Die Welt scheint in der Tat ganz einfach zu sein, und sie ist ja hierarchisch verfasst: „Wir“ haben die Definitionsmacht, also definieren wir zum Beispiel, wer oder was ein „sicherer Drittstaat“ ist. Seit dem Asylkompromiss von 1993 gelten als „sichere Drittstaaten“ sämtliche Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sowie Norwegen und die Schweiz. Doch so einfach sind die Dinge nicht: Das Verwaltungsgericht Stuttgart hatte Ungarn schon 2012 diesen Status abgesprochen. Da erscheint es vollmundig, wenn in der deutschen Debatte über die wachsende Zahl von Flüchtlingen prominente Politikerinnen und Politiker die „Lösung“ des Problems darin sehen, dass per definitionem „sichere Drittstaaten“ geschaffen werden, in die dann Menschen umgehend abgeschoben werden können.

Nun sollte man meinen, dass prominente Politiker, bevor sie populistische Lösungen in die Welt posaunen, sich ein wenig kundig machen. So könnten sie vielleicht einen Jahresbericht von Amnesty International zur Hand nehmen, um zu erfahren, wie denn die rechtsstaatlichen Verhältnisse in den von ihnen genannten Ländern aussehen. Sie könnten auch zur Kenntnis nehmen, dass unser seit 1993 ohnehin eingeschränktes Asylrecht die Abschiebung verbietet, wenn den Asylbewerbern in ihren Heimatländern Tod oder Folter droht. Die hohe Zahl von Ausreisepflichtigen, die aber nicht abgeschoben werden können, dürfte auf diese Regelung zurückzuführen sein, denn genau das ist es, was die Menschen in Marokko oder Algerien zu erwarten haben.

Im algerischen Bürgerkrieg, der noch immer nicht zu Ende ist, kamen mehr als 200 000 Menschen ums Leben; zwischen 10 000 und 30 000 Menschen sind „verschwunden“ – heißt: sie haben die Folter nicht überlebt und wurden irgendwo verscharrt. Hinsichtlich der Zustände in marokkanischen Gefängnissen kann jeder, der will, sich der grauenhaften Verhältnisse vergewissern. Rechtsstaatlichkeit? Man verfolge doch (nur beispielsweise) die Unterdrückung, Verfolgung, Inhaftierung, Folter und Aburteilung vor Militärgerichten von Bürgerrechtlern aus der seit 40 Jahren völkerrechtswidrig von Marokko besetzten Westsahara.

Im algerischen Bürgerkrieg, der noch immer nicht zu Ende ist, kamen mehr als 200 000 Menschen ums Leben.

Statt solcher Forderungen, die nur den wachsenden Rassismus bedienen, sollte über die Ursachen nachgedacht werden, die Menschen zur Flucht bewegen. Spätestens seit den Explosionen des Arabischen Frühlings, die in Tunesien im Sturz der Diktatur endeten, in Algerien mit äußerster Brutalität niedergeschlagen wurden, in Marokko durch eine Kombination aus Repression und politischen Versprechungen (und Subventionierung der Grundnahrungsmittel) zum Stillstand gebracht wurden, wissen wir: Die Revolten hatten soziale Ursachen. Es ist ein Irrglaube zu meinen, durch repressive Maßnahmen soziale Probleme lösen zu können. Genau daran sind schon Zine el-Abidine Ben Ali und Hosni Mubarak gescheitert – und ob die „Stabilität“ der repressiven marokkanischen Monarchie oder der algerischen Militärdiktatur von Dauer sein wird, ist höchst zweifelhaft. Ihre bereits erfolgte (und von der EU mitfinanzierte) Einbeziehung im Kampf gegen die Flüchtlinge (Stichwort: Ceuta) im Rahmen von Frontex zeigen deutlich, dass selbst unsere diktatorischen Partner die Flucht vor allem der verelendeten perspektivlosen Jugendlichen nicht verhindern können.

Es ist nicht zuletzt die von der EU aufgezwungene Freihandelspolitik, die wesentlich mitverantwortlich ist für die soziale Misere: Marokko und Tunesien wurden zu verlängerten Werkbänken europäischer Unternehmen, die permanent damit drohen, dass sie zwecks Profitmaximierung in andere Länder abwandern, wenn Löhne erhöht werden sollten. So kann keine Kaufkraft entstehen. Die Liberalisierung hat auch große Teile des einheimischen Handwerks vernichtet und die Märkte mit Billigprodukten aus Asien überschwemmt. Die damit einhergehende Industrialisierung und Exportorientierung der Landwirtschaft vernichtet massenhaft kleine Betriebe und hat dazu geführt, dass die bisher autarke Lebensmittelversorgung durch Grundnahrungsmittelimporte abgelöst wird. Große Anstrengungen im Erziehungswesen, der Aufbau von Universitäten haben dazu geführt, dass nicht einmal die Hälfte der Hochschulabsolventen im eigenen Land eine Anstellung finden. Hier wäre die EU gefordert, wirksam Ursachen zu bekämpfen, indem statt Weltmarktintegration wenigstens die Entwicklung eines einheimischen Kapitalismus gestattet würde, in dem mit menschenwürdigen Löhnen Kaufkraft geschaffen würde, die ihrerseits die Entstehung einer nationalen Marktwirtschaft ermöglichen könnte.

Es ist nicht zuletzt die von der EU aufgezwungene Freihandelspolitik, die wesentlich mitverantwortlich ist für die soziale Misere.

Statt Ausgrenzung und Kriminalisierung muss es darum gehen, Flüchtlinge zu integrieren, indem man sie auch in den Arbeitsmarkt integriert, wo sie dabei helfen, der Überalterung unserer Bevölkerung entgegenzuwirken. Mehr noch: Nur so können wir dem wie eine Monstranz vorangetragenen Bekenntnis zu „unseren Werten“ wie Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit zu Glaubwürdigkeit verhelfen, die, wenn sie Gültigkeit haben sollen, für alle Menschen gelten. Zugleich muss der Verelendungsprozess in den Entwicklungsländern aufgehalten und umgekehrt werden, auch wenn dies der neuen Religion des Neoliberalismus zuwider läuft. Für die Menschen in Nordafrika, Nahost und Afrika südlich der Sahara muss es eine andere Perspektive geben als die, entweder im Mittelmeer zu ertrinken oder sich der dschihadistischen Internationale anzuschließen, die nicht nur das Paradies verspricht, sondern der perspektivlosen Jugend aus diesen Ländern Ruhm, die Verwirklichung von Männlichkeitsfantasien und sogar ein gutes materielles Auskommen verschafft. Ansonsten befördern und erfüllen wir jene Ziele, die die dschihadistische Propaganda in ihren Pamphleten anvisiert: Durch den Zustrom von Flüchtlingen Rechtsradikalismus und Rassismus in Europa zu fördern, damit immer mehr Zugewanderte erkennen, dass allein ein „Islamischer Staat“ ihnen Sicherheit und Würde bieten kann. Zu deren Helfershelfern und zu Förderern des Terrorismus hier und anderswo sollten wir uns nicht machen, indem wir „unsere Werte“ nur für uns gelten lassen.