Am 5. November 2010 korrigierte die Statistikbehörde des westafrikanischen Ghanas das Bruttoinlandsprodukt des Landes um 60 Prozent nach oben. Das Ergebnis: Ghana wurde über Nacht von einem „low-income“ zu einem „low-middle income country“. Am Center for Global Development in Washington, D.C. sorgte diese Nachricht für Aufregung: Vizepräsident Todd Moss wird mit dem Ausspruch zitiert: „Junge, wir haben wirklich von nichts eine Ahnung.“ Shanta Devarajan, seines Zeichens Chief Economist der Weltbank für Afrika, schlug noch dramatischere Töne an: Vor einer vom statistischen Bundesamt Südafrikas organisierten Konferenz beklagte er offen „Afrikas statistische Tragödie“.

Was war in Ghana geschehen?

Wie konnte das Land an einem Tag zu den ärmsten der Welt zählen und am Tag darauf zu den aufstrebenden „middle income“ Ländern? Die Ursache liegt in der Berechnung: Das Bruttoinlandsprodukt wird als Summe des Wertes aller Güter und Dienstleistungen ermittelt, die in einem Land in einem definierten Zeitraum produziert werden. In der Realität sind solche Messungen natürlich immer nur Annäherungen. Aber in den meisten afrikanischen Wirtschaften verfügen die Statistik-Behörden nicht einmal annähernd über die Informationen, die sie für eine verlässliche Berechnung benötigen. Dann geschieht das Folgende: Die Verantwortlichen wählen ein Jahr aus, in dem umfassendere Wirtschaftsdaten vorliegen als normalerweise – etwa weil die Industrie oder Privathaushalte betreffende Umfragen erstellt worden waren. Diese Informationen werden dann mit anderen Verwaltungsdaten zu einer Wirtschafts-Schätzung für ein sogenanntes Benchmark-Jahr verschmolzen.

Aber in den meisten afrikanischen Wirtschaften verfügen die Statistik-Behörden nicht einmal annähernd über die Informationen, die sie für eine verlässliche Berechnung benötigen.

Dieses Vorgehen führt dazu, dass Sektoren, die im Benchmark-Jahr wichtig waren, auch in den Folgejahren relevant erscheinen, obwohl natürlich durchaus strukturelle Veränderungen eingetreten sein können. Zugleich gilt aber auch, dass Sektoren, die im Benchmark-Jahr nicht auftauchten oder wenig bedeutsam erschienen, in den Folgejahren kaum Auswirkungen auf die Wirtschaftsberechnung haben. Selbst wenn in der Zwischenzeit weitere und umfassendere Informationen verfügbar geworden sein sollten, können die Statistiker vor Ort diese in vielen Fällen nicht berücksichtigen. Die gesamte Wirtschaftsstatistik wird unzuverlässig.

Aus diesem Grund empfiehlt der Internationale Währungsfonds eigentlich alle fünf Jahre eine Revision der Benchmark-Daten. Im Falle Ghanas war dies jedoch zuletzt im Jahr 1993 umgesetzt worden. Offensichtlich hatte sich die Wirtschaftsstruktur des Landes seitdem dramatisch verändert. Und zwar so stark, dass durch die seit 1993 eingetretenen Veränderungen fast die Hälfte der ghanaischen Wirtschaftsleistungen in den offiziellen Statistiken fehlte. Die Revision des Bruttoinlandsprodukts um 60 Prozent nach oben war daher genaugenommen durchaus nachvollziehbar. Das aus diesem Prozess resultierende Problem aber ist gravierend: Wie können wir jetzt die Wirtschaftsleistung in Ghana mit der in Nigeria vergleichen, dessen Berechnungen immer noch auf Daten aus den 1990er Jahren beruhen? Und: wann hörte Ghana eigentlich auf, ein armes Land zu sein?

Wie gut sind die Zahlen?

Mein Buch Poor Numbers ist eine Studie über die Produktion und Nutzung afrikanischer Wirtschaftsdaten. Die Studie zeigt, dass dies nicht nur eine Frage von technischer Genauigkeit ist. Die Willkür des Quantifizierungsprozesses führt schlichtweg zu Beobachtungen, die von großen Fehleranfälligkeiten und Unsicherheitsniveaus geprägt sind. Problematisch ist bei diesen Zahlenspielen, dass sie von einer gefährlichen und irreführenden Aura der Genauigkeit umgeben sind. Das hat auch politische Konsequenzen: Denn die resultierenden Daten werden herangezogen, um kritische Entscheidungen etwa über die Zuteilung von knappen Ressourcen zu treffen. Dies betrifft auch Akteure der internationalen Entwicklungszusammenarbeit, die ihre Urteile auf der Grundlage fehlerhafter Daten fällen. Doch auch Regierungen selbst sind davon betroffen: Sie sind nicht in der Lage, wirklich informierte Entscheidungen zu fällen, weil die bestehenden Daten zu schwach sind oder benötigte Daten überhaupt nicht existieren.

Das hat auch politische Konsequenzen: Denn die resultierenden Daten werden herangezogen, um kritische Entscheidungen etwa über die Zuteilung von knappen Ressourcen zu treffen.

Die Veröffentlichung meines Buches hat zu einer produktiven Debatte über die Bedeutung von Entwicklungsstatistiken im afrikanischen Kontext geführt [http://www.theglobeandmail.com/news/world/bc-professor-ruffles-feathers-by-spotlighting-africas-data-problems/article15434240/].

Wie nicht anders zu erwarten, fokussierte die Diskussion in den Medien dabei auf die Politik hinter den Zahlen. Inspiriert vom Bonmot über „Lügen, verdammte Lügen und Statistiken“, haben sich Kommentatoren in erster Linie auf die vorgeblichen „dunklen Kräfte“ gestürzt, die mit Zahlen jonglieren und den öffentlichen Diskurs über Entwicklung in Afrika willentlich in die Irre führen. Das mag übertrieben sein, doch das Fehlen objektiver Daten schafft tatsächlich viele Möglichkeiten, mit Zahlenakrobatik jeden gewünschten Eindruck zu erwecken. Die anhaltende Debatte über „Afrika Rising“ [http://content.time.com/time/magazine/article/0,9171,2129808,00.html] zeigt dabei, wie wichtig die Wachstumsdaten sind.

Meine Kernbotschaft ist dabei eigentlich viel simpler: Wir wissen über Wachstum und Entwicklung in Afrika viel weniger als wir glauben. Das Problem beginnt mit den ersten Rohdaten. Die große Mehrheit ökonomischer Transaktionen Afrikas findet in der ruralen Landwirtschaft oder in mittleren oder kleinen informellen Unternehmen statt und bleibt daher in den offiziellen Statistiken unberücksichtigt. Ist dies ein spezifisch afrikanisches Problem? Natürlich nicht. Messprobleme sind universell. Aber es gibt einige Gründe, weshalb gerade afrikanische Länder mit diesem Problem zu kämpfen haben, wie nicht zuletzt aus Daten der Weltbank über die statistischen Kapazitäten verschiedener Länder hervorgeht.

In meinem Buch verweise ich auf historische Ursachen dafür, dass afrikanische Länder im Durchschnitt über weit weniger verlässliche Statistiken verfügen als andere Entwicklungsregionen. Ein Grund ist etwa die vergleichsweise wenig verbreitete Einkommensbesteuerung und natürlich die Tatsache, dass afrikanische Ökonomien von den wirtschaftlichen Turbulenzen der 1970er und 1980er Jahre besonders betroffen waren.

Die Tatsache, dass die statistischen Kapazitäten gerade in Subsahara-Afrika so schwach ausgeprägt sind, ist eine wirkliche Tragödie. Denn afrikanische Entwicklungsstatistiken verraten uns viel weniger über die Wirklichkeit, über Einkommen, über Armut und über Wachstum, als dies wünschenswert wäre. Aus diesem Grund ist es eine der drängendsten Herausforderungen in der afrikanischen Wirtschaftsentwicklung, eine Strategie zur Verbesserung der statistischen Kapazitäten zu entwickeln.

Um hier Fortschritte zu erzielen, müssen zunächst bessere Metadaten erstellt werden. Das sind etwa umfassendere Informationen darüber, auf welchen Annahmen und Datenquellen die erstellten Informationen beruhen. Manchmal sind augenscheinlich objektive Daten in Wirklichkeit nur Schätzungen oder Hochrechnungen. Doch dies ist für die Nutzer der Informationen in den seltensten Fällen ersichtlich.

Regierungen, internationale Organisationen und unabhängige Analysten brauchen jedoch verlässliche Entwicklungsstatistiken, um die Lebensbedingungen professionell beurteilen zu können

In einem zweiten Schritt brauchen wir eine offene Debatte darüber, an welcher Stelle Datenprobleme existieren, um uns an eine bessere Diagnose des Problems heranzutasten. Schließlich müssen wir in einem dritten Schritt den Fokus verändern. Wir sollten uns stärker mit Datenangeboten beschäftigen als mit Datennachfrage auch und gerade in der internationalen Entwicklungscommunity. Wir sind gut darin, Ziellisten und Benchmarks für Monitoring-Prozesse zu erstellen. Aber wir ignorieren regelmäßig die Schwierigkeiten lokaler Statistiker vor Ort. Diese sind häufig nicht ausreichend finanziell ausgestattet und personell überlastet, um die globale Nachfrage nach Informationen professionell bedienen zu können.

Das aktuelle System schafft mehr Verwirrung als Aufklärung. Regierungen, internationale Organisationen und unabhängige Analysten brauchen jedoch gerade verlässliche Entwicklungsstatistiken, um die Lebensbedingungen auf dem afrikanischen Kontinent professionell beurteilen zu können. Denn Politik kann nur dann wirksam ansetzen, wenn sie zunächst die Wirklichkeit möglichst objektiv wahrnimmt.