Auf den ersten Blick mag der Islamische Staat (IS) als eine Horde religiöser Fanatiker erscheinen, die wild entschlossen jahrtausendalte Ziele verfolgen und sich bedingungslos der Rolle als Vorkämpfer für ein neues Kalifat verschrieben haben. Die Wahrheit ist jedoch weit profaner. Der Islamische Staat ist eine kalt berechnende Organisation, die sich den Zerfall von Staaten und sektiererische Spannungen zunutze macht. Ihre Absicht ist, sich in mehrheitlich von Sunniten bewohnten Gebieten des Iraks und Syriens „einzugraben“, um dort ein Mini-Reich zu gründen. Diese begrenzten Ziele machen den IS jedoch keineswegs weniger gefährlich – ganz im Gegenteil. Um gegen die IS-Krise vorgehen zu können, muss man drei Dynamiken verstehen.
Erstens, dass der Wahnsinn des IS Methode hat und dass hinter seiner Strategie ein Bündnis aus Pragmatikern steckt – Jihadisten und säkulare Baathisten (die bei der strategischen Planung, militärischen Operationen, der Nachrichtenübermittlung und dem Institutionsaufbau eine maßgebliche Rolle spielen). Schenkt man dem Mythos vom IS als homogener jihadistischer Gruppierung keinen Glauben mehr, wird die „Methode“ hinter dem Wahnsinn seiner bewusst brutalen Strategie ersichtlicher. Dieser Barbarismus folgt einer einfachen militärischen Logik: Der IS benutzt den Angstfaktor zur Erhöhung seiner Wirkungsmacht, um Feinde und unzufriedene Splittergruppen in den von ihm kontrollierten Gebieten abzuschrecken und zur Unterwerfung zu zwingen. Zudem operiert er auf einem weltweit hart umkämpften Markt für Gotteskrieger. Seine Gewaltakte sind also auch als grausame Werbespots einer andauernden und durchgeplanten Werbekampagne anzusehen, mit der er sich einen größeren Marktanteil sichern will.
Schenkt man dem Mythos vom IS als homogener jihadistischer Gruppierung keinen Glauben mehr, wird die „Methode“ hinter dem Wahnsinn seiner bewusst brutalen Strategie ersichtlicher.
Zweitens hat keiner der IS-Gegner den Willen oder die Fähigkeit, die Terrorgruppe direkt anzugreifen. Voraussichtlich werden weder die Vereinigten Staaten noch ihre westlichen Bündnispartner Bodentruppen nach Syrien oder in den Irak schicken. Die irakische Regierung muss erst ihr Ansehen wiederherstellen, das sie in Mossul eingebüßt hat. Zudem stärkt sie mit ihrer großen Abhängigkeit von schiitischen Milizen und der Unterstützung aus dem Iran ungewollt den IS, weil dadurch die Konflikte zwischen Sunniten und Schiiten weiter verschärft werden, die ja den Nährboden für die Organisation darstellen. Die türkische Regierung weigert sich kategorisch, sich an Operationen gegen den IS zu beteiligen, solange der Westen nicht verspricht, im Gegenzug das Assad-Regime zu stürzen. Assad seinerseits ist nicht bereit, seine Streitkräfte und Aufmerksamkeit auf den IS zu konzentrieren, wenn der Westen sich nicht zu einer Vereinbarung verpflichtet, die sein Regime intakt lässt und die Freie Syrische Armee auflöst.
Am prädestiniertesten für den Kampf gegen die IS-Milizen sind die Kurden mit ihren militärischen Erfahrungen und Fähigkeiten in der territorialen Verteidigung. Ihre strategischen Prioritäten sind darauf ausgerichtet, das zu schützen, was sie als ihr Heimatland ansehen. Und nicht zuletzt wollen sie als fähiges und rechtmäßiges politisches Gemeinwesen anerkannt werden. Selbst wenn der Iran sich für eine direktere Einmischung in den Konflikt entscheiden und damit dazu beitragen würde, den IS zu zerschlagen, könnte dieser „Sieg“ die Bühne bereiten für einen post-IS sektiererischen Feuersturm. Dieser wiederum könnte in einen transnationalen Krieg mit vielen Schauplätzen münden, sozusagen in einen 30-jährigen Krieg für den Nahen und Mittleren Osten.
Drittens geht es beim IS tatsächlich vor allem um die Bildung eines Staates. Genau wie die meisten Protostaaten in der Geschichte agiert der IS wie ein „sesshafter Räuber“, der durch Erpressung, Entführungen und Schmuggel zu Geld kommt, während er gleichzeitig die Rohstoffquellen unter seine Kontrolle bringt. Im Gegenzug sorgt der IS für ein gewisses Maß an Sicherheit und „Schutz“, aber auch für öffentliche Güter, die von subventioniertem Brot bis hin zu kostenloser Bildung und Gesundheitsversorgung reichen.
Der IS folgt den Schlüsselprinzipien imperialer Herrschaftsstrukturen.
Solange andere politischen Akteure in der Region keine vergleichbaren Leistungen bieten, kann der IS ohne große Gegenwehr über diese Gebiete herrschen. Obwohl er also den meisten Protostaaten der Geschichte ähnelt, unterscheidet er sich doch in seinem territorialen Ansatz grundlegend von den Nationalstaaten, die den Kern unseres heutigen internationalen Systems bilden. Bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass der IS den Schlüsselprinzipien imperialer Herrschaftsstrukturen folgt: Statt Standardisierung, mehrschichtigem Verwaltungssystem und Aufgabendelegation an die Menschen vor Ort herrscht vor allem Pragmatismus vor. Der IS will keine „harten Grenzen“ schaffen oder eine „Einheitlichkeit in der Verwaltung“ auferlegen, um „homogene Räume“ zu schaffen. Seine Ideologie beruht nicht auf der Idee eines unteilbaren Heimatlandes, sondern eher auf territorialer Flexibilität. Diese Prinzipien haben es dem IS nicht nur ermöglicht, seinen Einflussbereich schnell zu vergrößern, sie erklären auch, warum er ohne großen Aufwand ein Gebiet mit sechs Millionen Menschen regieren kann. Aus diesem Verständnis heraus ist zu mutmaßen, dass der IS den Verlust bestimmter Landstriche wie Tikrit verkraften kann.
Für Sun Tsu, einem Militärstrategen im alten China, war es im Krieg von höchster Wichtigkeit, die Strategie des Gegners anzugreifen. Hier darf man sich nicht vertun. Der IS will sich auf Dauer etablieren. Langsam aber sicher stellt die Organisation eine „sektiererische Falle“ auf, um in den mehrheitlich von Sunniten bewohnten Gebieten im Irak und in Syrien ein kleines Imperium zu errichten. Um den IS zu besiegen, bedarf es einer langfristigen Marschroute, mit der die strategische Planung der Organisation untergraben und ihre Bemühungen der Staatsbildung vereitelt werden können. Schnelle operative Siege hätten nur eine weitere und langfristige Destabilisierung der Region zur Folge. Das Schlimmste, was der Westen tun könnte, ist an den Mythos zu glauben, die Organisation sei nur eine vorübergehende Erscheinung und ließe sich mit einem schnellen, entschlossenen und „leichten“ Sieg aus dem Weg räumen.
Dieser Beitrag stellt eine persönliche Meinungsäußerung des Autoren dar und repräsentiert nicht die Position des U.S. Naval War Colleges, des Departments of the Navy, des Departments of Defense oder der U.S. Regierung.
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