Das Ziel sozialdemokratischer Ostpolitik bleibt eine gesamteuropäische Friedensordnung unter Einschluss Russlands. Seit dem Ende des Ost-West-Konfliktes haben sich Sozialdemokraten dafür eingesetzt, dieses Ziel durch Angebote der Kooperation mit Russland voranzutreiben – über mehr als ein Jahrzehnt hinweg mit großem Erfolg.

Doch in den vergangenen Jahren haben sich in der russischen Politik negative Entwicklungen verstärkt. Die Annexion der Krim und die Konflikte in der Ost-Ukraine machen deshalb eine Neubewertung der russischen Politik erforderlich. Wenn Russland seine Haltung gegenüber dem Westen neu definiert, dann hat das Konsequenzen für unsere Politik. Deshalb stehen wir am Beginn einer neuen Phase der sozialdemokratischen Ostpolitik.

 

Traditionen der Ostpolitik

Spätestens mit dem Bau der Berliner Mauer war klar, dass der Westen unter Führung der USA bereit war, die Freiheit West-Europas, West-Deutschlands und West-Berlins zu verteidigen, aber nicht willens war, für die Freiheit Ost-Deutschlands und Ost-Europas größere politische oder militärische Risiken einzugehen. Vor diesem Hintergrund ging es für Sozialdemokraten darum, die Ausgangslage zu akzeptieren, um sie politisch zu überwinden. Das war der Beginn einer erfolgreichen Ostpolitik, die maßgeblich von Willy Brandt und Egon Bahr geprägt wurde.

Die ersten Erfolge waren Passierscheine und menschliche Erleichterungen. Es folgten Vereinbarungen über die Unverletzlichkeit und die Anerkennung der Grenzen, Verhandlungen über den Status von Berlin, die wechselseitige Anerkennung der beiden deutschen Staaten und die Verträge mit den östlichen Nachbarn.

Allen Vereinbarungen gemeinsam war, dass sie den Macht- und Systemkonflikt zwischen Ost und West akzeptierten, aber in den Verhandlungen ausklammerten.

Allen Vereinbarungen gemeinsam war, dass sie den Macht- und Systemkonflikt zwischen Ost und West akzeptierten, aber in den Verhandlungen ausklammerten. Zugleich sollten die ideologischen Gegensätze im „Wandel durch Annäherung“ nicht verwischt werden. Deshalb wurde in der DDR parallel zur Entspannungspolitik die Abgrenzung gegenüber dem „Sozialdemokratismus“ betont, während der Radikalenerlass in der Bundesrepublik die Abgrenzung gegenüber dem Kommunismus unterstrich. Der Machtkonflikt zwischen Ost und West wurde nicht zuletzt durch Vereinbarungen über die Begrenzung strategischer Waffen eingehegt.

Mit der KSZE trat ein neues Element hinzu: In der Schlussakte von 1975 ging es nicht nur um die gemeinsame Definition einer kooperativen Sicherheit, sondern auch um die Achtung der Menschenrechte. Diese Prinzipien wurden in Ost und West zwar unterschiedlich interpretiert, aber die definierten Rechte stellten die ideologischen Grundlagen der kommunistischen Systeme in Frage.

Sicher, die Entspannungspolitik der 70er und 80er Jahre konnte den Macht- und Systemkonflikt nicht beenden. Doch der Antagonismus wurde zunehmend durch kooperative Elemente überwölbt. Das änderte sich mit Michail Gorbatschow und Boris Jelzin. Gorbatschow wollte das sowjetische System grundlegend reformieren, Jelzin strebte in Russland weit radikalere Veränderungen an. Damit wurde dem Systemkonflikt die Grundlage entzogen.

Die Sowjetunion und später Russland waren jetzt bereit, sich mit den übrigen Staaten Europas auf rechtsstaatliche und demokratische Prinzipien zu einigen. Symbol hierfür war der Beitritt Russlands zum Europarat 1996 und die Ratifizierung der Europäischen Menschenrechtskonvention 1998. Durch den Beitritt Russlands und anderer Warschauer-Pakt-Staaten wurde aus einer ursprünglich westeuropäischen Institution ein Instrument der gesamteuropäischen Werte- und Rechtsgemeinschaft.

Mit dem Fall der Mauer und dem Abzug der sowjetischen Truppen aus Osteuropa schien auch dem Machtkonflikt mit der Sowjetunion – und später Russland – die Grundlage entzogen. Russland akzeptierte Vereinbarungen über konventionelle Abrüstung und militärische Vertrauensbildung, die früher undenkbar gewesen wären. Die Rahmenbedingungen für die sozialdemokratische Ostpolitik veränderten sich grundlegend – und zwar positiv.

 

Nebeneinander von Integration und Kooperation

Die neue Phase der Ostpolitik war von einem Nebeneinander von Integration und Kooperation geprägt: Integration dort, wo gewünscht und möglich, Kooperation dort, wo keine Integration möglich oder gewünscht war. Die baltischen Staaten, die Staaten Ost-Mittel-Europas und Süd-Ost-Europas wurden zu einer Zone der sicherheitspolitischen und – mit Einschränkungen – auch der demokratischen Stabilität. Die Integration in europäische und transatlantische Institutionen verband jetzt die östlichen und westlichen Nachbarn Deutschlands. Ein Teil dessen, was vorher deutsche Ostpolitik gewesen war, wurde institutionell, wirtschaftlich und politisch zu einem Teil der früheren West-Politik.

Die Ost-Erweiterung der EU und NATO ließen eine neue gesamteuropäische Realität entstehen. Die Ziele der SPD aber reichten weiter: Sie wollte Russland möglichst eng mit Europa verbinden – und zwar über seine Mitgliedschaft im Europarat und der OSZE hinaus. Diese Politik schien anfangs mit den Zielen Moskaus übereinzustimmen. 

Anfangs wurde die EU-Osterweiterung in Russland durchaus positiv gesehen, insbesondere, da sie durch Kooperationsverträge mit Russland ergänzt werden sollte. Der Widerstand gegen die Assoziationsverträge der EU mit der Ukraine, Moldawien und Georgien ist neueren Datums. Die Erweiterung der NATO dagegen wurde von Russland von Anfang an abgelehnt. Trotzdem gelang es, die negativen Auswirkungen 1997 durch die „Grundakte über die gegenseitigen Beziehungen“ und 2002 durch die Schaffung des NATO-Russland-Rates zu begrenzen.

Anfangs wurde die EU-Osterweiterung in Russland durchaus positiv gesehen, insbesondere, da sie durch Kooperationsverträge mit Russland ergänzt werden sollte.

Doch natürlich waren NATO und EU nicht bereit, Russland eine Einflusssphäre im postsowjetischen Raum zu garantieren. Dies konnten sie auch nicht, ohne Souveränität und Selbstbestimmungsrecht jedes einzelnen europäischen Staates zu missachten. Erst recht wollten die USA und größere europäische Staaten ein „Konzert der Mächte“ – wie im 19. und 20. Jahrhundert – über die Köpfe kleinerer Staaten hinweg verhindern, das die Grundlagen der Zusammenarbeit prinzipiell gleichberechtigter Staaten infrage gestellt hätte.

In der Folge strebte Berlin eine enge Zusammenarbeit mit Russland an, die allerdings nicht zu Lasten seiner östlichen und südöstlichen Nachbarn gehen sollte. Deshalb durfte Berlins Ostpolitik – anders als zu Zeiten Bismarcks – nicht ausschließlich und auch nicht immer vorrangig Russlandpolitik sein. Heute führen direkte Wege zu unseren östlichen Nachbarn. Und wenn in der EU und NATO über die deutsche Russland-Politik gesprochen wird, dann sitzen unsere Nachbarn mit am Tisch. Diese veränderten Rahmenbedingungen haben viele in Moskau und manche in Berlin noch nicht begriffen.

Russlands Politik wird positiv wie negativ durch eine Fixierung auf die USA geprägt. Russland strebt eine Rolle als gleichberechtigter Machtpol neben den USA an und weiß doch zugleich, dass dies seine Möglichkeiten übersteigt. Russland hat es nicht vermocht, nach dem Kalten Krieg ein kooperatives und vertrauensvolles Verhältnis zu seinen westlichen Nachbarn aufzubauen. Dieses Defizit ist die wichtigste außenpolitische Ursache für die zunehmende Entfremdung zwischen Russland und der EU und NATO. Russland seinerseits – und die BRICS-Gruppe – versteht dagegen die US-Politik als wichtigste Ursache der Negativentwicklung.

 

Russische Innenpolitik

Doch die Entwicklungen der russischen Innenpolitik sind mindestens ebenso bedeutend, wenn nicht sogar wichtiger. Mit einer zunehmend autoritären Entwicklung, dem Rückgriff auf Symbole der Zaren-Zeit und der nachlassenden Bereitschaft, die sowjetische Periode kritisch aufzuarbeiten, entfremdet sich Russland immer mehr von Europa. Mit seiner Berufung auf „eurasische“ und „traditionelle“ Werte entfernt es sich von gemeinsamen europäischen Werten.

Der Rückgriff auf vor-demokratische Werte und die russische EU-Kritik finden derzeit den Beifall der europäischen Rechten von UKIP bis zur AfD, jedoch auch von großen Teilen der Partei „Die Linke“. In der demokratischen Linken Europas nimmt dagegen die Kritik an der russischen Politik zu. Die Ursache: Russlands Verstöße gegen europäische Vereinbarungen und internationales Recht. So untergräbt die Verwendung der Energieversorgung als politisches Druckmittel das Vertrauen, das seit Anfang der 70er Jahre die Grundlage der energiepolitischen Zusammenarbeit darstellt. Und natürlich missachtet die Annexion der Krim die Grundsätze der Unverletzlichkeit der Grenzen und der friedlichen Lösung von Konflikten.

Doch damit nicht genug: Erklärtes Ziel russischer Politik ist es – auch über die Krim und die Ost-Ukraine hinaus – Russen und russischsprachige Bürger in anderen Staaten zu „schützen“. Durch diese Zielsetzung und aufgrund der jüngsten Erfahrungen fühlen sich mehrere Nachbarstaaten – verständlicherweise – bedroht.

Russlands Verhalten gegenüber der Ukraine – und zuvor in den Konflikten mit Georgien und Transnistrien – begründen Zweifel, ob es den Status Quo seiner Außengrenzen akzeptiert.

Dabei ist auch festzuhalten: Auf der Krim und in der Ost-Ukraine gab es faktisch keine Diskriminierung russisch-sprachiger Bürger. Wenn es der russischen Führung wirklich darum gegangen wäre, eine angebliche Diskriminierung zu beheben, dann hätte sie sich in Verhandlungen um eine Beseitigung bemühen können. Das jedoch hat Moskau nie versucht. Im Gegenteil: Russlands Verhalten gegenüber der Ukraine – und zuvor in den Konflikten mit Georgien und Transnistrien – begründen Zweifel, ob es den Status Quo seiner Außengrenzen akzeptiert. Viele Nachbarn Russlands nehmen das Land heute als revisionistische Macht wahr. Alle Mitglieder der EU und der NATO müssen sich angesichts dieser Gefahren auf die Solidarität ihrer Partner und Verbündeten verlassen können.

 

Erschüttertes Vertrauen

Das Vertrauen in die russische Politik ist schwer erschüttert. Eine überwiegend positive Phase der Russlandpolitik geht zu Ende. Zwar steht uns kein neuer Kalter Krieg bevor, doch es wird dauern, bis sich Vertrauen neu entwickeln kann. Grundvoraussetzung hierfür ist eine Änderung der russischen Politik. Unser Verhältnis zu Russland wird auf absehbare Zeit nicht mehr allein von dem Grundsatz „Zusammenarbeit, wo möglich“, beherrscht werden. Stattdessen wird es wohl heißen müssen: „Zusammenarbeit, wo möglich und sinnvoll, Risikovorsorge und Gefahrenabwehr, soweit wie nötig“. Das ist natürlich ein Rückschritt.

Dennoch sollte das Angebot an Russland, gleichberechtigter Bestandteil einer europäischen Friedensordnung zu werden, bleiben, denn eine europäische Friedensordnung ist erst dann dauerhaft stabil, wenn sie Russland einschließt. Aber wer Teil einer europäischen Friedensordnung werden will, muss die grundlegenden Normen dieser Ordnung akzeptieren. Wenn Russland dagegen verstößt, so ist das kein Grund die Prinzipien preiszugeben, sondern Anlass, Russland zu einem Politikwechsel zu bewegen.

Wir sollten uns deshalb weiterhin um den Dialog bemühen. Gerade in der Krise ist Kommunikation eine Voraussetzung für die friedliche Beilegung von Konflikten. Die Bereitschaft, weiterhin mit Russland zusammenzuarbeiten ist Ausdruck unserer Prinzipientreue und nicht mit Einverständnis gleichzusetzen: Wir halten an der Vision einer gesamteuropäischen Friedensordnung unter Einschluss Russlands fest. Diese Bereitschaft ist zugleich Beleg unseres Realismus, denn Russland bleibt das wichtigste Land östlich der EU und der NATO.

Anders als in den vergangenen Jahren werden wir dort Vorsorge treffen müssen, wo die russische Politik Risiken und Gefahren für die Nachbarn Russlands beinhaltet. Die veränderte Lage macht das Bemühen um eine friedliche Beilegung von Konflikten, das Drängen auf Rüstungskontrolle, Abrüstung und Vertrauensbildung noch wichtiger. Beim Problem des iranischen Atomprogramms, beim Kampf gegen den internationalen Terrorismus und in Afghanistan war und ist Russland ein Partner. Diese Felder der Zusammenarbeit sollten erhalten und – wenn möglich – erweitert werden. In anderen Konflikten dürfte Russland in der nahen Zukunft bedauerlicherweise eher Widerpart als Partner bleiben. Trotzdem sollten wir uns gemeinsam mit der Regierung in Kiew um konfliktmindernde Absprachen bemühen.

Es steht uns kein neuer Kalter Krieg mit Russland bevor, wohl aber eine Zeit der begrenzten Kooperation und des begrenzten Konfliktes. Aufgabe der Sozialdemokratie ist es in dieser neuen Phase der Ostpolitik, Meinungs- und Interessengegensätze realistisch zu analysieren. Gleichzeitig geht es aber auch darum, auf der Grundlage eigener Werte kooperative Politikansätze zu fördern. Denn nur so kann die gegenwärtige Lage dereinst wieder in eine positivere Phase der Ostpolitik übergehen.