sie wurde die NATO wieder zum maßgeblichen multilateralen Verteidigungsbündnis.

Dieser Rückzug hat Großbritannien aber nicht davon abgehalten, in den Lancaster-House-Verträgen von 2010 auf bilateraler Ebene eine verstärkte militärische Zusammenarbeit mit Frankreich zu suchen. Die Initiative entwickelt allerdings bis heute nicht die erwartete Dynamik und blieb in der politischen Praxis weitgehend wirkungslos. Die Hauptmotivation war seinerzeit bereits lediglich, den verteidigungspolitischen Status quo zu halten, nicht mehr effektivere europäische Verteidigungsfähigkeiten zu schaffen. Es ging vielmehr darum, die nationalen französischen und britischen Ambitionen als globale sicherheitspolitische Akteure glaubwürdig zu erhalten.

In einem sich rasch wandelnden Umfeld, in dem andere Akteure wie China und Russland seit geraumer Zeit wieder aufrüsten und die USA seit langem ein stärkeres verteidigungspolitisches Engagement der Europäer fordern, mochte die franko-britische Kooperation pragmatisch geboten erscheinen. Sie war aber politisch ein Eingeständnis der Schwäche zweier ehemaliger europäischer Großmächte, die als heutige Mittelmächte allein nicht mehr in der Lage sind, den sicherheitspolitischen Anforderungen an einen „global player“ in einem immer komplexeren und kostspieligeren Wettbewerb zu entsprechen. Hier wäre eigentlich der Platz Europas in Ergänzung zur NATO. Die EU hat diesen aber bisher weder politisch noch militärisch einnehmen wollen und können. So bliebt die GSVP das bis dato schwächste Glied in der Kette des europäischen Integrationsprojekts.

Bei rationalen und interessengeleiteten Verhandlungen könnte es im sicherheitspolitischen Bereich sogar eine „Brexit-Dividende“ für die Union geben.

Genau dieser Tatbestand könnte der EU im Hinblick auf den angekündigten Austritt der Briten aber zum Vorteil gereichen. Bei rationalen und interessengeleiteten Verhandlungen könnte es im sicherheitspolitischen Bereich sogar eine „Brexit-Dividende“ für die Union geben. Denn anders als beim Binnenmarkt oder der vergemeinschafteten Handelspolitik ist es in der kurzen Phase der Existenz der GSVP bislang nicht zur Schaffung komplexer Netze verflochtener nationaler und supranationaler Strukturen gekommen. Das Beziehungsgeflecht zwischen der EU und Großbritannien sollte sich im Falle eines Austritts der Briten einigermaßen einfach auflösen lassen.

Hinzu kommt, dass sich London an den frühen Auslandseinsätzen im Rahmen der GSVP nur in geringem Umfang beteiligt hat. Seit ihrer Rückbesinnung auf die NATO (ab dem Jahr 2003) haben die Briten vielmehr Ansätze zur Weiterentwicklung der sicherheitspolitischen Kooperation in der EU weitgehend blockiert, vor allem wenn eine Duplizierung von NATO-Strukturen befürchtet wurde. Dies betraf wichtige europäische Vorhaben, wie die Einrichtung eines ständigen EU-Hauptquartiers zur Planung und Steuerung von zivilen und militärischen Auslandsmissionen oder die Funktionsweise der Europäischen Verteidigungsagentur (EVA). Diese sollte ursprünglich eine wichtige Rolle bei der Verteidigungsforschung und der Schaffung einer effizienten und konkurrenzfähigen europäischen Rüstungsindustrie spielen, führt aber aufgrund der britischen Blockadehaltung bis heute ein Schattendasein.

Betrachtet man das Ausstiegsszenario vor dem Hintergrund der skizzierten Entwicklung, wird der Abschied der Briten aus der GSVP für die Union überschaubare und neben negativen durchaus auch positive Auswirkungen haben. Es kann hier sogar so etwas wie eine Brexit-Dividende für die EU herausspringen. Dies gilt umso mehr, als man die Fähigkeiten des britischen Militärs auch nach dem Brexit kaum verlieren wird. Im Hinblick auf die NATO, territoriale Verteidigung und die Beistandsklausel (Artikel 5) des NATO-Vertrags sind die Briten weiter in die europäische und transatlantische Sicherheitsarchitektur eingebunden. Und im Falle zukünftiger Auslandmissionen der EU könnte Großbritannien, je nach eigener Interessenlage, als „associated partner“ jederzeit wieder mitwirken – wie andere Nicht-EU-Staaten dies auch tun. Über die bilaterale Kooperation mit Frankreich im Rahmen der Lancaster-House-Verträge bleiben die Briten dem wichtigsten sicherheitspolitischen Akteur der Union verbunden. Und paradoxerweise könnte gerade der Austritt aus der Union der Anstoß dafür sein, diese bisher hinter den Erwartungen zurückgebliebene Zusammenarbeit voranzubringen.

Paradoxerweise könnte gerade der Austritt aus der Union der Anstoß dafür sein, diese bisher hinter den Erwartungen zurückgebliebene Zusammenarbeit voranzubringen.

Das größte Problem für die Briten bei einem Brexit liegt aber nicht auf dem Feld militärischer Fähigkeiten, sondern bei der Frage der zukünftigen strategischen Reichweite britischer Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Darauf weisen Experten wie Sven Biscop (Egmont-Institut) oder Ian Anthony (SIPRI) hin.

“Leaving the EU would not affect the performance of British arms. But it would have an enormous and immediate impact on Britain’s ability to shape the strategies that will in ever more instances shape the context in which those arms will be used, be it under NATO or EU or UN command or in an ad hoc coalition“. (Biscop)

“The range of inter-related issues now bundled under the heading of defense and security has become so broad that dealing with them in any single institutional framework, whether it be EU or NATO, is impossible”. (Anthony)

Allein werden die Briten zu einem deutlich schwächeren diplomatischen Spieler im globalen Maßstab und könnten auch ihrem Selbstbild eines strategischen Akteurs mit globaler Reichweite kaum mehr entsprechen. In Zeiten, in denen die Grenzen zwischen innerer und äußerer Sicherheit sich auflösen, der Kampf gegen den Terrorismus nicht nur innerhalb der nationalen Grenzen geführt werden kann, wird die strategische Abstimmung mit anderen Akteuren zum Imperativ. Im britischen Fall wird diese Abstimmung immer zuerst mit Europa erfolgen müssen.

Für die EU bleibt die Aufgabe, aus der Not eine Tugend zu machen. In der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bietet der Ausstieg die Chance, lange anstehende und durch die britische Blockadehaltung verhinderte Schritte der Weiterentwicklung entschlossen zu tun. Die Grundlagen dafür wurden in der zweiten Hälfte des Jahres 2016 mit der „Globale Strategie für die Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union“ und ihren <link rubriken aussen-und-sicherheitspolitik artikel selbstverteidiger-1716>Umsetzungsvorschlägen bereits gelegt.

Ob die Befürworter des Brexit am Ende „ihr Land zurückbekommen“, wenn sich das Vereinigte Königreich stärker in die sicherheitspolitische Abhängigkeit eines von Donald Trump regierten Amerikas begibt, anstatt sich entschlossen für eine Fortentwicklung der europäischen Sicherheitspolitik in Ergänzung zur NATO einzusetzen, werden wir erleben.

In Kürze erscheint zu diesem Thema der Sammelband Strategische Autonomie und die Verteidigung Europas.